Geschichte der Sozialen Arbeit
Prof. Dr. Carola Kuhlmann
veröffentlicht am 04.11.2021
Die Geschichte der Sozialen Arbeit beschäftigt sich mit der Entstehung und Entwicklung der professionellen Hilfe für Menschen in sozial bedingten Notlagen. Dabei ist mit der Erzählung der Vergangenheit dieser Hilfen auch eine Interpretation der Ursachen von Veränderungen verbunden.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Von der mittelalterlichen Klosterfürsorge zur neuzeitlichen Armenpflege
- 3 Differenzierung der Anstalts- und Armenfürsorge im 19. Jahrhundert
- 4 Von den Sozialversicherungsgesetzen über die Kriegsfürsorge zur Wohlfahrtspflege (1900–1933)
- 5 Nationalsozialistische Volkspflege
- 6 Soziale Arbeit in der DDR
- 7 Soziale Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland (BRD)
- 8 Quellenangaben
- 9 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Geschichte ist mehr als die Sammlung vergangener Fakten, ihr Studium öffnet das „Gefängnis der Gegenwart“ (Lepore 2019, S. 16), indem sie diese erklärt. Geschichte hat darüber hinaus die Funktion „Orientierungen zu geben und Identitätsbildung zu ermöglichen“ sowie Zukunft in einer sich immer schneller wandelnden Welt gestaltbar zu machen (Jordan 2016, S. 216).
Die Geschichte Sozialer Arbeit kann erzählt werden als Praxis-, Theorie-, Methoden- oder Berufsgeschichte (zur Methodengeschichte z.B. Müller 2006; zur Berufsgeschichte z.B. Amthor 2016). Im folgenden Beitrag werden diese Ebenen skizzenhaft berücksichtigt, insbesondere aber die Entwicklung der Praxis. Die Geschichte Sozialer Arbeit wurde in der Vergangenheit erzählt als Geschichte großer Männer, die Hilfswerke schufen, als Sozial- oder Politikgeschichte, als Fortschritts- oder Krisengeschichte. Erst in letzter Zeit wird sie auch aus der Perspektive derer erzählt, die Hilfe (nicht) erfahren haben. Es gibt folglich bereits eine Geschichte der Geschichtsschreibung Sozialer Arbeit.
2 Von der mittelalterlichen Klosterfürsorge zur neuzeitlichen Armenpflege
Praktische Hilfen für mittellose, verwaiste, kranke oder alte Menschen gibt es (vermutlich), solange es Menschen gibt, die in größeren Gemeinschaften lebten. Sie gehörten damals wie heute in allen Weltreligionen zu den Menschenpflichten. Erste Institutionen für ökonomisch und sozial Bedürftige entstanden in Europa im Mittelalter. Es waren die kirchlichen Klöster und Findelhäuser bzw. die städtischen Spitäler oder Bürgerwaisenhäuser, die bedürftige Menschen aufnahmen.
2.1 Klosterfürsorge
In den Heilig-Geist-Klöstern fanden alle Gruppen von Menschen Zuflucht, die alleinstanden und nicht selbst für sich sorgen konnten. Die Klöster dienten jedoch nicht vorrangig diesem Zweck, sondern vor allem dazu, dass die Nonnen und Mönche ihre religiösen Gelübde erfüllen konnten. Der Alltag war daher auch für die dort lebenden Waisen, Kranken und Alten geprägt von Gebet und Arbeit. Die Ordensangehörigen (ver-)pflegten die Menschen und leisteten Seelsorge. In den Städten geschah dies häufig im Spital. Diese Einrichtungen waren zumeist Stiftungen reicher Bürger, für deren Seelenheil die dort Aufgenommenen beten sollten.
2.2 Almosenlehre
Theologisch reflektiert wurde die Pflicht zur Hilfe für Arme in der Almosenlehre des Thomas von Aquin (1225–1274). Armut stellte für ihn grundsätzlich einen Zustand dar, der von Gott mehr geachtet wurde als der Reichtum. Allerdings waren die Armen gefährdet, da aus der Armut eine existenzbedrohende Not entstehen konnte, die durch Almosen verhindert werden sollte. Christen waren zu diesen Almosen verpflichtet, sobald sie mehr besaßen, als sie brauchten. Denn: „Es ist das Brot eines Hungerleiders, das du zurückhältst, das Hemd eines Nackten, das du in deiner Schlafkammer verwahrst“ (Aquin, zit. n. Kuhlmann 2014, S. 18). Nach Aquin gab es sieben leibliche Almosen („den Hungrigen speisen, den Durstigen tränken, den Nackten bekleiden, den Fremden aufnehmen, den Kranken besuchen, den Gefangenen loskaufen, den Toten begraben“) und sieben geistige („den Unwissenden lehren, den Zweifelnden beraten, den Traurigen trösten, den Sünder bessern, dem Beleidiger nachlassen, die Lästigen und Schwierigen ertragen und für alle beten“, zit. n. Kuhlmann 2014, S. 17).
2.3 Findelhäuser
Um die vielen Kindstötungen und Abtreibungen dieser Zeit zu verhindern, wurden zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert zuerst von der Kirche (z.B. in Rom 1198) und später von den Städten (z.B. Köln 1341) „Findelhäuser“ errichtet. Ungewollte Kinder konnten dort anonym in eine „Drehlade“ gelegt werden (der heutigen „Babyklappe“ entsprechend). Diese speziellen Einrichtungen waren notwendig, da Findelkinder wegen ihrer unklaren Herkunft in manchen Klöstern und in den städtischen Waisenhäusern keine Aufnahme fanden.
2.4 Organisierte Armenpflege der Städte
In der Neuzeit wurde die mittelalterliche Almosenlehre durch eine neuzeitliche Auffassung von einer organisierten, kommunalen Armenfürsorge verdrängt. Juan Luis Vives (1492–1540) forderte in seinem Buch „Über die Unterstützung der Armen“ die Verantwortlichen in den Städten, insbesondere die Reichen, dazu auf, Schwächere zu beschützen sowie Unterdrückung und Unrecht zu vermeiden. Dies sei auch im Eigeninteresse jener Personen, da unterlassene Hilfen zu Diebstählen, Raubüberfällen, Bürgerkriegen oder Seuchen führen könnten. Allerdings sollten nicht alle Armen Unterstützung erhalten. „Spielern“ und „Huren“ Geld zu geben, sei wie „Stroh ins Feuer zu werfen“ (Vives, zit. n. Kuhlmann 2014, S. 23). Mit der Unterscheidung in „würdige“ und „unwürdige“ Arme führte Vives eine Grenzziehung ein, die im weiteren Geschichtsverlauf und bis heute relevant ist, auch wenn sich die Begründungen historisch änderten (in der NS-Zeit war es bspw. die sog. „Erbkrankrankheit, bzw. -gesundheit“, die über die Unterstützungswürdigkeit entschied).
Nach Vives sollten Kranke und Alte in Spitälern gepflegt, ausgesetzte Kinder aufgezogen, geistig Behinderte und Blinde verwahrt werden. Die sog. Hausarmen sollten regelmäßig durch Ratsherren besucht werden, Erkundigungen über ihre Bedürfnisse und ihr Verhalten durch Nachfragen im sozialen Umfeld eingeholt werden. Würdige Arme sollten gespeist und ihre Kinder unterrichtet werden; fremde Bettelnde in ihre Heimatgemeinde geschickt werden, es sei denn, es herrschte dort Krieg (Vives, zit. n. Kuhlmann 2014, S. 23).
Für die „unwürdigen“ Armen entstanden in der Neuzeit Arbeits- und Zuchthäuser (z.B. Bremen 1604, Lübeck 1605 und Hamburg 1622). Hier wurden herumziehende, bettelnde Menschen mit ihren Familien neben Straffälligen untergebracht. Sie mussten harte körperliche Arbeiten verrichten, z.B. Maschinen in „Tretmühlen“ antreiben oder Holz „raspeln“. Die „Faulen“ und „Ungehorsamen“ wurden durch Essensentzug und Prügel bestraft (Sachße und Tennstedt 1983, S. 46 ff.). Die Weck-, Bet- und Mahlzeiten waren streng festgelegt, die Geschlechter getrennt, die Haare geschoren, Fluchen und Schwören war verboten (a.a.O., S. 105 f.).
2.5 Pietistisch motivierte Armen- und Waisenpflege
Neben den staatlichen und kommunalen Institutionen der Armenpflege entstanden zu dieser Zeit auch kirchliche – initiiert durch den Pietismus, einer religiösen Gegenbewegung zum Rationalismus im lutherischen Protestantismus. Besonders die Theologen Philipp Jacob Spener (1635–1705) und August Hermann Francke (1663–1727) waren hier entscheidend: Spener in Frankfurt (Reform des Armenwesens, Gründung des Armen- und Waisenhauses), Francke in Halle (Hallische Anstalten). Betteln war nach pietistischer Überzeugung eine Sünde, der durch verordnete Zwangsarbeit begegnet und die bei Kindern mit regelmäßigem Schul- und Religionsunterricht verbunden werden sollte.
Die pietistische Anstaltsversorgung ging dabei häufig mit der „Hausarmenpflege“ einher, also einer „ambulanten“ Unterstützung und Kontrolle armer Familien und ihrer Kinder. Im Bereich der Jugendfürsorge fanden diese Arbeitshäuser ihre Entsprechung in den Spinnhäusern und Industrieschulen des späten 18. Jahrhunderts (Göttingen 1784, Hamburg 1788), in denen die Elementarbildung armer Kinder mit einer Erziehung zu Fleiß und Arbeitsfähigkeit verknüpft wurde.
2.6 Bürgerwaisenhäuser
Im Unterschied zu diesen Erziehungsanstalten für arme Kinder stellten die „Bürgerwaisenhäuser“ eine Versorgungseinrichtung für Kinder des Stadtbürgertums dar, die in Folge von Kriegen, Hungerkrisen und Pestepidemien elternlos geworden waren (Köln 1522, Lübeck 1547, Hamburg 1604). Finanziert wurden sie durch Stiftungen reicher Bürger (Kuhlmann 2014, S. 27 ff.).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ein Wandel stattfand, der für die weitere Entwicklung entscheidend war. Nicht nur die materielle Versorgung, sondern auch die Veränderung der psychischen Verfassung der Armen wurde durch diejenigen, welche die Anstalten stifteten und betrieben, beabsichtigt. In der Neuzeit wurde diese Veränderung durch „Erziehung“ vollzogen, worunter damals Unterwerfung und Disziplinierung sowie Gewöhnung an Arbeit und „Sittlichkeit“ verstanden wurde.
3 Differenzierung der Anstalts- und Armenfürsorge im 19. Jahrhundert
Während sich die vormodernen Anstalten in der Regel auf Versorgung und „Zucht“ (Kontrolle) beschränkten, wird im Umbruch zur Moderne (Zeitalter der Aufklärung, Aufhebung der Leibeigenschaft) gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Frage nach sozialer Gerechtigkeit und solidarischer Hilfe offen verhandelt.
3.1 Industrialisierung und „soziale Frage“
In dieser Zeit entwickelte sich schließlich die Soziale Arbeit als eine der Antworten auf die entstehende „soziale Frage“, die durch die Industrialisierung in der frühen Phase der kapitalistischen Wirtschaft entstand. Das Leben vieler Menschen veränderte sich. Wenn sie vom Land in die Stadt zogen, verloren sie soziale Bezüge und die – wenn auch dürftige und durch Missernten gefährdete – Versorgung, die sie als „Leibeigene“ erhalten hatten. „Freie“ Lohnarbeiter*innen wurden bei Krankheit, Schwangerschaft oder im Alter nicht ernährt, denn Unternehmer hatten kein Interesse an einer derartigen Unterstützung, da Arbeiter*innen schnell ersetzbar waren. Für die Städte und Gemeinden war diese soziale Unsicherheit eine ständige Belastung. In Wuppertal/​Elberfeld wurde bspw. 1830 die Hälfte des städtischen Etats für die Armenpflege ausgegeben. Die Verelendung der Menschen wurde im 19. Jahrhundert kontrovers diskutiert. Manche sahen die Ursache vorwiegend in den ökonomischen (Karl Marx), andere in den „sittlichen“ (Johann H. Wichern), pädagogischen (Karl Mager) oder patriarchalen Verhältnissen (Henriette Schrader-Breymann) (Kuhlmann 2014, S. 31 ff.).
In der preußischen Städteordnung wurden ab 1808 Armenkommissionen mit amtlichen und ehrenamtlichen Mitgliedern vorgeschrieben. Nach dem „Elberfelder System“ führten die Ehrenamtlichen in dem Bezirk, in dem sie wohnten, Hausbesuche durch, um Arme zu beaufsichtigen und Bedarfe zu prüfen. Sie vermittelten Krankenhaus- und Waisenhausaufenthalte, freie Begräbnisse, Schuldenerlasse oder Nahrungsmittel (Wendt 1995, S. 129). Da dieses Ehrenamt Männern vorbehalten war, entstanden daneben private Vereine für die Armenpflege von Frauen, z.B. der 1832 von Amalie Sieveking in Hamburg gegründete „Weibliche Verein für Armen- und Krankenpflege“.
3.2 Asyle für „Irre“, „Idioten“ oder Trinker
Im 19. Jahrhundert kamen zu den Arbeits- und Zuchthäusern Rettungshäuser, Trinkerasyle und Pflegeanstalten hinzu – in England und den USA auch Settlements (Häuser in Armenvierteln, in denen wohlhabende und gebildete Menschen wohnten und kulturelle sowie soziale Hilfen anboten). Diese Settlements gelten als Geburtsstunde der Gemeinwesen-, bzw. Quartiersarbeit (Müller 2006, S. 36 ff.).
Psychisch kranke oder behinderte Menschen wurden ab dem 19. Jahrhundert zunehmend nicht mehr in „Narrentürme“ gesperrt, sondern in „Irren- bzw. Idiotenanstalten“ untergebracht, in denen sie durch medizinisches, vor allem aber pflegerisches Personal versorgt wurden, das häufig geistlichen Orden angehörte. Ähnlich war es in den sog. „Trinkerasylen“, in die alkoholkranke Menschen eingewiesen wurden (die Möglichkeit, Branntwein, „Kartoffelschnaps“, industriell und damit billig herzustellen, hatte zu einer deutlichen Zunahme suchtabhängiger Arbeiter*innen geführt).
3.3 Zucht- und Arbeitshäuser
Die genannten Personengruppen konnten aber bei Verhaltensauffälligkeiten oder Kriminalität auch im Gefängnis, vor allem aber weiterhin in Zucht- oder Arbeitshäusern eingesperrt werden (letztere wurden in der BRD erst 1969, in der DDR 1979 abgeschafft). Sie waren im Gegensatz zum Gefängnis nicht nur dazu da, Straftaten zu ahnden, sondern auch um Bettler*innen und Landstreicher*innen, Ehebrecher*innen und Prostituierte einer zwangsweisen Arbeit zuzuführen (Kuhlmann 2014, S. 52 ff.). Zunächst lebten auch Kinder und Jugendliche mit den Erwachsenen in diesen Anstalten, aber Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich die Erkenntnis durch, dass bei ihnen Erziehung vor Strafe stehen sollte, sodass im Rahmen der „Zwangserziehung“ (ab 1900 „Fürsorgeerziehung“) die privaten, von christlichen Vereinen getragenen „Rettungshäuser“ durch den Staat belegt wurden.
3.4 Rettungshäuser
Das bekannteste Rettungshaus war 1833 durch den evangelischen Pfarrer Johann H. Wichern in Hamburg gegründet worden. Im Rahmen der „Rettungshausbewegung“ folgte die Gründung hunderter solcher Einrichtungen, bald auch von katholischer Seite. Viele dieser im 19. Jahrhundert gegründeten Einrichtungen bestehen bis heute (die meisten haben sich erst während der Heimreform ab den 1970er-Jahren von der Anstaltserziehung hin zu einer Erziehung in Wohngruppen verändert).
3.5 Kinderbewahranstalten und Kindergärten – geistige Mütterlichkeit
Kinderbewahranstalten und Kindergärten entstanden, um Kinder zu betreuen, deren Eltern zur Zeit der Industrialisierung gezwungen waren, außerhalb des Hauses zu arbeiten. Im Gegensatz zur Bewahranstalt hatte der Kindergarten dabei einen pädagogischen Anspruch, den Friedrich Fröbel in seinen Schriften ausformulierte. Spielerisch sollten die Kinder an Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften herangeführt werden, da er auch das Kleinkind als bildungsfähig ansah. Die Kindergartenbewegung verbreitete diese Idee und die Großnichte Fröbels, Henriette Schrader-Breymann, eröffnete 1874 das Pestalozzi-Fröbelhaus in Berlin, die erste sozialpädagogische Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen. Ihr Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ (1863) wurde als ethisches Prinzip einer helfenden Tätigkeit verstanden, das den Frauen qua Geschlecht ein von Männern nicht zu leistendes fürsorgerisches Verhalten zuschrieb. Dieses Konzept prägte bis zur Jahrhundertwende die erste Generation der Frauenbewegung. Das veränderte Konzept der „sozialen Mission“ (Alice Salomon 1900) stellte dagegen – Jahrzehnte später – weit darüberhinausgehende politische Ansprüche und forderte u.a. Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen armer Frauen und Kinder, die häufig in „doppelter Abhängigkeit“ (Salomon, zit. n. Kuhlmann 2000, S. 264) von Arbeitgebern und Ehemännern lebten.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich im 19. Jahrhundert die Soziale Arbeit aus staatlichen und privaten (Vereins-)Aktivitäten entwickelte, die ambulant, vor allem aber in Anstalten, stattfanden. In den Anstalten waren Hilfe und Kontrolle untrennbar miteinander verbunden. Unerkannt blieb bis in die 1970er-Jahre, dass viele Auffälligkeiten der „Insassen“ systematisch durch die Wirkweisen der Anstalten produziert wurden, da sie als Objekt behandelt und gedemütigt wurden (Goffman 1973, S. 25). In der kommunal finanzierten Armenpflege stand ebenfalls der Disziplinierungsaspekt im Vordergrund, während die vielfältigen sozialen Bewegungen (Sozialreform-, Frauen-, Arbeiter-, Jugendbewegung) mit ihren privaten Hilfs- und Unterstützungsvereinen gegen Ende des Jahrhunderts auch den Solidargedanken stärkten.
4 Von den Sozialversicherungsgesetzen über die Kriegsfürsorge zur Wohlfahrtspflege (1900–1933)
Einen Meilenstein in der Entwicklung der Sozialen Arbeit bedeuteten die Sozialversicherungs- und Arbeitsschutzgesetze:
- 1839 Verbot der Kinderarbeit im Bergbau und Fabriken
- 1878 Fabrikinspektion und erste Mutterschutzbestimmungen
- 1883 Kranken-, 1884 Unfall-, 1889 Invaliditäts- und Altersversicherung
- 1904 Verbot von Kinderarbeit in Handwerk, Handel und Lastdienst
- 1900 Verpflichtung unehelicher Väter zur Alimentenzahlung
- 1911 Angestellten-, Witwen- und Waisenversicherung
- 1927 Arbeitslosenversicherung.
Diese Versicherungsleistungen sorgten dafür, dass viele soziale Risiken nun nicht mehr eine Abhängigkeit von der Armenpflege zur Folge hatten. Es bedeutete aber auch, dass zunehmend Fachkräfte gebraucht wurden, die diese Gesetze und Ansprüche kannten und durchsetzen konnten, da dies bei Menschen in sozialen Notlagen häufig nicht der Fall war.
4.1 Gründung sozialer Frauenschulen
Erste Kurse für „soziale Hilfskräfte“ entstanden im Zusammenhang mit der Frauenbewegung und der Bewegung für soziale Reform (1899 „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ unter Leitung von Alice Salomon in Berlin), aber auch in christlichen Vereinen (1904 Frauenschule der Inneren Mission Berlin) (Reinicke 2012, S. 140 ff.). 1917 rief Alice Salomon die „Nationale Konferenz der Sozialen Frauenschulen“ gemeinsam mit elf weiteren Schulleiterinnen ins Leben, um eine Vereinheitlichung des Lehrplans, der Ausbildungsmethoden, der Stellenvermittlungen, Gehälter und die staatliche Anerkennung des Berufs zu erreichen, was 1918 gelang. 1925 war die Zahl aller Schulen auf 27 gestiegen (1945 gab es im Deutschen Reich insgesamt 73) (ebd.).
4.2 Erster Weltkrieg
Ein wesentlicher Faktor für die Ausbreitung der Sozialen Frauenschulen stellte der erste Weltkrieg und seine Folgen dar. Frauen sollten die „Heimatfront“ verteidigen. Dazu gehörte die Krippenversorgung für Munitionsarbeiterinnen, die Fürsorge für Kriegswitwen und -waisen wie auch die sog. Kriegskrüppelfürsorge. Mit der Verschlechterung der Lebenslagen, die nun auch die Mittelschicht betraf, veränderte sich die Armenpflege hin zu einer „Kriegsfürsorge“. Vor 1914 hatten diejenigen, die Armenunterstützung bekommen hatten, nicht nur das Wahlrecht, sondern auch das Recht auf Freizügigkeit verloren und waren verpflichtet, die Unterstützung zurückzuerstatten. Nun wurden Leistungen geschaffen, die diese Bedingungen aussetzten und sich nicht nur am Lebensnotwendigen orientierten, sondern den Erhalt des bisherigen Lebensstandards zum Maßstab haben sollten. Bereits 1915 war ein Drittel der deutschen Familien von staatlichen Hilfen abhängig (Sachße und Tennstedt 1988, S. 52). Allerdings fehlte in vielen Kommunen das Geld, sodass die Unterstützung häufig in Naturalien, Kleidungsspenden und Volksküchen gegeben wurde (Lindemann 1917, S. 65 f.).
4.3 Von der Armen- zur Wohlfahrtspflege
Zwei Millionen tote Soldaten und mehr als vier Millionen Kriegsversehrte gab es 1918, d.h. fast jeder zweite Soldat starb oder wurde verwundet. So fehlte in vielen Familien auch nach dem Krieg das Familieneinkommen, weshalb die Kriegsfürsorge weiter Bestandteil der öffentlichen Fürsorge blieb. Dies trug dazu bei, dass aus der verachteten Armenfürsorge eine Pflege der „Wohlfahrt“ der Bevölkerung wurde. Daneben hatten die Gesundheitsfürsorge (Tuberkulose-, Geschlechtskranken- und Trinkerfürsorge), aber auch die Jugend- und die Wohnungsfürsorge im Krieg eine bevölkerungspolitische Bedeutung erhalten, die ebenfalls über 1918 hinaus Bestand hatte. Die „unerwartet großer Zahl der Kriegsbeschädigten“ – so im „Handwörterbuch der Wohlfahrtspflege“ von 1924 nachzulesen – zog die Notwendigkeit umfassender Hilfen nach sich, da sich bei der gewünschten Eingliederung ins Wirtschaftsleben „beträchtliche Schwierigkeiten“ (Richter 1924, S. 263) ergaben.
Um eine effektivere Hilfe im Rahmen dieser fürsorgerischen Tätigkeiten zu erreichen, wurde der bisherige Vorrang der „freien Liebestätigkeit“ eingeschränkt. Mit dem Ruf nach öffentlicher Kontrolle, Zentralisation und Vereinheitlichung der Wohlfahrtspflege wurde daneben auch die Forderung nach Professionalisierung lauter.
4.4 Weimarer Republik und die Familienfürsorge
Die dem Krieg und der Abschaffung der Monarchie folgende Weimarer Republik verstand sich als „Wohlfahrtsstaat“. Seinen Ausdruck fand dies insbesondere in den Gesetzen der Reichsfürsorgepflichtverordnung (1924) und dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG 1922), die allerdings weiterhin den nichtstaatlichen Wohlfahrtsverbänden (Diakonie, Caritas, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Rotes Kreuz) eine große Mitwirkungsmöglichkeit einräumten (Subsidiaritätsprinzip). In größeren Städten wurden in den neu geschaffenen Wohlfahrtsämtern nach 1918 vermehrt hauptberufliche Fürsorgerinnen eingestellt, die für den „Außendienst“ zuständig waren, d.h. das Aufsuchen und Überprüfen von Familien in Notlagen. Die „Familienfürsorge“ – wie sie von Marie Baum 1927 in ihrem gleichnamigen Buch konzeptioniert wurde – führte dazu, dass in vielen Kommunen die Spezialfürsorgen (z.B. die Säuglings-, Tuberkulose-, Wohnungs- oder Erwerbslosenfürsorge) aufgelöst und in eine „Familienfürsorge“ überführt wurden (dem heutigen Allgemeinen Sozialdienst ASD/KSD).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich Soziale Arbeit als Beruf durch die Sozialversicherungs- und Wohlfahrtsgesetze, das Engagement der Frauenbewegung und den ersten Weltkrieg etablierte. Der Beruf wurde als Frauenberuf verstanden, in konservativer Interpretation weiterhin als „geistige Mütterlichkeit“, in feministischer Vorstellung als Tätigkeit angesehen, die den „Männerstaat“ reformieren sollte, da sich dieser für die Schwächeren der Gesellschaft weniger engagierte als für Militär und Wirtschaft (Salomon, zit. n. Kuhlmann 2000, S. 280 ff.).
5 Nationalsozialistische Volkspflege
Die Nationalsozialisten ergriffen 1933 sofort Maßnahmen, die den Bereich der Wohlfahrtspflege (sozial-)rassistisch umorganisierten. Rücksicht auf Schwächere sollte in ihrem Konzept der „Volkspflege“ nur genommen werden, wenn eine Aussicht auf Heilung oder Erziehung zu ihrer Ideologie bestand. Die Weimarer Wohlfahrtspflege wurde für ihre „liberale“ Haltung kritisiert, da sie „Erbkranke“ angeblich ermutigt hätte, sich zu vermehren. Daher wurde schon 1933 das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, bei dem es auch eine Kategorie des „moralischen Schwachsinns“ gab. Sog. „Erbsäufer“, Prostituierte, Kriminelle und Fürsorgezöglinge wurden unter Mitwirkung von „Volkspflegerinnen“ zwangssterilisiert. Neue Ausbildungsverordnungen setzten das Fach „Rassenkunde“ und die Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung auf den Stundenplan der nun „Volkspflegeschulen“ genannten Ausbildungsstätten. Christlich orientierte Fürsorgerinnen sollten nach Ansicht von Hermann Althaus, Amtsleiter für Wohlfahrtspflege und Jugendhilfe im Hauptamt für Volkswohlfahrt der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), nachgeschult werden, da sie an den „einmaligen persönlichen Wert jedes Individuums vor Gott“ glaubten. Dagegen sei die nationalsozialistische Volkspflege der Auffassung, dass nicht die religiöse Haltung oder die Umweltbedingungen, sondern die „Erbanlage die Menschen ungleich in ihrem Wert für das Wohl des Ganzen macht“ (Althaus, zit. n. Kuhlmann 2014, S. 95).
Die Nationalsozialisten gründeten auch einen eigenen Wohlfahrtsverband, die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), der sich auf die sog. Erbgesunden konzentrieren sollte und insbesondere in der Mütterberatung, Familien- und Säuglingspflege aktiv wurde. Mütter sollten dazu erzogen werden, eine „Frontstellung“ gegenüber ihren Kindern einzunehmen (Haarer 1934, zit. n. Kuhlmann 2012, S. 94).
5.1 Sozialrassismus
Die Empfänger*innen von kommunalen Unterstützungsleistungen wurden überprüft, ob sie zu den „Asozialen“ gehörten. Hierzu wurden „Sippentafeln“ in den Ämtern angelegt, die Verhaltensauffälligkeiten (wie Selbstmord, Psychiatrie- oder Gefängnisaufenthalte sowie „Arbeitsbummelei“) bis zu den Großeltern ebenso wie die „Rasse“ erfassten. Jüdische Mitbürger*innen sowie Sinti und Roma wurden von Leistungen ausgeschlossen, „Asoziale“ ab 1936 in Konzentrationslager eingewiesen, in denen sie einen schwarzen Winkel tragen und Zwangsarbeit verrichten mussten.
Neben den „Asozialen“ wurden die psychisch kranken und behinderten Menschen in der nationalsozialistischen Propaganda als „Ballastexistenzen“ diffamiert, insbesondere dann, wenn sie nicht zur Arbeit eingesetzt werden konnten und so keinen „Nutzen“ hatten.
5.2 „Euthanasie“
Im Rahmen der geplanten und später „wilden Euthanasie-Aktionen“ wurden über 250.000 Erwachsene und Kinder der sog. Irren- oder Idiotenanstalten bzw. Landesheil- und Heilerziehungsanstalten vergast oder vergiftet. Diese Krankenmorde fanden sowohl auf Transporten wie auch in eigens dafür umgerüsteten Tötungsanstalten (z.B. in Hadamar) statt (allgemein zur Euthanasie Klee 2004). Nur wenige Anstaltsleitungen verweigerten ihre Kooperation bei der Erfassung der „unheilbaren“ und nicht arbeitsfähigen behinderten Menschen. Sehr vereinzelt gab es aber Proteste von evangelischen und katholischen Geistlichen (so bereits 1940 vom Domprobst Bernhard Lichtenberg, vom evangelischen Pastor Paul Gerhard Braune und 1941 vom Bischof Clemens August von Galen). Daher wurden schließlich die geplanten Aktionen Ende August 1941 eingestellt, inoffiziell wurde aber weiter gemordet. Viele behinderte und psychisch kranke Menschen starben zudem im Zweiten Weltkrieg an Unterernährung.
5.3 Fürsorgeerziehung und Jugendkonzentrationslager
Im Bereich der Jugendhilfe wurde der Verwahrungs- und Strafaspekt gegenüber dem Erziehungs- und Bildungsgedanken dominant, insbesondere im Bereich der „Fürsorgeerziehung“. Hier wurde in den neu geschaffenen „Beobachtungsheimen“ in „erbgesunde Erfolgsfälle“ und „erbgeschädigte Nichterfolgsfälle“ unterschieden, wobei „erfolgreiche“ Erziehung mit Erbgesundheit gleichgesetzt wurde (Kuhlmann 1989, S. 128). Für die „Erbbelastung“ gab es jedoch lediglich Verhaltensbeobachtungen als Beweis. Unangepasstes Verhalten oder psychische Auffälligkeiten als Folge traumatischer Kindheitserlebnisse wurden so in genetisch bedingte Krankheit umgedeutet. Sog. „Unerziehbare“ kamen in Jugendkonzentrationslager (a.a.O., S. 202 ff.). Daneben errichtete die NSV sog. Jugendheimstätten für die „erbgesunden“ Fälle, d.h. für diejenigen, die sich den neuen gesellschaftlichen Normen entsprechend verhielten.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Klient*innen der Sozialen Arbeit in allen Bereichen in wertvolle „Brauchbare“ (mit Hilfeanspruch) und minderwertige „Unbrauchbare“ unterteilt wurden. Letztere wurden, sofern „bösartig“ (kriminell, „asozial“, „unerziehbar“) den Konzentrationslagern, sofern „krank“ (unheilbar, behindert) einer Medizin ausgeliefert, die ihre Vernichtung plante und durchführte. In den erzieherischen Bereichen der Sozialen Arbeit (Mütterberatung, Jugendpflege) setzten sich rigide Muster der Erziehung zum Gehorsam, zur Härte und zur unauffälligen Eingliederung in die „Volksgemeinschaft“ durch. Dabei war die nationalsozialistische „Volkspflege“ nur oberflächlich betrachtet ein Rückfall in die „Barbarei“, vielmehr offenbart sie die Barbarei eines Fortschrittdenkens, in dem nur nützliche und vernünftige Menschen einen Wert haben (Bauman, zit. n. Kuhlmann 2012, S. 93).
6 Soziale Arbeit in der DDR
Nach Kriegsende wurde Deutschland in verschiedene Besatzungszonen aufgeteilt. Die Ostzone, die von der russischen Armee besetzt war, wurde 1949 zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und verfolgte ab 1951 den „Aufbau des Sozialismus“ nach der Doktrin Josef Stalins. Wohlfahrts- oder Volkspflege wurden im Sozialismus als überholt betrachtet, da es in der sozialistischen Planwirtschaft weder Arbeitslosigkeit noch Armut und – so der Fehlschluss – auch keine sozialen Probleme geben konnte (Kuhlmann 2014, S. 114 ff.).
6.1 Umgang mit „Asozialen“
Wenn Kinder, Jugendliche oder Erwachsene abweichendes Verhalten zeigten, wurde dies auf Einflüsse des „Westens“ zurückgeführt, als Übergangsphänomene behandelt und rigide durch Einweisung in Arbeitshäuser oder Jugendwerkhöfe bestraft (Zimmermann 2004, S. 240 ff.). Punkerinnen und Punker, „Tramps“ („Vagabunden“) und „Beatler“, „Ausreisewillige“, Drogenabhängige, Homosexuelle, Eltern, die ihre Kinder vernachlässigten, und „Unterhaltsverletzer“ wurden nach dem „Asozialenparagraphen“ von 1968 in diese Einrichtungen bzw. in Psychiatrien zwangseingewiesen und mussten Zwangsarbeit verrichten (Willing 2008, S. 316).
6.2 Entprofessionalisierung
Fürsorgerinnen gab es weiterhin, sie wurden vorwiegend im Gesundheitswesen eingesetzt und hatten präventive und begleitende Aufgaben in Schulen und Betrieben (bspw. bei Impfungen). Kranke, Arbeitsunfähige, Mütter kleiner Kinder sowie Kriegsverletzte, Witwen, Waisen und Flüchtlinge aus den früheren deutschen Gebieten konnten laut Staatsverfassung „Sozialfürsorge“ erhalten. Diese Unterstützungsleistung sollte aber zugunsten einer sozialistischen Arbeits- und Sozialpolitik zurückgedrängt werden. Über die Gewährung von Unterstützungsleistungen urteilten in der DDR mit Ehrenamtlichen besetzte Sozialkommissionen – eine Wiederbelebung des Elberfelder Systems, diesmal mit parteipolitischer Prägung durch die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). Aus Angst als „asozial“ zu gelten, ließen sich viele in Betrieben einstellen. Dies war in den volkseigenen Betrieben auch eher möglich, insbesondere für behinderte Menschen, da hier die Produktivität der Arbeitskraft trotz gegenteiliger Propaganda im Alltag wenig Relevanz hatte.
6.3 Staatliche Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“
Kindergärten und Erziehungsheime wurden der Zuständigkeit des Volksbildungsministeriums unterstellt, das Erziehungsziel staatlich vorgegeben. Es sollte eine Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“ stattfinden, die sich insbesondere durch eine widerspruchslose Treue zur SED auszeichnete. Denn obwohl die DDR sich demokratisch nannte, gab es weder freie Wahlen noch eine demokratische Mitverwaltung. Planwirtschaftliche Veränderungen fanden auch in pädagogischen „Betrieben“ statt. In diesem Sinne definierte Eberhard Mannschatz (später einziger Professor für Sozialpädagogik an der Humboldt-Universität Berlin) die Erziehung in diesen Betrieben als einen geplanten Prozess, in dem „bewusst und zielgerichtet von außen“ auf das Kind eingewirkt werde. Dies setze die „führende Rolle des Erziehers“ (Mannschatz 1951, S. 20) voraus. In Anlehnung an den Kollektivpädagogen Anton S. Makarenko bedeutete die Erziehung im Kollektiv zwar auch Mitverwaltung der Kinder und Jugendlichen, aber nur wenn diese der Arbeits- und Schuldisziplin sowie den rigiden Mode- und Kulturvorschriften nicht widersprach.
Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass es wie in der BRD auch in der DDR unbewältigte Kontinuitäten der „Volkspflege“ gab. Die Orientierung am Kollektiv hatte daher noch lange eine Nähe zur Volksgemeinschaftsideologie der Nationalsozialisten. In beiden Systemen ging es daneben um den „neuen Menschen“, der nur im Kampf gegen andere, gegen eine Rasse oder Klasse entsteht. Auch die Glorifizierung der „Arbeiter“ und des Militärs, die Ablehnung der „Intellektuellen“ sowie die Stigmatisierung und Verfolgung der „Arbeitsscheuen“ wurde weitergeführt (letzteres hatte bereits eine längere Tradition, s.o.). Allerdings darf mit diesen ideologischen Kontinuitäten auf keinen Fall die NS-Zeit mit der DDR-Zeit auf eine Stufe gestellt werden, da das Menschenbild der SED nicht rassistisch und auch das Ausmaß der Verbrechen in der NS-Zeit sehr viel größer war (Holocaust, Euthanasie, Zweiter Weltkrieg). Nach Willing ist die Fürsorge der DDR am besten mit dem Wort „vormundschaftlicher Wohlfahrtsstaat“ (Willing 2008, S. 3) beschrieben, da die Grundversorgung der Menschen als Angelegenheit des Staats aufgefasst wurde.
7 Soziale Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland (BRD)
Disziplin, Gehorsam und das Konzept der „Asozialität“ bildeten auch in den Westzonen und der 1949 gegründeten BRD noch lange den Wertehorizont, an dem sich Soziale Arbeit orientierte. Daher kann für beide deutsche Staaten von einer Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität zur NS-Zeit gesprochen werden, die sich allerdings unterschiedlich abbildete.
7.1 Reeducation und Casework
Ab den 1960er-Jahren liberalisierte und demokratisierte sich die Gesellschaft der BRD und mit ihr die Soziale Arbeit langsam. Hierzu trug die Reeducation von Fachkräften durch die westlichen Besatzungsmächte und das in diesem Rahmen vermittelte Konzept von „Casework“ bei. Casework war mehr als eine Methode, weil in ihr auch psychoanalytische Deutungsmuster berücksichtigt und ethische Prinzipien formuliert wurden: die Achtung für die menschliche Persönlichkeit, die Notwendigkeit der aktiven und selbstverantwortlichen Beteiligung der Hilfeempfänger*innen, die Anerkennung menschlicher Verschiedenheit und die Selbstreflexion der Fachkräfte (Kuhlmann 2014, S. 110 ff.). Die Lehre vom Casework war vor allem eine der professionellen, aber partnerschaftlichen Beziehungsgestaltung, in deren Zentrum Ermutigung, Beratung, Informationsvermittlung, Grenzsetzung und Konfrontation mit der Realität sowie Gelegenheiten zum „emotionalen Abreagieren“ (Kamphuis 1965, S. 46) stehen sollten.
7.2 Antikapitalistische Sozialarbeit
In den 1970er-Jahren wurde die Soziale Arbeit stark von der 68er-Bewegung beeinflusst, u.a. weil die aus den Wohlfahrts- und Jugendleiterinnenschulen 1971 neu entstehenden „Fachhochschulen für Sozialarbeit/​Sozialpädagogik“ viele sozial engagierte Studierende anzog. Die 68er-Bewegung orientierte sich hauptsächlich an neomarxistischen und teilweise auch an psychoanalytischen Theorien. Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgruppe wurde dementsprechend nicht mehr wie im konservativen Konzept als persönliche Schwäche (des Willens oder der Gene) gedeutet, sondern als Folge von Ausgrenzungsprozessen, die durch die kapitalistische Gesellschaftsordnung systematisch produziert wurden. Casework wurde als individualisierende Methode abgelehnt, vielmehr sollte Gemeinwesenarbeit sie ablösen (Hollstein und Meinhold 1971, S. 208 ff.).
7.3 Neue soziale Bewegungen
Vielfältige soziale Bewegungen wirkten sich in der Folge auf die etablierten Praxen und Institutionen der sozialen Arbeit aus: die Heimkampagnen führten zur Entstehung der Jugendwohngemeinschaften in der Erziehungshilfe, die „Krüppelbewegung“ zu einer Ambulantisierung der Behindertenhilfe, die Kinderladenbewegung zur Demokratisierung der Kindergärten, die Frauenbewegung zur Entstehung der Frauenhäuser. Die Anti-Psychiatrie-Bewegung bereitete den Boden für die Sozialpsychiatrie mit Konzepten des betreuten Wohnens und im Gesundheitsbereich entstand die Selbsthilfebewegung (Franke-Meyer und Kuhlmann 2018). Mit dem Konzept der „Lebensweltorientierung“ (Thiersch 1992) gewann die Einzelfallhilfe wieder an Bedeutung und ein breiteres Konzept. Gemeinsam mit den als „Adressat*innen“ bezeichneten Klient*innen sollte ein für sie gelingenderer Alltag geschaffen werden, in dem sie sich von begrenzenden Bedingungen ihres Alltags emanzipieren können.
7.4 Von der Lebenswelt- zur Dienstleistungsorientierung
Das Ende der weltweit konkurrierenden Systeme Sozialismus und Kapitalismus nach 1990, der „Sieg“ des letzteren und die Wiedervereinigung in Deutschland führten schließlich erneut zu Veränderungen im Bereich der „Deutungsmuster“ sozialer Probleme und der Methoden ihrer Behandlung. Im Bereich sexueller oder anderer „Devianz“ entstand eine liberalere Haltung, die vielfältige Lebensweisen tolerierte. Soziale Arbeit verstand sich zunehmend als Dienstleistung. Kontrollmechanismen verschwanden nicht, wurden aber subtiler und der „Selbstregierung“ der Subjekte überlassen, die nun „aktiviert“ werden sollten. Durch die Hartz-IV-Gesetze von 2005 wurde die „Hilfe zur Arbeit“ nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und die Arbeitslosenhilfe nach dem Sozialgesetzbuch (SGB III) zusammengelegt. Das in der neuen Sozialgesetzgebung propagierte Konzept des „Forderns und Förderns“ wurde auch in anderen Bereichen der Sozialen Arbeit zum Schlagwort. Öffentlich finanzierte Hilfen im Bereich der Arbeitsförderung wurden an die Herstellung von Arbeitsbereitschaft und -fähigkeit gebunden. Dies hatte Folgen für diejenigen, die auf diese Weise nicht zu integrieren waren, die aber häufig Klient*innen der Sozialen Arbeit sind und nun zunehmend – im Vergleich zu den 1970er/​80er-Jahren – wieder selbst für ihr Scheitern verantwortlich gemacht wurden (Lessenich 2008, S. 88 f.). Die neuzeitliche Trennung in „Würdige“ und „Unwürdige“ (nicht zu Aktivierende) hat eine neue Interpretation erhalten und gehört damit zu den langfristigen Kontinuitäten im Bereich der Sozialen Arbeit.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Soziale Arbeit in Abgrenzung zur reinen Wohltätigkeit entstanden ist, später den menschenrechtsverletzenden Weg der „Volkspflege“ mitgegangen ist, sich (mehr oder weniger) erfolgreich von einer rein individualisierenden oder politisierenden Hilfe emanzipiert hat und sich heute international – auch als Folge dieser historischen Erfahrungen – als eine „Menschenrechtsprofession“ (Staub-Bernasconi 1995, S. 414) versteht.
8 Quellenangaben
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Verfasst von
Prof. Dr. Carola Kuhlmann
Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe
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Es gibt 2 Lexikonartikel von Carola Kuhlmann.
Zitiervorschlag
Kuhlmann, Carola,
2021.
Geschichte der Sozialen Arbeit [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 04.11.2021 [Zugriff am: 13.12.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/496
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Geschichte-der-Sozialen-Arbeit
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