Gerontopsychiatrie
Prof. Dr. phil. Rolf D. Hirsch
veröffentlicht am 21.02.2022
Die Gerontopsychiatrie ist die Psychiatrie des Alterns und des Alters. Sie beschäftigt sich mit den psychischen Störungen und Erkrankungen im höheren Lebensalter in Forschung und Lehre sowie in der Prävention, Behandlung, Rehabilitation und Versorgung alter Menschen. Ihrem Wesen nach ist sie interdisziplinär und arbeitet eng mit den gerontologischen Disziplinen zusammen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Begriffsbestimmung
- 3 Geschichtliche Entwicklung
- 4 Besonderheiten
- 5 Psychische Störungen
- 6 Diagnostik und Assessment
- 7 Prävention
- 8 Behandlung
- 9 Rehabilitation
- 10 Versorgung
- 11 Quellenangaben
- 12 Literaturhinweise
- 13 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Häufigste psychische Störungen im Alter sind die depressiven und kognitiven Störungen. Vor der Behandlung ist ein gerontopsychiatrisches Assessment notwendig, welches interdisziplinär erhoben wird. Dieses soll die Resilienzen, Ressourcen und die pathologischen Symptome eines alten Menschen erfassen und darauf aufbauend einen Behandlungsplan erstellen. Grundsätzlich bestehen vielfältige Möglichkeiten und Methoden zur mehrdimensionalen Behandlung, die patientenorientiert abgestimmt und eingesetzt werden. Die gerontopsychiatrische Versorgung bezieht sich auf die ambulanten, teilstationären und stationären Bereiche sowie auf den Heimbereich.
2 Begriffsbestimmung
Die Gerontopsychiatrie ist ein Teilgebiet bzw. Schwerpunkt der Psychiatrie (Hirsch et al. 1992, S. 4). Ihrem Wesen nach ist sie eine Vertreterin mehrerer Disziplinen (Oesterreich 1981, S. 12). Sie bedient sich der klinisch psychiatrischen Urteils- und Erfahrungsebene und benutzt deren diagnostische und therapeutische Methoden bzw. entwickelt diese unter Einbeziehung der Altersvariable weiter. „Überall dort, wo bei einem älteren Menschen (ab 60.–65. Lebensjahr; Expertenkommission 1988) die psychische Störung im Vordergrund seiner Erkrankung/​Erkrankungen steht, ist die Gerontopsychiatrie zuständig“ (Hirsch et al. 1992, S. 4). Allerdings ist eine genaue Altersgrenze wegen der großen inter- und intraindividuellen Spannungsbreite nicht sinnvoll.
Die Gerontopsychiatrie ist nicht einfach eine Fortsetzung der Erwachsenenpsychiatrie. Es besteht eine enge Verflechtung zur Geriatrie und zur Altenhilfe. Weitere enge Beziehungen gibt es zur Gerontopsychologie und -soziologie. Zudem übernimmt sie auch Erkenntnisse weiterer Wissenschaftszweige (z.B. Philosophie, Pädagogik, Theologie, Pflegewissenschaft, Epidemiologie, Architektur). Die Arbeitsweise der Gerontopsychiatrie ist daher in Forschung, Lehre und Praxis interdisziplinär sowie dynamisch und sozialpsychiatrisch ausgerichtet.
Die Gerontopsychiatrie beschäftigt sich mit dem Gesamtvorgang des Alterns und seinen biologischen, psychologischen und sozialen Einwirkungen und Auswirkungen (Oesterreich 1981, S. 13). Hauptaufgaben der Gerontopsychiatrie sind:
- Grundlagenforschung psychischer Erkrankungen im Alter
- deren Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten
- Prävention und Rehabilitation sowie
- Epidemiologie und Versorgung
Die gerontopsychiatrische Versorgung bezieht sich auf die Ebenen:
- allgemeines psychosoziales Vorfeld (Prävention, Erkennen von Risikogruppen)
- ambulante Versorgung („ambulant vor stationär“)
- teilstationärer (Tagesklinik) sowie
- stationärer (Altenhilfe und Klinik) Bereich
Eine Hauptaufgabe ist, innerhalb einer Versorgungsregion die vielfältigen Einrichtungen und Dienste zu koordinieren und zu unterstützen. Ihre Interventionen beziehen sich nicht nur auf alte Menschen, sondern auch auf deren Angehörige und andere Bezugspersonen. Öffentlichkeitsarbeit, Beratung von bestehenden und geplanten Einrichtungen der Altenhilfe und der medizinischen Versorgung sowie Vermittlung von gerontopsychiatrischer Kompetenz in Aus-, Fort- und Weiterbildung sind weitere Aufgabenbereiche.
3 Geschichtliche Entwicklung
Seit den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts sind in Lehr- und Handbüchern Exkurse zur Gerontopsychiatrie zu finden. Unterstützt durch die Arbeiten namhafter Altersmediziner (insbes. Max Bürger 1954) und den Erkenntnissen der Gerontopsychologie und -soziologie, hat die Gerontopsychiatrie im deutschsprachigen Raum in den 1960er-Jahren an Bedeutung gewonnen. So legte Müller (1967) den ersten Gesamtüberblick über die Alterspsychiatrie vor, in welchem der Stand des Wissens über diese zusammengetragen ist, 1975 folgte Oesterreich mit seinem Buch „Psychiatrie des Alterns“ (1981). Öffentliches Interesse wurde durch die Psychiatrie-Enquête 1975 geweckt, welches durch die Empfehlungen und Forderungen der Expertenkommission (1988) auch in der Gerontopsychiatrie gefördert wurde. Seit den 1970er-Jahren hat sich die Gerontopsychiatrie immer mehr zu einer Fachdisziplin entwickelt.
GerontopsychiaterInnen der Bundesrepublik gründeten mit anderen europäischen GerontopsychiaterInnen 1971 die Europäische Arbeitsgemeinschaft für Gerontopsychiatrie. Die Kongressbände ihrer Tagungen sind auch heute noch für jeden an Gerontopsychiatrie Interessierten lesenswert. Durch die Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie“ (DGGPP) 1992 und der „Deutschen Akademie für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie“ (DAGPP) 2000 ist ein deutlicher Aufschwung für dieses Fach in Deutschland entstanden. In ihren Kongressbänden werden über einzelne gerontopsychiatrische Krankheitsbilder und deren Behandlung, über Versorgungsstrukturen und weitere grundlegende Themen der Gerontopsychiatrie in Theorie und Praxis berichtet. Fachbücher zur Gerontopsychiatrie entstanden wie: „Lehrbuch der Gerontopsychiatrie und -psychotherapie“ (Förstl 2003), „Gerontopsychiatrie“ (Bergener et al. 2005), „Praxishandbuch Gerontopsychiatrie und -psychotherapie“ (Klöppel und Jessen 2020) und „Gerontopsychiatrie für die Pflege“ (Perrar et al. 2021).
4 Besonderheiten
Wie der Alternsprozess, so sind auch die in dieser Lebensphase auftretenden psychischen Störungen von einer Reihe von Besonderheiten gegenüber früheren Lebensphasen gekennzeichnet (Hirsch et al. 1992, S. 1–2):
- „Altern“ ist kein statischer, sondern ein mehrdimensionaler dynamischer Prozess. Dabei lassen sich mehrere voneinander abgrenzbare Lebensabschnitte beobachten und damit verbunden stehen sehr unterschiedliche Aufgaben in den verschiedenen Phasen für den Einzelnen zur Bewältigung an.
- Das Alter umfasst Phasen intensiver körperlicher, seelischer aber auch sozialer Wandlungen und Wechselwirkungen. Dabei können auch neue Potenziale erworben werden.
- Somatische, psychische und soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten des alternden und alten Menschen sind inter- und intraindividuell sehr unterschiedlich.
- Eine Abgrenzung von „normalen“ und „pathologischen“ psychischen Alterungsprozessen sind oft schwer zu treffen.
- Mit zunehmendem Alter erhöht sich die Gefahr, an einer oder mehreren Erkrankungen (Multimorbidität) zu leiden, die sich negativ miteinander verstärken können. Diese haben meist eine lange Latenzzeit, verlaufen eher schleichend, symptomarm, häufig chronisch und progredient und neigen verstärkt zur Irreversibilität.
- Die Anzahl der „Vulnerabilitätsfaktoren“ (d.h. potenziell schädigende und belastende Faktoren) nimmt im Alter erheblich zu und erschwert dadurch deren Bewältigung. Gleichzeitig nehmen aber häufig die „Protektionsfaktoren“ (d.h. schützende, stabilisierende Faktoren) ab.
- Die Pharmakodynamik und -kinetik bei Älteren unterscheidet sich erheblich von der Jüngerer (insbesondere durch Veränderung der Organe, der intra- und extrazellulären Flüssigkeiten im Körper u.a.).
- Im Behandlungsprozess besteht eine erhebliche Beziehungsasymmetrie (älterer/​PatientIn – jüngere/r TherapeutIn). Diese fördert eine einseitige Sichtweise von Behandlungs- und Versorgungsschwerpunkten.
- In keiner Lebensphase wird das Selbstbild so negativ beurteilt wie im Alter.
5 Psychische Störungen
Im Alter kann eine psychische Störung zum ersten Mal auftreten oder erneut auftreten. Häufig besteht sie schon über lange Jahre mit unterschiedlicher Ausprägung und kann sich im Alter verstärken. Erscheinungsbild, Verlauf und Folgen vieler psychischer Störungen im Alter werden durch biologische Faktoren des Alternsprozesses oft mehr bestimmt als durch psychosoziale (Häfner 1993, S. 46). Allerdings ist es müßig, danach zu suchen, ob primär genetische, psychologische, soziale oder umweltbedingte Faktoren ein Krankheitsbild auslösen. Meist ist es ein Zusammenwirken vieler Faktoren, die zum Ausbruch einer psychischen Störung im Alter führen (Hirsch 1999).
Die Häufigkeit von psychischen Störungen liegt bei über 65-Jährigen bei ca. 25 %. Dieser Befund wird übereinstimmend von in- und ausländischen epidemiologischen Untersuchungen bestätigt (Bickel 2003). Bekannt ist, dass die Prävalenz psychischer Störungen im höheren Lebensalter ansteigt. So geht man davon aus, dass mehr als 30 % der über 75-Jährigen unter einer psychischen Störung leidet. Dieser Anteil erhöht sich noch bei den über 85-Jährigen, wobei dies besonders auf die Zunahme der Demenzen zurückzuführen ist. Vom 60. bis 89. Lebensjahr steigt das Risiko an einer schweren psychischen Störung zu leiden erheblich (47 % der 89-Jährigen). Bekannt ist der Zusammenhang zwischen körperlichen und psychischen Störungen im Alter.
5.1 Kognitive Störungen
Die Prävalenzen von kognitiven Beeinträchtigungen und Demenzen bei über 65-Jährigen werden angegeben mit (Bickel 2003):
- Demenzen (8 %): schwer 2,6 %, mittelschwer 3,1 %, leicht 2,3 %
- Leichte kognitive Störung, keine Demenz (16,8 %)
Geschätzt wird, dass jährlich ca. 200.000 Neuerkrankungen an Demenz (120.000 an Alzheimer Demenz) auftreten, ca. 60 % davon bei über 80-Jährigen (70 % davon Frauen). Ältere Frauen erkranken häufiger als Männer. Unbestritten ist das Alter der Hauptrisikofaktor bei einer Alzheimer-Demenz. Als weitere Risikofaktoren mit unterschiedlicher Datenlage werden diskutiert: geringe Schulbildung, Schädel-Hirntrauma, Rauchen, Alkoholmissbrauch, fettreiche Ernährung und eine Reihe von vaskulären Risikofaktoren wie Hypertonie, Fettstoffwechselstörung und Diabetes mellitus. Das Mortalitätsrisiko liegt bei Demenzkranken um das 2–5-fache höher als bei der übrigen Bevölkerung.
5.2 Depressive Störungen
Depressive Störungen reichen von leichteren Verstimmungen bis zur schwersten Erkrankung. Sie gehören zu den häufigsten psychischen Störungen im höheren Lebensalter. Angaben über Prävalenzen von älteren Menschen sind daher je nach verwendeten Fallkriterien unterschiedlich. Eine immer noch aktuelle Analyse (Beekmann et al. 1999) findet im Mittel, dass
- 1,8 % an schwerer Depression (Major Depression)
- 9,8 % an leichteren (Minor Depression) und
- 13,5 % insgesamt an krankheitswertigen depressiven Störungen leiden.
Werden geringer ausgeprägte subdiagnostische Störungen, wie sie bei weiteren 9–20 % der Altenbevölkerung gefunden werden, einbezogen, reichen die Schätzungen bis zu 27 %. Frauen sind doppelt so häufig wie Männer von depressiven Störungen betroffen. Tendenziell sinken die Raten der schweren depressiven Störungen im Alter ab, während leichtere Formen und depressive Symptome ohne eindeutigen Krankheitswert leicht zunehmen, wie z.B. Interessenrückgang, Verlust an Freude und geringere Konzentrationsfähigkeit.
5.3 Suizidale Syndrome
Suizide von alten Menschen sind erheblich häufiger als von jüngeren (Schmidtke et al. 2002). Die Suizidrate der über 60-Jährigen betrug 2011 für Männer 35/100.000 (1,75-fach höher als in der Gesamtbevölkerung) und für Frauen 10/100.000 (2-fach höher als in der Gesamtbevölkerung). Die Suizidraten sind bei alten Menschen erheblich höher als bei Jüngeren. Im Jahr 2020 lag sie bei 90-jährigen Männern bei 86,8/100.000 und bei Frauen 15,7/100.000 (Lindner 2021).
Suizidversuche nehmen mit zunehmendem Alter ab. 7 % der Suizidversuche wurden von über 60-Jährigen durchgeführt, 26/100.000 von den Männern, 18/100.000 von den Frauen. Bekannt ist, dass mit zunehmendem Alter Todeswünsche und Suizidgedanken zunehmen. Ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Einflussfaktor für Suizidalität über alle Altersgrenzen sind psychische Erkrankungen, insbesondere Depressionen. Der Suizidgefahr in Verbindung mit Depressionen kommt im Alter eine besondere Brisanz zu, weil zusätzliche, erschwerende Begleitsymptome wie somatische Störungen, Schmerzzustände, kognitive Einbußen, Krankheits- und Siechtumsängste sowie soziale Isolierung und Vereinsamung den alten Menschen belasten können. Als weitere Risikofaktoren werden genannt: Körperliche Erkrankungen, soziale Defizite und Belastungen, emotionale Faktoren und verfügbares soziales Netz (Lindner et al. 2014)
5.4 Angststörungen
Angststörungen sind die dritthäufigste Gruppe psychischer Störungen im Alter. Die Gesamt-Prävalenzraten liegen zwischen 0,7 % und 10,2 %. In Untersuchungen, die auch nach Geschlechtern differenzierten, ist der Anteil der Frauen (3,0–6,8 %) bei allen Klassifikationen deutlich höher als bei Männern (0,2 % und 3,6 %). Komorbide Störungen scheinen in erster Linie Depressionen zu sein. Die Komorbiditätsraten werden mit bis zu 50–60 % angegeben. Die Prävalenz von Angststörungen scheint im Alter zurückzugehen.
5.5 Schizophrene und paranoide Störungen
Schizophrene Störungen nehmen im Alter ab. Neumanifestationen kommen im Alter zwar vor, sind aber sehr selten (3–12 %). Mit zunehmendem Alter wird der Anteil der Frauen immer größer (über 75-Jährige: 7-mal so hoch). An Symptomen treten im Alter eher wahnhafte Verfolgungsideen und Halluzinationen auf.
Paranoide Symptome, die auch bei anderen Erkrankungen beobachtet werden (z.B. Demenzen, Depressionen), treten im Alter häufiger auf (Bickel 2003). Berichtet wird von Verfolgungswahn (4 % der Älteren) oder allgemein paranoiden Symptomen (6,3 % der Älteren) bzw. wenigstens ein gegenwärtig wahnhaftes Symptom (fast 8 %).
5.6 Abhängigkeitsstörungen
Unter den Abhängigkeitserkrankungen sind im Alter bisher nur Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit bzw. -missbrauch von Bedeutung (Wolter 2011). Die Häufigkeit des Missbrauchs von Alkohol ist bei Männern höher als bei Frauen. Deutsche Suchtexperten gehen davon aus, dass bei 2–3 % der Männer und 0,5–1 % der Frauen über 60 Jahre eine Alkoholabhängigkeit und bei 10–20 % bzw. 1–10 % ein Alkoholmissbrauch vorliegen (Mann et al. 2003). Zum größeren Teil handelt es sich um Menschen, deren Alkoholproblem bereits seit früheren Lebensabschnitten besteht, bei etwa 1/3 hat es jedoch erst im Alter begonnen, wobei altersspezifische Belastungsfaktoren von großer Bedeutung sind. Auch im Alter besteht eine deutliche Komorbidität zwischen Depression und Alkoholmissbrauch.
Im Hinblick auf Medikamentenabhängigkeit und -missbrauch sind im Alter neben Schmerz- und Abführmitteln vor allem Schlaf- und Beruhigungsmittel von Bedeutung, d.h. wesentlich Benzodiazepine. Epidemiologische Studien mit unterschiedlicher Methodik kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass in westlichen Industriestaaten gut 5 % bis knapp 20 % der Bevölkerung gelegentlich und fast 2 % regelmäßig BZD einnehmen sowie der Konsum mit dem Lebensalter deutlich ansteigt (Zunahme der Verordnungshäufigkeit um das Zehnfache zwischen dem 20. und 70. Lebensjahr).
6 Diagnostik und Assessment
Die Grundlage der gerontopsychiatrischen Behandlung ist das „Gerontopsychiatrische Assessment“. In dieses soll nicht nur das kalendarische Lebensalter einbezogen werden, sondern auch das biologische (körperliche Veränderungen), das psychologische (geistig-seelische Veränderungen), das soziale (Gruppen gleichermaßen Betroffenen) und das historische (Zeitgeschichte). Zudem sollen vorhandene Resilienzen und Ressourcen in die Beurteilung eines psychisch kranken alten Menschen einbezogen werden. Somit geht ein Gerontopsychiatrisches Assessment über die übliche medizinische und psychometrische Diagnostik hinaus und ist prozessorientiert. Es wurde bereits 1975 in der Psychiatrie-Enquête sowie 1988 von der Expertenkommission beschrieben. Es soll
- das Ausmaß der Einbußen, die vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten (Kompetenzen) und deren Möglichkeiten an Aktivierung bzw. Reaktivierung festgestellt werden,
- ein diesbezüglicher Behandlungs- bzw. Rehabilitationsplan unter Einbeziehung der regional vorhandenen Hilfs-, Behandlungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten einzelfallbezogen erstellt,
- Angehörige der betroffenen Person sowie dessen soziales Umfeld einbezogen und
- die Interventionen auf deren für PatientInnen und den Bezugspersonen nützlichen Effekt überprüft oder verändert werden.
Das Assessment soll Auskunft geben über den allgemeinmedizinischen (Stichwort „Multimorbidität“, „Polypathie“), psychischen (kognitive, affektive), pflegerischen (z.B. „Alltagsaktivitäten“), sozialen (z.B. Beziehungsgefüge) und wirtschaftlichen (z.B. Höhe der Rente) Zustand der PatientInnen sowie über real vorhandene Möglichkeiten (z.B. Sozialstation, Selbsthilfegruppe, Hausarzt, Klinik), die zu einer Verbesserung des Zustands führen und zu dessen Stabilisierung beitragen können. Das Gerontopsychiatrische Assessment orientiert sich auch daran, wie ein alter Mensch mit seinen Einbußen umgeht, über welche Kompetenzen er verfügt und wie er diese einsetzt. Aufgrund dieses Assessments wird ein individueller Interventionsplan erstellt und später auf dessen Effizienz überprüft (Hirsch et al. 1999).
Von dem Krankheitsbild, der Situation und der Problemstellung der PatientInnen ist es abhängig, welche und wie viele Untersuchungen zur Klärung des Gesamtbildes und der Gesamtsituation erforderlich sind. Entscheidend ist, dass nicht einzelne Untersuchungsergebnisse oder Problembereiche bewertet werden, sondern in eine „ganzheitlich“ ausgerichtete Sichtweise eingefügt werden. Geklärt wird durch das Assessment auch, welcher Behandlungsort (zu Hause, Tagesklinik, Klinik, Rehabilitationseinrichtung) erforderlich ist und „wohin“ behandelt werden soll.
7 Prävention
Es gibt eine Reihe von psychohygienischen Vorsorgemöglichkeiten (Gerontoprophylaxe). Prävention setzt am Einzelnen (z.B. sportliche Aktivitäten, Kontakte halten) und an dem gesellschaftlichen System (krankheitsfördernde Umwelteinflüsse, überkommene Rollenerwartungen) an. Medizinisch betreuendes Fachpersonal sollte gerade alte Menschen ermuntern, keine Kompetenzen bzw. möglichst wenige an andere abzugeben, um so unabhängig von Anderen zu bleiben (Hirsch 1999).
Durch die zunehmende Vereinzelung (Wegsterben Altersgleicher, Familienmitglieder) eines alten Menschen besteht die Gefahr der psychischen und sozialen Isolation, deren weitere Wegbereiter das Nachlassen des Sehens, Hörens, eine Gehbehinderung u.a. sein können. Präventive Hilfen, die häufig von außen kommen müssen, vermeiden den Weg in eine Abhängigkeit. Neben allgemeinen Maßnahmen verringern z.B. Telefonkette, Seniorentreffs, Besucherkreise und Haus- und Nachbarschaftshilfe die Gefahr zu erkranken. Natürlich sind wenige enge und mehrere weitere Kontakte zu Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten aus verschiedenen Altersgruppen die beste Gewähr, dass man als alter Mensch nicht vereinsamen muss. Hierzu sind gegenseitige Toleranz, Fähigkeiten zur Geselligkeit und Unterstützung das beste Bindeglied.
Sicherlich gibt es derzeit nur wenige gezielte und auf ihren Nutzen wissenschaftlich überprüfte präventive Möglichkeiten für psychische Erkrankungen im Alter. Allerdings können z.B. auch im Frühstadium einer Demenzerkrankung eingesetzte Maßnahmen den Verlauf dieser sehr schweren Erkrankung zumindest verzögern wie: auf kompetenzerhaltende Inhalte abgestimmtes Üben und Lernen, Schaffung einer nach milieutherapeutischen Grundsätzen ausgerichteten Umgebung, psychomotorische Trainings, Entspannungstraining, unterstützende Pharmakotherapie und Angehörigenarbeit.
8 Behandlung
In der Therapie sind bestimmte Haltungen und Einstellungen (Hirsch et al. 1992) Voraussetzung für eine „Behandlung nach Maß“ wie z.B.:
- Wahrnehmung der Eigenverantwortung, der Rechte, der Würde und des Willens des Älteren bei allen diagnostischen und therapeutischen Bemühungen
- Erkennen, dass das subjektives Erleben Älterer anders ist, als das von Jüngeren
- Ausdauer und Geduld
- Fördern durch Fordern
- Akzeptieren von sog. „kleinen Erfolgen“
- Orientierung an Bedürfnissen des Älteren und vorhandenen regionalen Hilfen
- Wahrnehmung des Professionellen von eigenen Schwierigkeiten mit Altern und Tod
Oft sind die Grenzen zwischen einer Behandlung und Rehabilitation fließend. Zum Teil sind auch präventive Aspekte einzubeziehen. Je nach Behandlungsort (ambulant, teilstationär, stationär) ergeben sich unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten. Grundsätzlich sollte versucht werden, PatientInnen im häuslichen Umfeld zu behandeln. Eine Verlegung „zur medikamentösen Einstellung“ in eine Klinik birgt oft mehr Komplikationen als eine Behandlung im häuslichen Umfeld. Unzureichend ist bekannt, dass sich eine Demenz z.B. unter stationärer Behandlung auch verschlechtern kann. Schon aufgrund der Besonderheiten alter Menschen sollte eine Klinikbehandlung nur als „ultima ratio“ erfolgen und eine ambulante oder tagesklinische Behandlung alternativ überlegt werden.
Eine Reihe von therapeutischen Interventionen (medikamentöse, psycho- und soziotherapeutische), die auf der Grundlage eines Gesamt-Behandlungskonzeptes für jede Patientin und jeden Patienten erstellt und während der Behandlung immer wieder auf ihre Effizienz überprüft werden, steht zur Verfügung (Förstl 2003; Hirsch 1999; 2016; Hirsch et al. 1999).
Da der Alternsprozess mehrdimensional verläuft, eine psychische Erkrankung nicht nur eine Ursache hat, ist eine sinnvolle und effektive Behandlung auf mehreren Ebenen von verschiedenen Berufsgruppen, die patienten- und teamorientiert miteinander arbeiten, erforderlich. Eine Reihe von therapeutischen Interventionen, die aufeinander abgestimmt sein sollen, steht zur Verfügung (Hirsch et al. 1999):
8.1 Milieutherapie
Sie gehört zur „Grundausstattung“ einer gerontopsychiatrischen Behandlung. Natürlich sind die Möglichkeiten im häuslichen Rahmen anders als in einem Altenheim oder in der Klinik. Voraussetzung für eine Milieutherapie ist, dass alle Beteiligten über Ressourcen und Inkompetenzen, Lebensgeschichte, soziale und derzeitige Situation der PatientInnen informiert sind sowie Angehörige bei stationären kranken Alten in das therapeutische Setting einbezogen werden.
8.2 Ergotherapie
Die Ergotherapie mit ihren vielfältigen Behandlungsangeboten wird ambulant, teilstationär und stationär durchgeführt. Durch die Anwendung verschiedener Medien (z.B. Farben, Ton, Holz, Speckstein) werden nonverbale Kompetenzen gefördert und die Freude am kreativen Schaffen geweckt. Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Ausdauer und kommunikatives Verhalten werden ohne Leistungsdruck verstärkt. Angeboten werden: Hirnleistungs-(Gedächtnis-)Training, Realitäts-Orientierungs-Training, Sensibilitäts- und Wahrnehmungstraining, Förderung der Aktivitäten des täglichen Lebens, gestalterische Techniken, Gestaltungstherapie, handwerkliche Techniken und Koch- und Haushaltungstraining. Je nach Behandlungsort erfolgt die Ergotherapie einzeln oder im Gruppenrahmen.
8.3 Sozialarbeit
SozialarbeiterInnen fördern und unterstützen die Kooperation und Koordination der verschiedenen regionalen Einrichtungen der Altenhilfe und der Klinik sowie die Angehörigenarbeit einzeln und in Gruppen. Hauptbetätigungsfelder von SozialarbeiterInnen in der Gerontopsychiatrie sind
- den PatientInnen im materiellen und sozialen Bereich zu helfen
- mit Institutionen im sozialen Versorgungsnetz Kontakte aufzubauen und zu halten
- eine Heimübersiedlung vorzubereiten (Heime zu besuchen u.a.)
- soziale Hilfen im Umfeld vor der Entlassung nach Hause zu organisieren
- Angehörige zu beraten
- Wissen zu vermitteln über existenzielle und soziale Hilfen sowie im Sozialrecht
- Kompetenzen der PatientInnen im Umgang mit Alltagsaktivitäten und -konflikten zu stärken
8.4 Medikamentöse Behandlung
Die medikamentöse Behandlung in der Gerontopsychiatrie erfolgt nach dem Grundsatz: einfach, sparsam, individuell und situativ. Eine relativ engmaschige kontinuierliche Kontrolle der Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten und deren Wechselwirkungen (Multimedikation) gehören zu einer verantwortungsvollen Behandlung.
Neben einer häufig erforderlichen internistischen Medikation (z.B. für Herz, Kreislauf, Blutdruck, Infektion) werden je nach Krankheitsbild Psychopharmaka (Neuroleptikum, Antidepressivum, Schmerzmittel, Tranquilizer/​Hypnotikum und Antidementivum) gegeben. Zu achten ist auf die Halbwertzeit eines Medikaments, die bei alten Menschen deutlich länger sein kann als bei jüngeren. In der PRISCUS-Liste werden 83 Wirkstoffe beschrieben, die bei alten Menschen nicht gegeben werden sollten und welche anderen alternativ eingesetzt werden können. Diese Liste basiert auf einer Literaturrecherche und einer qualitativen Analyse internationaler PIM (potenziell inadäquate Medikation), die an den deutschen Arzneimittelmarkt angepasst wurde (Holt et al. 2010)
Besonders wichtig ist zudem, für eine ausreichende Zufuhr von Flüssigkeit und altersentsprechende Nahrung zu sorgen. Einschleichende Medikamentengabe (beginnend meist mit 1/3 der „Erwachsenendosis“), Vermeidung von Kombinationspräparaten, baldige Absetzversuche (bei Tranquilizern) u.a. gilt es zu berücksichtigen.
8.5 Psychotherapie
Psychotherapie kann durch ein Verfahren, in Kombination mit einem anderen oder als Teil einer multimodalen Therapie (in Tageskliniken oder Kliniken) durchgeführt werden und zwar in Einzel-, Paar-, Familien- oder in Gruppentherapie (Heuft et al. 2006; Maercker 2015). Abhängig ist dies weniger vom kalendarischen Alter als vielmehr von der Art, Schwere und Dauer des Krankheitsbildes, dem Allgemeinzustand der Patientin oder/des Patienten und dem sozialen Umfeld. Die Psychotherapie wird ambulant, teilstationär oder in der Klinik (z.B. gerontopsychiatrische Abteilung, psychosomatische bzw. psychotherapeutische Klinik) durchgeführt.
Generelle Zielvorstellungen der Psychotherapie im Alter sind: Beschwerdefreiheit, Wiedergewinnung von Liebesfähigkeit, Genussfähigkeit, Trauerfähigkeit, Kontaktvermögen und Arbeitsfähigkeit (nicht berufliche). Diese Zielvorstellungen richten sich zudem nach den psychosozialen Aufgaben und Krisen, die je nach Alterskohorte unterschiedlich sind. Bei jeder Psychotherapie ist weniger das Lebensalter als vielmehr die Dauer der psychischen Störung oder Erkrankung für eine Prognose entscheidend.
Heute werden bei alten Menschen hauptsächlich folgende psychotherapeutische Verfahren durchgeführt:
- Psychodynamisch orientierte Psychotherapie: Voraussetzung ist Flexibilität, Entwicklungsmöglichkeiten, ausreichende Ich-Stärke, -funktionen und Frustrationstoleranz sowie stabile Objektbeziehungen. Je nach Beschwerdebild werden eingesetzt: Psychoanalyse, analytische Therapie, Fokal- und Kurzzeittherapie, psychodynamisch orientierte Therapie.
- Verhaltenstherapeutische und kognitiv-behavioristische Therapie: eine Vielzahl unterschiedlicher Verhaltensmodifikationen, Konditionierungs- sowie kognitive Strategien, wird eingesetzt, die zur Veränderung von Verhaltensweisen führen sollen wie z.B. operante Konditionierung, Desensibilisierung, Selbstsicherheits-Training, Sozial-Training, kognitive Umstrukturierung und (Wieder-) Erlernen von spezifischen Bewältigungsstrategien und Alltagsaktivitäten.
- Entspannungsverfahren, wie z.B. das Autogene Training, die oft in Kombination mit anderen Psychotherapieverfahren eingesetzt werden.
8.6 Krankengymnastik und Bewegungstherapie
Einzeln und in Gruppe wird je nach Indikation die Krankengymnastik ambulant oder stationär durchgeführt. Im Rahmen einer stationären Behandlung werden Gruppengymnastik, Hockergymnastik und Entspannungsgruppen angeboten. Häufig wird dies mit Musik unterstützt. PatientInnen mit massiven Bewegungsstörungen, Lähmungen und Gangstörungen unterschiedlichster Genese sowie Bettlägerige werden bevorzugt einzeln behandelt.
Die Bewegungstherapie hat als Ziel die Verbesserung und Schulung der Koordination, der Konzentration, der Feinmotorik, der Kreativität und der Reaktion. Durchgeführt wird sie einzeln oder in der Gruppe. In der Bewegungstherapie haben organisch-funktionelle Störungen und psychisches oder soziales Fehlverhalten bei den PatientInnen gleiche Priorität.
8.7 Pflege
Die Pflege wird heute nach dem Modell des Lebens (Lebensaktivitäten, Lebensspanne, Abhängigkeit/​Unabhängigkeits-Kontinuum, Faktoren, welche die Lebensaktivitäten beeinflussen können und Individualität im Leben) unter Einbeziehung des Bereichs „mit existenziellen Erfahrungen des Lebens“ umgehen durchgeführt. Regelaufgaben für das Pflegepersonal in der Gerontopsychiatrie sind:
- allgemeine Pflege (z.B. Pflegedokumentation, Mobilisierung, Sicherstellung der Nahrungsaufnahme)
- spezielle Pflege (z.B. einzelfall- und gruppenbezogene Behandlungs- und Betreuungspflege, Gestaltung und Durchführung von Aktivitäten außerhalb der Station)
- mittelbar patientenbezogene Tätigkeiten (z.B. Therapie- und Arbeitsbesprechungen, Supervision, Stationsorganisation)
9 Rehabilitation
Rehabilitation für psychisch kranke Alte muss sich an humanen Wertbegriffen orientieren, die nicht auf die Arbeitskraft reduziert sind. Hier bietet sich für Maßnahmen und Zielsetzungen vor allem die Fähigkeit an, die normalen „Aktivitäten des täglichen Lebensvollzuges“ (Expertenkommission 1988) unter Einschluss von Freizeit und sozialen Aktivitäten wieder realisieren zu erlernen.
Durch rehabilitative Maßnahmen wird versucht, Folgeerscheinungen einer Erkrankung, wie sie sich im persönlichen und im sozialen Lebensraum manifestieren, soweit zu reduzieren, dass ein Leben im gewohnten Umfeld und die Wahrnehmung von Aufgaben wieder möglich sind. Mit Hilfe der ICIDH (International Classification of Impairment, Disabilities and Handicaps) kann der Symptomenkomplex Schädigung (Impairment), Fähigkeitsstörung (Disability) und Beeinträchtigung (Handicap) differenziert beschrieben werden (Jochheim und Matthesius 1995, S. 5 ff.).
Rehabilitationsmaßnahmen sind auch bei schwerstkranken Hochbetagten indiziert und können z.B. Schwerstpflegebedürftigkeit zumindest zeitlich verzögern. Eine ambulante Rehabilitation soll gegenüber einer stationären oder teilstationären grundsätzlich den Vorrang haben. Dies ist generell richtig, im Einzelfall sollte dies aber immer wieder ohne Ideologisierung auf Machbarkeit überprüft und mit den PatientInnen bzw. den Angehörigen besprochen werden. Abzuklären ist z.B., ob ein tragfähiges soziales Umfeld besteht, wie die Versorgungssituation für den Betroffenen ist, und ob eine Eigengefährdung besteht (Hirsch 1995, 1999).
10 Versorgung
Die Anzahl und die Einrichtungsformen der Altenhilfe und der Gerontopsychiatrie sind je nach Region sehr unterschiedlich. In kaum einer Region sind die Vorstellungen, wie sie in der Psychiatrie-Enquête von 1975 und von der Expertenkommission 1988 gefordert wurden, erfüllt. Die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Einrichtungen in einer Region ist derzeit noch abhängig von der Motivation der Mitarbeiter der Einrichtungen.
10.1 Ambulanter Bereich
Im ambulanten Bereich wird die Versorgung psychisch kranker Älterer primär durch niedergelassene Hausarztpraxen und die Sozialstationen bzw. ambulante Kranken- und Altenpflegedienste, sekundär durch NeurologInnen bzw. PsychiaterInnen und lückenhaft durch Sozialpsychiatrische Dienste gewährleistet. Nur in sehr geringem Umfang sind PsychotherapeutInnen einbezogen. Es bestehen Gerontopsychiatrische Ambulanzen bzw. Dienste, z.B. an Landes-(Bezirks-)krankenhäusern. Sie haben außer der Betreuung von Heimen, Ambulanzsprechstunden eher eine „Komm-Struktur“. Die meisten gerontopsychiatrischen Ambulanzen verfügen zudem über eine „Gedächtnissprechstunde“/„Memory-Clinic“, eine „psychotherapeutische Sprechstunde“ sowie Trauma-Ambulanz (Übersicht bei Hirsch 2020). Zudem finden überwiegend auch fachliche Beratungen für alte Menschen und deren Angehörigen statt sowie Unterstützungsangebote von weiteren Hilfsangeboten, die in einer Region vorhanden sind.
10.2 Teilstationärer Bereich
Gerontopsychiatrische Tageskliniken sind ein teilstationäres Behandlungsangebot, mit dem eine vollstationäre Behandlung ersetzt, verkürzt oder vermieden werden kann (Wächtler 1997). Seit 1991 hat die Anzahl der Tageskliniken erheblich zugenommen. Derzeit gibt es 40 Tageskliniken in der Bundesrepublik Deutschland (Hirsch 2020). Hinzu kommen „integrierte“ (Klinik- und TagesklinikpatienInnen gemeinsam auf einer Station) und „gemischte“ Tageskliniken, die auch jüngere PatientInnen versorgen. Teilweise kommt es zu sehr heterogenen Belegungen, wenn gerontopsychiatrische sowie auch geriatrische oder altersneurologische Erkrankungen in der Einrichtung bzw. auf der Station vorliegen.
Deutlich ist der Trend zu größerer Differenzierung des therapeutischen, speziell des psychotherapeutischen Angebotes. Depressive stellen die am häufigsten behandelte PatientInnengruppe dar. Zugenommen hat die Bereitschaft, Demenzkranke zu integrieren. Auch Abhängigkeitskranke werden vermehrt in den Tageskliniken behandelt.
10.3 Gerontopsychiatrisches Zentrum
Gerontopsychiatrische Zentren (GZ), die „als treibende Kraft der gerontopsychiatrischen Versorgung“ bezeichnet werden (Expertenkommission 1988) gibt es derzeit 40 (Hirsch 2020), weitere sind im Aufbau. Gerontopsychiatrische Zentren bestehen aus einer Ambulanz bzw. einem ambulanten Dienst, einer Tagesklinik und Altenberatung. Hinzu kommen für eine Versorgungsregion wichtige übergeordnete Tätigkeiten (Fortbildungsveranstaltungen, Fallbesprechung, Beratung von Alteneinrichtungen). Durch die Arbeit eines GZs wird die Versorgung psychisch kranker alter Menschen erheblich verbessert (Hirsch et al. 1999).
10.4 Klinisch-stationärer Bereich
Die klinisch-stationäre Behandlung findet in gerontopsychiatrischen Abteilungen von Landes- bzw. Bezirkskrankenhäusern und in psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern statt. Das Lebensalter (ab 60.-65. Lebensjahr) gilt als Kriterium für eine Aufnahme. Zu beobachten ist, dass zunehmend eher psychisch chronisch schwerstkranke (demente) und multimorbide PatientInnen in gerontopsychiatrische Abteilungen eingewiesen werden, akut psychisch kranke alte Menschen (z.B. depressive) eher in Universitätskliniken oder z.T. auch in somatischen Krankenhäusern. Ein Teil der PatientInnen wird mangels regionaler Behandlungs-Alternativen aufgenommen. Nach Abschluss der Behandlung können manche PatientInnen (eher chronisch psychisch und/oder somatisch Kranke) nur nach langen Wartezeiten entlassen werden, da z.B. noch auf Einrichtung einer Betreuung gewartet werden muss oder ein Heimplatz nicht gefunden werden kann. Psychotherapeutische bzw. Psychosomatische Kliniken erklären sich erst seit kurzem für psychisch kranke alte Menschen (z.B. bei Neurosen, oder Psychosomatosen) zuständig.
10.5 Heimbereich
Besonders schwierig ist die Situation der Altenheime und Altenpflegeheime. Überwiegend werden Hoch- und Höchstaltrige und chronisch psychisch und/oder körperlich kranke alte Menschen aufgenommen. Diese Einrichtungen haben sich zu – pointiert ausgedrückt – „Intensiv-Altenpflegeanstalten“ oder „Siechenhäusern“ entwickelt. Diese Einrichtungen werden fachärztlich von gerontopsychiatrischen Ambulanzen und von niedergelassenen NeurologInnen/​PsychiaterInnen konsiliarisch behandelt. Kritisch wird beobachtet, dass zwischen den gerontopsychiatrischen, geriatrischen und allgemeinmedizinischen/​internistischen Kliniken und der Altenhilfe „Verschiebebahnhöfe“ entstehen. Hinzu kommt, dass in nur wenigen Altenpflegeheimen in der Gerontopsychiatrie erfahrenes ärztliches Fachpersonal konsiliarisch tätig ist. Allerdings gibt es derzeit eine Reihe von „neuen Wohnformen“ (z.B. Wohngemeinschaften, Alterswohnungen).
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13 Informationen im Internet
- Deutsche Akademie für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie e.V.
- Deutsche Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie e.V.
- Institut für Alterspsychotherapie und Angewandte Gerontologie
Verfasst von
Prof. Dr. phil. Rolf D. Hirsch
Dr. med., Dipl.Psychol.
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