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Fürsorge

Prof. Dr. Josef Schmid

veröffentlicht am 11.02.2022

Englisch: care, welfare

Fürsorge bedeutet, für eine Person zu ihrem Wohl ihre Angelegenheiten zu besorgen, die sie selbst nicht leisten kann. Das kann innerhalb der Familie, durch gemeinnützige Organisationen der freien Wohlfahrtspflege oder durch staatliche bzw. kommunale Einrichtungen erfolgen.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Begrifflichkeit und Bestimmung des Gegenstandes
    1. 2.1 Care, Hilfe und Fürsorge
    2. 2.2 Fürsorgeprinzip, Sozialhilfe und Soziale Grundsicherung
  3. 3 Funktion und Dynamik: Von der Fürsorge und Sozialhilfe zur Grundsicherung
  4. 4 Probleme und Perspektiven der Fürsorge
  5. 5 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Fürsorge bedeutet einerseits, für eine Person zu ihrem Wohl ihre Angelegenheiten zu besorgen, die sie selbst nicht leisten kann. Andererseits gilt Fürsorge als veraltete Bezeichnung für Sozialhilfe (früher Armenfürsorge bzw. heute Soziale Grundsicherung) und umfasst v.a. Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe in besonderen Lagen wie vorbeugende Gesundheitshilfe, Kranken-, Behinderten- oder Blindenhilfe sowie Hilfe zur Pflege. Kennzeichnend ist hierbei die Individualisierung der Hilfeleistung und der Bezug auf den konkreten Einzelfall.

Fürsorge ist zudem ein normatives Grundprinzip des modernen Sozialstaates und impliziert gegenwärtig ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Leben und gesellschaftliche Teilhabe. Demnach erhalten die Empfänger:innen die Hilfe wegen der individuellen Bedürftigkeit und Notlage – also ohne irgendeine Vor- oder Gegenleistung (s. etwa Trenk-Hinterberger o.J., Schmid 2020 oder Papenkort 2020). Diese Unbedingtheit wird bei den Hartz 4-Leistungen z.T. infrage gestellt und soll durch ein Garantiertes Grundeinkommen verbessert werden.

2 Begrifflichkeit und Bestimmung des Gegenstandes

Fürsorge lässt sich vereinfacht aus zwei Richtungen bestimmen:

Steht im ersten Fall das lebensweltliche Miteinander (bzw. die Interaktionsebene) im Vordergrund, so geht es im zweiten um ein institutionalisiertes und rechtlich präzisiertes Teilgebiet (bzw. Subsystem) des modernen Sozialstaates, das heute als Sozialhilfe bzw. als Soziale Grundsicherung bezeichnet wird.

2.1 Care, Hilfe und Fürsorge

Naheliegende Begriffe sind Care bzw. Sorge oder Hilfe und Pflege. In Anlehnung an Petra Bauer (2017, S. 211 ff.) kann Care bzw. Sorge als umfassender Oberbegriff dienen, der wesentliche Aspekte der Sicherung menschlicher Bedürfnisse im Alltag und im lebensweltlichen Miteinander umfasst und damit auch die Bedeutung von Interdependenz und wechselseitiger Abhängigkeit betont. „Sorge bezeichnet dabei alle Tätigkeiten der Pflege, Erziehung und Betreuung, die traditionell haushaltsnah und im Rahmen einer geschlechtsspezifisch strukturierten Arbeitsteilung vor allem von Frauen erbracht wurden“ (Bauer 2017, S. 211; Brückner 2018).

Hilfe verweist hingegen stärker auf temporäre Notlagen und Hilfsbedürftigkeit. Und es werden in sozialen Kontexten Ressourcen ohne Gegenleistung und aus mildtätigen Motiven heraus an Menschen transferiert, die einen entsprechenden Bedarf wegen Armut oder einer anderen Notlage aufweisen bzw. diese artikulieren.

Der Begriff Fürsorge wird innerhalb der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit gegenwärtig nur noch wenig verwendet. Er bildet

„eine Kategorie, die historisch betrachtet seit Beginn des 20. Jahrhunderts zentrale Stränge wohlfahrtsstaatlich begründeter und zunehmend beruflich erbrachter Tätigkeiten bezeichnet hatte. Die starke Ausrichtung der traditionellen Fürsorge an kontrollierenden und normierenden Zugängen und die Verstrickungen einer als Fürsorge bezeichneten Sozialen Arbeit im Nationalsozialismus haben diesen Begriff in der Folge für eine positive Gegenstandsbestimmung weitgehend unbrauchbar werden lassen“ (Bauer 2017, S. 211).

Stärker auf die existentielle Dimension bezieht sich Papenkort: „Fürsorge heißt für jemanden, der seine Angelegenheiten vorübergehend oder grundsätzlich nicht selbst besorgen kann, zu seinem Wohl diese Angelegenheiten zu besorgen.“ Damit wird einer „unabweisbare[n] Abhängigkeit und Verletzbarkeit von Menschen“ Rechnung getragen und zugleich eine Bedürftigkeit anerkannt. Fürsorge setzt auf Seiten der Gebenden eine soziale Zuständigkeit voraus, etwa bei Eltern gegenüber ihren Kindern (Papenkort 2020).

Fürsorge kann als privat geleistete Sorge für die eigenen Angehörigen stattfinden, aber auch die Form ehrenamtlich verrichteter Dienste am Gemeinwesen oder bezahlter Erwerbsarbeit im öffentlichen Sektor bzw. privaten Unternehmen annehmen (Fischer 2015, S. 40). Fürsorge gilt ferner als veraltete Bezeichnung für Sozialhilfe und umfasst v.a. Hilfen zum Lebensunterhalt, Hilfe in besonderen Lagen wie vorbeugende Gesundheitshilfe, Kranken-, Behinderten- und Blindenhilfe sowie Hilfe zur Pflege. Hilfen der Fürsorge sind an individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlich defizitären Gruppen orientiert (etwa Arme oder Kinder und Jugendliche; zu diesen siehe Böllert 2018). Träger der Fürsorge sind vorwiegend die Wohlfahrtsverbände (Trenk-Hinterberger o.J.; Daigler et al. 2019; Rohrmann 2020).

Damit basiert in modernen Gesellschaften persönliche Fürsorge nicht mehr primär auf privater Freiwilligkeit bzw. Interaktion, die durch Helfen und wechselseitige Sorge charakterisiert werden können. „Diese Interaktion ist, zunächst unter dem Begriff der Fürsorge und später u.a. unter dem Begriff der Sozialhilfe, dem Staat und dessen Organisationen und Einrichtungen übergeben worden“ (Falkenstörfer 2020, S. 184 f.).

Bedeutungsebenen und Dimensionen des Fürsorgebegriffs
Abbildung 1: Bedeutungsebenen und Dimensionen des Fürsorgebegriffs (Falkenstörfer 2020, S. 10)

2.2 Fürsorgeprinzip, Sozialhilfe und Soziale Grundsicherung

Fürsorge steht aus der Sicht der Sozialpolitik bzw. des deutschen Sozialstaates im Kontext von „sozialer Gerechtigkeit“ und „sozialer Sicherheit“ und bildet eines der konkretisierenden Gestaltungsprinzipen: Versicherung, Versorgung und Fürsorge. Das Fürsorgeprinzip begründet den Rechtsanspruch Bedürftiger auf Sozialhilfe bzw. Soziale Grundsicherung für den Fall, dass sie sich nicht selbst helfen können und keine Leistungen von anderer Seite erbracht werden. D.h. es müssen keine vorausgegangenen Leistungen (wie Arbeit oder Dienst) erfüllt sein. Sie gilt als letztes Auffangnetz des sozialen Sicherungssystems. Die Leistungen sind gegenwartsbezogen, d.h. nicht auf Dauer angelegt. Die Finanzierung erfolgt hier aus Steuermitteln und hat damit stärkere Umverteilungseffekte als die Sozialversicherungen (Schmid 2013 und 2020).

Bis 2005 war noch von Sozialhilfe die Rede; durch die Einführung des Sozialgesetzbuchs XII erfolgte die Änderung zur Grundsicherung. Gleichzeitig wurden die Fürsorgeleistungen für arbeitslose, erwerbsfähige Hilfeempfänger:innen (SGB II) neu gefasst (Lampert und Althammer 2021, S. 315). Die Grundsicherung folgt drei Gestaltungsprinzipien:

  • dem Subsidiaritätsprinzip,
  • dem Bedarfsdeckungsprinzip und
  • dem Grundsatz der Individualisierung der Hilfe (Lampert und Althammer 2021, S. 317).

Das Bundessozialministerium hält dazu folgende Erläuterungen fest:

„Die Sozialhilfe erbringt Leistungen für diejenigen Personen und Haushalte, die ihren Bedarf nicht aus eigener Kraft decken können und auch keine (ausreichenden) Ansprüche aus vorgelagerten Versicherungs- und Versorgungssystemen haben.

Die Sozialhilfe schützt als letztes ‚Auffangnetz‘ vor Armut und sozialer Ausgrenzung.

Die Sozialhilfe zeichnet sich durch folgende Grundsätze aus:

  • Die Leistungen werden auf den individuellen Bedarf abgestimmt und berücksichtigen dabei die Lebenslage, die Wünsche und die Fähigkeiten der Leistungsberechtigten (§ 9 SGB XII).
  • Die Sozialhilfe ist eine nachrangige Leistung und wird daher in der Regel erst dann erbracht, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, so etwa das Einkommen und Vermögen des Leistungsberechtigten und ggf. der zu ihrem bzw. seinem Unterhalt verpflichteten Personen, ihre bzw. seine eigene Arbeitskraft und ihre bzw. seine Ansprüche gegenüber vorrangigen Sicherungssystemen (§ 2 SGB XII).
  • Die Sozialhilfe muss nicht beantragt werden, sondern setzt unmittelbar ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe bekannt wird, dass die Leistungsvoraussetzungen gegeben sind. Eine Ausnahme bilden lediglich die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel (§ 18 SGB XII).
  • Die Leistungen werden als Dienstleistung, Geldleistung oder Sachleistung erbracht, wobei Geldleistungen grundsätzlich Vorrang gegenüber Sachleistungen haben (§ 10 SGB XII). Zusätzlich zur finanziellen Unterstützung umfasst die Leistungserbringung eine umfangreiche Beratung, Aktivierung und weitere Unterstützungsformen (wie die Vorbereitung von Kontakten und die Begleitung zu sozialen Diensten) (§ 11 SGB XII).
  • Der Vorrang ambulanter vor stationärer Hilfe wird durch verschiedene Regelungen verstärkt, so etwa dadurch, dass die Leistung stationärer Hilfe erst nach Prüfung von Bedarf, möglichen Alternativen (insbesondere ambulanter Hilfemöglichkeiten) und Kosten erfolgt und dass ferner die Vermutung der Bedarfsdeckung in § 36 SGB XII ausdrücklich Ausnahmen für Schwangere und behinderte sowie pflegebedürftige Personen vorsieht“ (Statistisches Bundesamt 2021).

Im Einzelnen sind die Ansprüche wie folgt geregelt:

Katalog Sozialer Hilfen und Rechtsgrundlagen
Abbildung 2: Katalog Sozialer Hilfen und Rechtsgrundlagen (Gerlach o.J.)

Die Ausgaben belaufen sich – je nach Wirtschafts- und Arbeitsmarktentwicklung – auf grob 10 % der gesamten Sozialausgaben.

Tabelle 1: Ausgaben der Sozialhilfe nach dem SGB XII in Mio. €, gerundet (Statistisches Bundesamt 2021)
Jahr Insgesamt Grund­sicherung im Alter und bei Erwerbs­minderung ohne Grund­sicherung im Alter und bei Erwerbs­minderung
2005 17,6 2,8 14,8
2010 21,7 4,1 17,6
2015 27,7 5,9 21,8
2020 14,4 7,6 6,8

3 Funktion und Dynamik: Von der Fürsorge und Sozialhilfe zur Grundsicherung

Bedeutung und Funktion der Fürsorge hängen von sozialen, ökonomischen und politischen Randbedingungen ab. Der Wandel der familialen Strukturen und Wertvorstellungen, die wirtschaftliche Entwicklung sowie der Aus-/Abbau des Sozialstaates sind es v.a., die die Fürsorge in eine komplementäre Funktion bringen. Bezogen auf letzteren Einfluss betont Hockerts (1993, S. 224) im historischen Rückblick:

„Die beitragsgestützte, erwerbsarbeitszentrierte Sozialversicherung erfaßte aber weder alle sozialen Risiken noch alle von Armut und Not bedrohten Bevölkerungsteile, und es gelang auch nicht allen Versicherten, jene typische Chance regelmäßiger Beitragsleistung individuell zu realisieren. […] In der ‚Rolle des Lückenbüßers‘ blieb mithin die kommunale Armenpflege bedeutsam, die in der Weimarer Republik ‚Fürsorge‘ genannt und 1961 zur modernen ‚Sozialhilfe‘ fortentwickelt wurde“ (Hockerts 1993, S. 224).

Im Zuge dieser Entwicklung relativiert sich „das Stigma des individuellen Versagens und einer Minderung des Sozialprestiges“ etwas, gleichwohl blieben über lange Zeit „Fürsorgeleistungen – im Unterschied zur Sozialversicherung – weder rechtlich einklagbar, noch langfristig kalkulierbar (de jure bestand sogar Rückzahlungspflicht)“ (ebd.; Hervorhebungen JS).

Der zunehmend geringe Anteil der Fürsorge bzw. Sozialhilfe am sozialstaatlichen Gesamtbudget (s.o.) und die begrenzte öffentliche Aufmerksamkeit hängen auch mit der schwachen „Wirksamkeit als Rotationspunkt wohlfahrtsstaatlicher Interessenformierungen“ zusammen; d.h. sie spielt „im modernen Sozialstaat zumeist nur eine randständige Rolle. Mit dieser Randständigkeit teilt sie das Schicksal ihrer Klientel“ (Rudloff 2010, S. 191). Zu den Besonderheiten der Fürsorge bzw. Sozialhilfe zählt ferner, dass es hier – im Unterschied zu den Sozialversicherungen – weniger um Einkommenstransfers geht, sondern auch um „die korrigierende Verhaltensbeeinflussung als Ziel ihres Handelns. Klientelwahrnehmung und Leitbilder der Fürsorge sind deshalb für normative Umdeutungen im Zeichen gesellschaftlichen Wertewandels überaus empfänglich“ (ebd.; Hervorhebung JS).

Damit verbunden ist der Umstand, dass der Verwaltung bzw. den Trägern weit gefasste Ermessensspielräume zugestanden werden und Soziale Hilfe in „einem charakteristischen Spannungsfeld von Disziplinierungs- und Dienstleistungsfunktion“ (ebd.) stattfindet. Ferner erfolgt die Umsetzung im Rahmen eines „public and private welfare mix“, in dem Wohlfahrtsverbände eine wichtige Rolle spielen. Schließlich kommt der Fürsorge bzw. Sozialhilfe nach Rudloff

„eine aufschlußreiche Signalfunktion zu. Vom Problem der Arbeitslosigkeit zu Beginn des Jahrhunderts bis zu dem der Pflegebedürftigkeit an dessen Ausgang, von der traditionellen Armutsklientel der Witwen und alleinerziehenden Mütter bis zur Hilfsbedürftigkeit von Ausländern und Asylanten in jüngerer Zeit verweist sie als sozialstaatliche Residualebene auf gesellschaftliche Integrationsprobleme, zugleich aber auch auf teils beabsichtigte, teils unbeabsichtigte Schwachstellen und Durchlässigkeiten des sozialen Sicherungssystems“ (Rudloff 2010, S. 192).

Die Jugendfürsorge signalisiert in ähnlicher Weise soziale Probleme und Defizite (ebd.). Mit den Veränderungen im Rahmen der Arbeitsmarktreformen im Jahr 2005 wurde durch das sog. „Hartz IV“-Gesetz das Arbeitslosengeld II getrennt geregelt, sodass die Sozialhilfe (nun im engeren Sinne) nur noch Personen und Bedarfsgemeinschaften zugestanden wird, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen können (Oschmiansky 2014).

Mit dieser Änderung nähert sich jedoch auch die Mitte der Gesellschaft den Regelungen und Strukturen, die für „unten“ galten und die negative Seite der alten Fürsorge charakterisiert haben: Stigmatisierung, Randständigkeit, Fremdbestimmung und Kontrolle (bpb 2008; bpb 2015). Für viele arbeitslose Facharbeitende oder Angehörige der Mittelschichten wandelt sich Hilfe von der Nächstenliebe bzw. dem familialen Nahbereich über die professionelle Dienstleistung zur bürokratischen Abwicklung und produziert entsprechende Widerstände und Proteste. Zugleich gilt „Fördern und Fordern“ bzw. „Aktivierung“ als im Prinzip wichtige und richtige Strategie der Arbeitsmarktpolitik und als erhebliche Entlastung der Kosten für die Kommunen. Das neue Recht erleichtert zudem den Zugang zu Leistungen etwa für Arbeitssuchende ohne Beitragsleistungen wie Hochschulabsolvierende auf Jobsuche – ohne Verweis auf die subsidiäre Zuständigkeit von Familie bzw. Eltern.

Ohne auf die Einzelheiten des langen Weges „Von der Fürsorge und Sozialhilfe zur Grundsicherung“ (Schoch 2013) einzugehen, lassen sich doch einige Charakteristika und Trends identifizieren:

  • Fürsorge (samt Nachfolgeregelungen und -termini) wird nun als starkes Recht normiert und gilt als basales Menschenrecht auf individuelle Hilfe und Entfaltung.
  • Dabei erfolgt eine Ausdifferenzierung der Leistungen und Systeme bzw. Zuständigkeiten sowie eine Konzentration der Klientelen.
  • Durch die wachsenden Kompetenzen des Bundes erfolgt eine Zentralisierung und Entkommunalisierung der Fürsorge.
  • Damit verbunden sind erhebliche Tendenzen zur Verrechtlichung und Bürokratisierung (siehe dazu etwa die Ordnungsprinzipien bei Schoch 2013, S. 164 sowie die Kritik an Hartz 4).

4 Probleme und Perspektiven der Fürsorge

Die sachlichen Ambivalenzen und politischen Debatten um eine Reform von Hartz 4 sowie zu geringen Renten bei untypischen oder unterbrochenen Erwerbsverläufen verweisen auf die o.a. Komplementär- bzw. Lückenbüßer- und Signalfunktionen der Fürsorge bzw. Sozialhilfe. In der Folge des sozio-ökonomischen Wandels fallen zusehends mehr Menschen aus dem Netz der Sozialversicherungen und sind auf Sozialhilfe angewiesen – oder landen in Armut. Ein garantiertes Grundeinkommen soll diese Defizite beheben und auch unter neuen Bedingungen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Als grundlegender Anspruch ohne größere Prüfungen – die Einzelheiten variieren in den verschiedenen Vorschlägen – sollen auch die Effekte von Fremdhilfe und Paternalismus reduziert werden (bpb 2007; Thönnessen 2019). Freilich ist auch dieser Vorschlag nicht perfekt: „Als zentrale Probleme der sozialen Grundsicherung werden die negativen Arbeitsangebotseffekte, die unzureichende Leistungshöhe und das Problem der verdeckten Armut angesehen“ (Althammer und Lampert 2021, S. 323).

Weiterhin problematisch bleiben darüber hinaus zwei Bereiche:

  • Gender, denn Pflege und Fürsorge leisten v.a. Frauen, zudem unbezahlt, weil diese Tätigkeiten als familiale Aufgaben definiert werden,
  • Pflege im Alter (Femina politika 2017; Fischer 2015).

Insgesamt sind die Herausforderungen für die Fürsorge (als Interaktion wie als System) zwar universell, doch lassen sich mit Blick auf die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung (Sozialstaat) zwei Aspekte nach Esping-Andersen beleuchten, nämlich Residialismus und Familialismus. Dabei meint Residialismus die Rolle von Fürsorge und Sozialhilfe als minimaler Existenzsicherung; Familialismus bezeichnet die Funktionen, die die Familie wahrnimmt (bzw. entspricht dem umgekehrt eine geringe Rolle des Staates).

Tabelle 2: Probleme und Perspektiven der Fürsorge im Vergleich der Wohlfahrtsstaatstypen
Wohlfahrts­staatstypus nach Esping-Andersen Liberal Konservativ Sozialdemo­kratisch Mediterran
Residialismus hoch mittel tief mittel (nicht umfassend)
Familialismus hoch früher: hoch heute: mittel tief hoch
Defizitäre Fürsorge und Grundsicherung ja z.T. wenig ja

5 Quellenangaben

Althammer, Jörg W. und Heinz Lampert, 2021. Lehrbuch der Sozialpolitik. 10. Auflage. Berlin: Springer. ISBN 978-3-662-56257-4

Bauer, Petra, 2017. Sorge und Fürsorge. In: Fabian Kessl, Elke Kruse, Sabine Stövesand, Werner Thole, Hrsg. Soziale Arbeit: Kernthemen und Problemfelder. Opladen: Barbara Budrich, S. 211–220. ISBN 978-3-8252-4347-0 [Rezension bei socialnet]

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Thönnessen, Joachim. Rezension vom 06.02.2019 zu: Christoph Butterwegge, Kuno Rinke: Grundeinkommen kontrovers. Plädoyers für und gegen ein neues Sozialmodell. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2018. ISBN 978-3-7799-3987-0 [Rezension bei socialnet]. In: socialnet Rezensionen. ISSN 2190-9245 [Zugriff am: 28.01.2022]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/rezensionen/​25019.php

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Verfasst von
Prof. Dr. Josef Schmid
Professor a.D. für Politische Wirtschaftslehre und Vergleichende Politikfeldanalyse an der Universität Tübingen, lehrt und forscht über Wohlfahrtsstaaten, Arbeitsmarktpolitik und Bürgerschaftliches Engagement in den Bundesländern. Er war 2010-2022 hauptamtlicher Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät.
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Zitiervorschlag
Schmid, Josef, 2022. Fürsorge [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 11.02.2022 [Zugriff am: 23.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1773

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