Frühe Bildung
Prof. Dr. Lars Eichen, Dr. Jasmin Bempreiksz-Luthardt, Hannah Kobinger
veröffentlicht am 14.01.2022
Frühe Bildung als pädagogisches Areitsfeld befasst sich mit Bildungsprozessen bei Kindern bis zum Schuleintritt (im deutschsprachigen Raum wird häufig 6 Jahre angegeben).
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Der Bildungsbegriff
- 3 Frühe Bildung
- 4 Bildungsverständnisse in der frühen Bildung
- 5 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Der Beitrag skizziert den Begriff Frühe Bildung aus einem pädagogisch-praxisorientiertem Blickwinkel. Eine grundlegende Annäherung an den Bildungsbegriff, eine historische Annäherung sowie eine Erläuterung verschiedener Bildungsverständnisse werden angeboten. Der Beitrag behandelt ebenfalls den Einfluss von Familie und Institutionen auf junge Kinder und begründet das bildungspolitische Interesse an früher Bildung.
2 Der Bildungsbegriff
Bereits seit der Antike gibt es zahlreiche Versuche den Begriff Bildung zu fassen. Die darauf basierenden Theorien von beziehungsweise zur Bildung bieten auch für aktuelle Fachdiskussionen einen Rahmen. Eine mindestens für den pädagogischen Bereich populäre Fassung des Begriffs stammt von Wilhelm von Humboldt. Er versteht Bildung als einen Prozess „der Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt“ (Humboldt 1903–1936, S. 283). Der Mensch ist ein selbsttätiges Wesen und trägt eine Kraft in sich, die zur Selbstverwirklichung antreibt (Humboldt 1903–1936). Bildungsprozesse sind nach Humboldt Individualisierungsprozesse. Der Begriff Bildung zählt neben Erziehung, Sozialisation und Lernen zu pädagogischen Grundbegriffen (Frost 2008a). Zwischen diesen Begriffen können Unterschiede beschrieben werden, dennoch werden sie in den Theorien zu den jeweiligen anderen Begriffen mitberücksichtigt.
Bernhard (2021) als ein Vertreter der kritischen Bildungstheorie sieht Bildungsprozesse als Vorgänge zur Erreichung des Subjektstatus eines Menschen. Bildung kann nur dann wirksam werden, wenn das Individuum sich an den es umgebenen Vorgängen beteiligt. Bildung stellt somit die Befähigung zum selbstbestimmten Handeln einer Person innerhalb einer Gesellschaft dar (Bernhard 2021). Weitere Ausdifferenzierungen oder Deutungen des Begriffs der Bildung entstehen durch die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen darauf geschaut wird. In bildungspolitischen Diskursen wird beispielsweise nach einem Wirklichkeitsbezug von Bildung verlangt. Bildung wird verstanden als das individuelle Handwerkzeug zur Bewältigung von aktuellen Lebensaufgaben (Frost 2008b). Ebenso gibt es eine begriffliche Auseinandersetzung aus ökonomischer Perspektive, wonach die in Bildungsinstitutionen vermittelten Bildungsinhalte vordergründig zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele eingesetzt werden sollen (Ribolits 2009).
Für die Beschreibung des Begriffs Frühe Bildung können ebenfalls unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden. Die folgende Begriffsskizze verfolgt nicht den Anspruch, alle einnehmbaren Perspektiven und deren Begriffsbestimmungen aufzuzeigen, sondern liefert eine kurze historisch-pädagogisch geprägte Einordnung des Begriffs. Neben dem historisch pädagogischen Einfluss wird der frühe Bildungsbegriff aktuell auch aus bildungspolitischer Perspektive geprägt. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass eine solche Begriffsfassung fortlaufend kritisch geprüft und theoretisch wie empirisch durch die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven diskutiert werden sollte.
3 Frühe Bildung
Da diese Begriffsskizze eine pädagogisch-praxisorientierte Überblickperspektive bieten soll, ist es notwendig sich auch mit synonym verwendeten Begriffen auseinander zu setzen. Neben Frühe Bildung tauchen häufig Begriffe wie
- Frühkindliche Bildung (entwicklungspsychologische Perspektive, unabhängig von Institutionsformen)
- Bildung in der Elementarpädagogik (pädagogisch/​didaktische Perspektive)
- Vorschulische Bildung (Kinder vor Übergang in die Schule, klar bestimmtes Alterssegment)
- Bildung im Alter von 0–6 Jahren (Bildungsprozesse in dieser Altersgruppe)
auf, wobei bei der jeweiligen Verwendung bestimmte Facetten hervorgehoben werden (Gold und Dubowy 2013).
Einer der Ersten, der der Lebensphase von 0–6 Jahren eine besondere Bedeutung zuschrieb und sie als Grundstein des weiteren Lebens wertete, war Friedrich Fröbel (1782-1852). Die Bildung von jungen Kindern ab ihrer Geburt war sein größtes Anliegen. Eine ähnliche Bewertung nahm Maria Montessori (1870-1952) etwas später vor, indem sie in ihrer Konzeption einer Elementarerziehung Kinderhäuser als Bildungsorte herausstellte. Nach ihrem Verständnis ist der Mensch ein „ganzheitliches, selbsttätiges und sich selbstbildendes Wesen“ (Bamler Schönberger und Wustmann 2010, S. 68). Beide reformpädagogische Ansätze haben bis in die heutige Zeit große Bedeutsamkeit für die frühe Bildung.
4 Bildungsverständnisse in der frühen Bildung
Es existieren zwei dominante und konträre Bildungsverständnisse in der frühen Kindheit (Cloos und Tervooren 2013):
- Der ko-konstruktivistische Ansatz versteht Bildung als zielgerichteten Auftrag an die kindliche Umwelt, Kinder auf die gesellschaftliche Teilhabe vorzubereiten. Zum Aufbau nötiger Kompetenzen benötigen Kinder demnach Unterstützung wie soziale Kontakte, die es ihnen ermöglichen, auf individuelle Weise ihre Bildungsprozesse zu vollziehen (Fthenakis 2002; Gisbert 2004 und Roßbach 2008).
- Nach dem Selbstbildungsansatz ist Bildung nicht durch extern beschriebene Ziele, die beispielswiese gezielte Anschlussfähigkeit im Bildungssystem fokussieren, zu beschreiben. Die Kinder sollen ihre a priori enthaltenen Selbstbildungspotenziale entfalten können. Dafür wird die Eigenaktivität für die Initiierung ganz individueller Bildungsprozesse als Grundlage beschrieben. Eine Einschränkung oder auch Lenkung Erwachsener ist nicht vorgesehen (Schäfer 2007).
4.1 Familie und institutionelle Betreuung
Frühe Bildung ist keinesfalls auf den institutionellen Rahmen beschränkt. Fölling-Albers (2013) betont den prägenden Einfluss der Familie und deren Alltagsgestaltung auf die frühkindliche Bildung. Der Bedarf an frühkindlicher institutioneller Betreuung steigt stetig an, dennoch machen Kinder ihre frühesten und elementarsten Bildungserfahrungen in ihrem familiären Umfeld (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020). Ungleichheiten in Familien können durch leichtkompensatorische Effekte der Kindertageseinrichtungen abgebaut werden (Fölling-Albers 2013). Anders (2018) betont in Zusammenhang mit der Wirksamkeit von Bildungsangeboten in elementarpädagogischen Institutionen die Wichtigkeit der „Öffnung nach außen“ (ebd. S. 188), also das Eingehen von Kooperationsbeziehungen mit den Familien der Kinder und anderen Institutionen (beispielsweise Schulen). Die Wirksamkeit der Bildungsangebote erhöht sich, wenn sie auch an die Familien gerichtet sind.
4.2 Bildungspolitik im frühkindlichen Bereich
Seit PISA 2000 ist die frühkindliche Bildung (wieder) ein Schwerpunkt bildungspolitischer Diskussionen. Zu den Kernthemen zählt unter anderem die Verbesserung der frühen institutionellen Bildung, um den Einstieg in das Bildungssystem so früh es geht zu ermöglichen und somit die Entwicklungschancen von Kindern zu verbessern (Fölling-Albers 2013). Zur Verdeutlichung sei hier beispielhaft die Beschreibung frühkindlicher Bildungsangebote der OECD – International Standard Classification of Education (ISCED) – angeführt: Diese Angebote haben einen intentionalen Bildungscharakter und verfolgen das Ziel, Kinder bei der Entwicklung von Fähigkeiten zu unterstützen, die sie zur Teilhabe am weiteren institutionellen Bildungsweg und in der Gesellschaft allgemein befähigen sollen. Kinder sollen mit Hilfe der Bildungsangebote kognitive, physische und sozial-emotionale Fähigkeiten entwickeln oder stärker ausbauen (OECD 2016).
5 Quellenangaben
Anders, Yvonne, 2018. Professionalität und Professionalisierung in der frühkindlichen Bildung. ZfG, 11, S. 183–197. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1007/s42278-018-0031-3 [Zugriff am: 09.01.2022].
Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020. Bildung in der Familie. In Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Hrsg, Bildung in Deutschland 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung in einer digitalisierten Welt. Bielefeld: wbv Publikation, S. 76–80. ISBN 978-3-7639-6130-6
Bamler, Vera, Ina Schönberger und Cornelia Wustmann, 2010. Lehrbuch Elementarpädagogik: Theorien, Methoden und Arbeitsfelder. Weinheim/München: Juventa Verlag. ISBN 978-3-7799-2327-5
Bernhard, Armin, 2021. Pädagogisches Denken. Einführung in allgemeine Grundlagen der Erziehungs- und Bildungswissenschaft. In Bernhard, Armin, Eva Borst und Matthias Rießland, Hrsg. Pädagogik und Politik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 9.Aufl., Vol.1, S. 51–88. ISBN 978-3-8340-0830-5 [Rezension bei socialnet]
Cloos, Peter und Anja Tervooren, 2013. Frühe Bildung im Spannungsfeld von Bildungspolitik und Bildungstheorie. In Sektion Sozialpädagogik und Pädagogik der frühen Kindheit, Hrsg. Konsens und Kontroversen: Sozialpädagogik und Pädagogik der frühen Kindheit im Dialog. Weinheim: Beltz Juventa. S. 38–44. ISBN 978-3-7799-1238-5 [Rezension bei socialnet]
Fölling-Albers, Maria, 2013. Erziehungswissenschaft und frühkindliche Bildung. In Stamm, Margit und und Doris Edelmann, Hrsg. Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 37–49. ISBN 978-3-531-18474-6 [Rezension bei socialnet]
Frost, Ursula, 2008a. 1. Abschnitt Begriffe. Einführung. In Mertens, Gerhard, Ursula Frost, Winfried Böhm und Volker Ladenthin, Hrsg. Handbuch der Erziehungswissenschaft: Grundlagen: Allgemeine Erziehungswissenschaft. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Vol.1, S. 163–165. ISBN 978-3-657-76350-4
Frost, Ursula, 2008b. Bildung als pädagogischer Grundbegriff. In Mertens, Gerhard, Ursula Frost, Winfried Böhm und Volker Ladenthin, Hrsg. Handbuch der Erziehungswissenschaft: Grundlagen: Allgemeine Erziehungswissenschaft. Paderborn: Ferdinand Schöningh. Vol.1, S. 163–165. ISBN 978-3-657-76350-4
Fthenakis, W Wassilios E., 2002. Der Bildungsauftrag in Kindertageseinrichtungen: ein umstrittenes Terrain? [Zugriff am: 05.02.2013]. Verfügbar unter: https://www.familienhandbuch.de/kita/krippe/​rund-um/​derbildungsauftraginkindertageseinrichtungen.php
Gisbert, Kristin, 2004. Lernen lernen: Lernmethodische Kompetenzen von Kindern in Tageseinrichtungen fördern (1. Aufl.). Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-825-25283-0
Gold, Andreas und Dubowy, Minja, 2013, Frühe Bildung. Lernförderung im Elementarbereich. In Gold, Andreas, Cornelia Rosebrock, Renate Valtin und Rose Vogel, Hrsg. Lehren und Lernen. Stuttgart: Kohlhammer GmbH, S. 13–24. ISBN 978-3-407-56242-5
Humboldt, Wilhelm von (1903-1936). Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Hrsg. von Albert Leitzmann, Bruno Gebhart, Wilhelm Richter, Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 17 Bde. Berlin: B. Behr
Liegle, Ludwig, 2012. Kind und Kindheit. In Fried, Lilian und Susanne Roux. Hrsg. Pädagogik der frühen Kindheit. Weinheim/​Basel: Beltz, S. 14–56. ISBN 978-3-589-24765-3 [Rezension bei socialnet]
OECD, 2016. OECD Factbook 2015–2016. Economic, Environmental and Social Statistics. Paris: OECD Publishing
Ribolits, Erich, 2009. Bildung ohne Wert: Wider die Humankapitalisierung des Menschen. Wien: Löcker. ISBN 978-3-854-09535-4
Roßbach, Hans-Günther, 2008. Was und wie sollen Kinder im Kindergarten lernen? In Otto, Hans-Uwe und Thomas Rauschenbach, Hrsg. Die andere Seite der Bildung. Heidelberg: Springer, 2. Aufl., S. 123–131. ISBN 978-3-531-15799-3
Schäfer, Gerd E., 2007. Bildung beginnt mit der Geburt: Ein offener Bildungsplan für Kindertageseinrichtungen in Nordrhein-Westfalen (2. Aufl.). Berlin: Scriptor. ISBN 978-3-407-56249-4 [Rezension bei socialnet]
Schäfer, Gerd E., 2013, Der Bildungsbegriff in der Pädagogik der frühen Kindheit. In Fried, Lilian und Susanne Roux, Hrsg. Handbuch: Pädagogik der frühen Kindheit. Berlin: Cornelsen. S. 33–44. ISBN 978-3-589-24765-3 [Rezension bei socialnet]
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Zitiervorschlag
Eichen, Lars, Jasmin Bempreiksz-Luthardt und Hannah Kobinger,
2022.
Frühe Bildung [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 14.01.2022 [Zugriff am: 13.10.2024].
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