Gesprächspsychotherapie
Prof. Dr. Mark Galliker
veröffentlicht am 02.06.2020
Bei der Gesprächspsychotherapie, die auf die Arbeiten von Carl Rogers (1902–1987) zurückgeht, handelt es sich um ein Psychotherapieverfahren, bei dem die Person und nicht das Problem zentral ist.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Menschenbild
- 3 Vertrauen in die Aktualisierungstendenz
- 4 Zentrierung auf Emotionen
- 5 Haltungen der helfenden Person
- 6 Grade des Verstehens
- 7 Bedingungen des therapeutischen Prozesses
- 8 Therapeutische Beziehung
- 9 Therapeutischer Prozess
- 10 Prozesskontinuum
- 11 Quellenangaben
- 12 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Die Gesprächspsychotherapie (GPT) gehört zu den Humanistischen Psychotherapieverfahren (HPT). Es handelt sich um jene Therapierichtung, die gemäß dem Personzentrierten Ansatz (PZA) von Rogers voll und ganz von der hilfesuchenden Person ausgeht. In der Frühphase ihrer Entwicklung wurde sie „non-directive psychotherapy“ genannt. Später wurde sie als Klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie und heute meistens als Personzentrierte Gesprächspsychotherapie bezeichnet (Näheres zur Begriffsentwicklung s. Eckert 2003, S. 141 f.).
Bei der GPT besteht die therapeutische Unterstützung darin, der hilfesuchenden Person zu helfen, dass sie sich selbst besser versteht und immer mehr von ihren Erfahrungen zulassen kann. Damit gelingt es dem Klienten oder der Klientin, von sich aus die Lösung psychischer Schwierigkeiten zu finden. Die helfenden Personen setzen keine Themen vor, verzichten auf Lenkung und geben auch in praktischer Hinsicht keine Ratschläge. Sie versuchen, die Selbstexploration der KlientIn zu intensivieren und zu erweitern. Dies geschieht in erster Linie durch aktives Zuhören.
2 Menschenbild
Zur HPT gehören einige recht unterschiedliche therapeutische Verfahrensweisen (neben der GPT u.a. die Gestalttherapie und das Psychodrama), die indessen eine Gemeinsamkeit aufweisen: Ihre GründerInnen distanzierten sich ab der Mitte des 20. Jahrhunderts sowohl von der Psychoanalyse als auch von der Verhaltenstherapie und schlugen eine dritte Vorgehensweise vor, in deren Zentrum das folgende Menschenbild steht:
- Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile, weshalb er ganzheitlich als Individuum und einzigartige Person angesehen wird.
- Menschen verfügen über eigene Ressourcen, zu denen sie ihre Zugangsmöglichkeiten verbessern können.
- Menschen sind autonome Wesen, die sich spontan verhalten, aber sich auch steuern können.
- Menschen verfügen über je besondere Potenziale, die sie auf ein sich selbst verwirklichendes Leben hin entfalten können.
Die HPT geht vom psychischen Wachstum in interpersonalen Kontexten aus. Ihre diversen Verfahren unterscheiden sich von der Psychoanalyse und der Verhaltenstherapie u.a. dadurch, dass sie nicht länger von „Defiziten“ oder von „psychischen Krankheiten“ der hilfesuchenden Personen ausgehen. Psychische Probleme beruhen auch nicht auf einem Mangel an Wissen, sondern auf Blockaden, die eher auf emotionalem als auf intellektuellem Wege aufzulösen sind.
3 Vertrauen in die Aktualisierungstendenz
Die HPT geht von den je „persönlichen Kraftquellen“ bzw. Ressourcen der KlientInnen aus. In der GPT ist die auch im infrahumanen Bereich wirksame Aktualisierungstendenz das einzige und als solches auch nicht hinterfragte Axiom. Nach dem PZA handelt es sich bei der Aktualisierungstendenz um die dem Organismus innewohnende Tendenz zur Entwicklung seiner Möglichkeiten. Der Aktualisierungstendenz gegenüber wird die Selbstverwirklichungstendenz nur bei Menschen als gegeben erachtet. Dieselbe ist also der Aktualisierungstendenz – phylogenetisch, ontogenetisch und dann auch praktisch sowie theoretisch – nachgeordnet.
GesprächstherapeutInnen vertrauen ganz und gar der Aktualisierungstendenz, d.h. sie versuchen in keiner Weise die KlientIn zu lenken. Sie verzichten darauf, alte Konflikte bewusst machen zu wollen wie in der Psychoanalyse oder „falsch gelernte“ Verhaltensweisen zu verändern, wie in der Verhaltenstherapie. Da die GesprächspsychotherapeutInnen vermeiden, ihre KlientInnen in eine bestimmte Richtung zu dirigieren, wurde der PZA auch als „nicht-direktiv“ verstanden (Rogers 1942). Die KlientIn benötigt niemanden, der ihre oder seine „Störungen“ und deren Hintergründe analysiert oder gar Ratschläge zur Lösung ihrer oder seiner Probleme erteilt. Die TherapeutInnen bieten ausschließlich ein günstiges Klima für die individuelle Selbstentfaltung. Sie unterstützen die KlientInnen in ihrem Bestreben, einen Zugang zu ihren Ressourcen zu finden bzw. in ihrem fortwährenden Streben nach Selbstverwirklichung.
4 Zentrierung auf Emotionen
In einer GPT schenkt die helfende Person primär den emotionalen, aber auch den gedanklichen Inhalten der Äußerungen der hilfesuchenden Person ihre Aufmerksamkeit. Rogers (1942) begründet die Priorität des emotionalen Gehalts von seinem nicht-direktiven Standpunkt aus wie folgt: „Wenn wir mit dem intellektuellen Inhalt reagieren, ist der Prozeß nicht mehr vorhersagbar und eher von der Struktur [der helfenden Person] abhängig als von der des Klienten“ (ebd., S. 128). Bei der therapeutischen Zuwendung sieht er die Auswahlmöglichkeiten in folgender Abstufung:
- Zentrierung auf Äußerungen: Die helfende Person zentriert ihre Aufmerksamkeit auf die von der hilfesuchenden Person vorgegebenen Äußerungen und wiederholt ihren wesentlichen Gehalt. Beispiel: „Ihr Vater hat durchblicken lassen, dass er in dieser Frage nicht auf Ihrer Seite steht.“
- Zentrierung auf Emotionen: Die TherapeutIn beachtet insbesondere den Gefühlston des Gesagten, wobei negative sowie positive emotionale Inhalte verbalisiert werden. Beispiel: „In diesem Augenblick haben Sie Ihren Vater wirklich gehasst.“
- Zentrierung auf Ambivalenzen: Die helfende Person beachtet vor allem widersprüchliche Gefühle, die häufig eine Konfliktquelle darstellen. Sie unterstützt die hilfesuchende Person bei der Klärung der Ambivalenzen. Beispiel: „Trotz aller Wut auf Ihren Vater haben Sie ihn gern.“
(ebd., S. 124–139).
5 Haltungen der helfenden Person
Rogers wies u.a. in „A Theory of Therapy, Personality and Interpersonal Relationships“ (1959) darauf hin, dass Kongruenz, Akzeptanz und Empathie aufseiten der GesprächspsychotherapeutIn die entscheidenden Faktoren sind, die der KlientIn dabei helfen, glücklicher zu werden.
Kongruenz: Unter Kongruenz (auch „Echtheit“ oder allgemein i.S. der HPT: „Authentizität“) wird die Übereinstimmung einer Person mit dem eigenen Da- und So-Sein verstanden. Eine Person verhält sich kongruent, wenn ihre Vorstellungsgestalt bzw. ihr wahrgenommenes Selbst mit der Aktualisierungstendenz bzw. der aktuellen Erfahrung des Organismus übereinstimmt. Inkongruenz liegt vor, wenn Erfahrungen vom Individuum nicht als Selbsterfahrungen wahrgenommen werden können, weil ihre Gewahrwerdung abgelehnt oder sie nur in verzerrter Form symbolisiert werden kann. Die Inkongruenz wird als Grundlage psychischer Störungen verstanden.
Akzeptanz: Das therapeutische Klima ist durch ein gleichmäßig starkes Gefühl einer unbedingten Akzeptierung der hilfesuchenden Person gekennzeichnet, gleichgültig, ob diese positive (reife, zuversichtliche, soziale usw.) Gefühle oder negative Gefühle wie z.B. schmerzliche, ängstliche oder ablehnende Emotionen ausdrückt. Akzeptanz ist dabei, im Vergleich zu dem in diesem Zusammenhang ebenfalls häufig verwendeten Begriff der Wertschätzung, welcher auch als „Schätzung des Werts“ der Personen und/oder ihrer verbalen Produktionen missverstanden werden könnte, das adäquatere Konzept.
Empathie: Mit diesem Konzept ist gemeint, dass die helfende Person den inneren Bezugsrahmen der hilfesuchenden Person möglichst genau wahrnimmt, und zwar mit all seinen emotionalen und gedanklichen Komponenten und Bedeutungen; gerade so, als wäre sie selbst die hilfesuchende Person, freilich ohne dabei jemals die „als ob“-Position aufzugeben. Die helfende Person versteht es, dasjenige was sie soeben gehört hat, in eigenen Worten möglichst angemessen zusammenzufassen und nötigenfalls zu konkretisieren. Insbesondere vermag sie, den emotionalen Gehalt zurückmelden (s.o.).
Rogers (1977) verwendete auch das Konzept des einfühlenden Verstehens, das der TherapeutIn ermöglicht, in die Welt der KlientIn hineinzukommen und deren persönliche Bedeutungen sensibel und präzise zu erfassen. Einigen GesprächspsychotherapeutInnen zufolge ist das einfühlende Verstehen mit der sogenannten „Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (VEE)“ operationalisierbar (u.a. Finke 2003, S. 331 f.).
6 Grade des Verstehens
Aufgrund der Reaktionen der KlientInnen auf Verbalisierungen der TherapeutInnen unterscheidet Rogers (1977) zwischen verschiedenen Graden des Verstehens:
- Oberflächliches Verstehen: Die Äußerung der therapeutischen Person hilft der hilfesuchenden Person bei ihrer Selbstexploration kaum weiter. Beispiel: „Natürlich. Das habe ich ja gerade gesagt“.
- Einfühlendes Verstehen: Die Äußerung der TherapeutIn hilft der KlientIn bei der Selbstexploration weiter. Beispiel: „Ja, das stimmt genau! Ich hätte nicht gedacht, dass jemand versteht, was ich eigentlich sagen wollte“.
- Verstehen am Rand der Gewahrwerdung: Die helfende Person vermag von der hilfesuchenden Person angedeutete Sinngehalte zu erfassen. In diesem Fall antwortet die KlientIn allenfalls erst allmählich zustimmend. Beispiel: „Das habe ich mir vielleicht vorgestellt. Ja, möglicherweise ist es wirklich das, was ich gemeint habe.“
(ebd., S. 24 ff.)
Mit der Kongruenz der helfenden Person, ihrer Akzeptanz der hilfesuchenden Person sowie ihrer empathischen Einstimmung auf dieselbe (s.o.) ist allerdings der interaktionale Aspekt der GPT noch nicht realisiert (der Titel von Rogers [1959] Schrift lautet „A Theory of Therapy, Personality and Interpersonal Relationships“). Der Autor weist darauf hin, dass der Fortschritt in der Therapie auch von der interpersonalen Beziehung und mithin auch von der KlientIn abhängt. Die Entwicklung eines therapeutischen Prozesses setzt voraus, dass die Beteiligten, nämlich eine kongruente therapeutische Person und eine zu Beginn der Therapie noch nicht kongruente hilfesuchende Person, sich in Kontakt befinden und dass die KlientIn „zumindest in geringem Ausmaße“ die bedingungslose Akzeptanz und das empathische Verstehen wahrnimmt (ebd., S. 47).
7 Bedingungen des therapeutischen Prozesses
Rogers (1959) nannte in seiner Therapie-Theorie insgesamt sechs Bedingungen des therapeutischen Prozesses:
- „Zwei Personen befinden sich in Kontakt.
- Die erste Person, die wir Klient nennen, befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz; sie ist verletzlich und voller Angst.
- Die zweite Person, die wir den Therapeuten nennen, ist kongruent in der Beziehung.
- Der Therapeut empfindet bedingungslose Wertschätzung gegenüber dem Klienten.
- Der Therapeut erfährt empathisch den inneren Bezugsrahmen des Klienten.
- Der Klient nimmt zumindest in geringem Ausmaße die Bedingungen 4 und 5 wahr.“
(ebd., S. 46 f.; Hervorhebungen von Rogers).
Eine Reihe empirischer Untersuchungen weist darauf hin, wie bedeutsam die Responsiveness der KlientIn auf das Verhalten der TherapeutIn ist (u.a. Orlinsky et al. 2004). Auf die Veränderung der Therapeut-Klient-Beziehung im Verlaufe der Therapie haben in den letzten Jahren auch erfahrene GesprächspsychotherapeutInnen hingewiesen. So betrachtet die KlientIn im Verlaufe der Therapie die TherapeutIn zunehmend auch als eine Person, deren Reaktionen sie interessieren (Brossi 2003).
8 Therapeutische Beziehung
Am 18. April 1957 fand an der University of Michigan ein Gespräch zwischen Martin Buber und Carl Rogers statt. Das Jahr 1957 wird von den meisten InterpretInnen als „Wende“ in der beruflich-wissenschaftlichen Arbeit von Rogers bezeichnet (u.a. Beck 1991, S. 82). Die sicherlich wichtigste Übereinstimmung der beiden Kontrahenten lag in der zentralen Bedeutung, welche sie der Beziehung und dem Dialog beimaßen, doch ergaben sich auch einige Unterschiede, wobei hier nur auf eine Differenz hingewiesen werden kann.
Nach Buber handelt es sich bei einer therapeutischen Beziehung i.S. Rogers zwar um eine Ich-Du-Beziehung, aber nicht um eine wirklich wechselseitige, da nur die TherapeutIn den Standpunkt der KlientIn einnehmen und ihr allenfalls helfen könne, aber nicht umgekehrt. Demgegenüber wies Rogers auf die Veränderung hin, die während einer Therapie auf beiden Seiten stattfinden kann. Natürlich sei davon auszugehen, dass sich zu Beginn der Therapie zwischen TherapeutIn und KlientIn eine so starke Asymmetrie in der Beziehung zeigt, dass von einem „wahren Dialog“ i.S. von Buber nicht die Rede sein könne, doch werde dieses Ungleichgewicht, das auch im Alltag bestehe, im Verlauf einer erfolgreichen GPT sukzessive abgebaut.
Schmid (2009) entwickelte unter Bezugnahme auf Rogers und Buber das Konzept der Dialogischen Resonanz, mit dem das einseitige Zentrieren auf die Person der KlientIn überwunden und auch Emotionen der Person der TherapeutIn in die Interaktionsschritte der GPT einbezogen werden. Während bei der paraphrasierenden Wiedergabe noch ausschließlich auf die KlientIn „gehört“ wird, ist Schmids Konzept insofern „inter-subjektiv“, als die TherapeutIn zwar primär auf die hilfesuchende Person eingeht, indes zugleich auf sich selbst hört und sich punktuell auch persönlich einbringt, wodurch sukzessive eine wirkliche „Bindung“ zustande kommt; eine Beziehung, die als solche nicht länger abstrakt bleibt, sondern in ihrer Entstehung und Aufrechterhaltung direkt beobachtbar ist. „Personale Resonanz ist immer Koresonanz, d.h. Resonanz auf das Erleben beider in der Beziehung“ (ebd., S. 27).
Zu einer echten therapeutischen Beziehung und Kommunikation gehört auch das Antworten auf explizite oder auch nur implizite Fragen. Beim Ansatz von Jenny und Schär (2010), dem „Kommunikativen Dreieck“, ist wesentlich, dass eine angesprochene Person jeweils die mit dem Interpretandum immer schon mitgegebene (oft aber nur implizite) Frage auch wirklich versteht und eine Antwort darauf gibt, der noch ein Kommentar (i.S. persönlicher Zusatzbemerkungen zur Antwort) angefügt wird, um an diesen doch schon recht komplexen Beitrag schließlich noch eine neue Frage, eine Fortsetzungsfrage, zu hängen, womit das Wort an die erste SprecherIn zurückgegeben und das Kommunikative Dreieck abgeschlossen wird und gleichzeitig die Einleitungsfrage für ein neues Dreieck gestellt ist (ebd., S. 11).
9 Therapeutischer Prozess
Nach dem PZA hängt das Konzept des therapeutischen Prozesses eng mit jenem der therapeutischen Beziehung zusammen. „Die klientzentrierte Therapie entwickelt sich kontinuierlich als eine Form der Beziehung mit Menschen (way of being with persons), die heilsame Veränderung und Wachstum fördert“ (Rogers und Schmid 1991, S. 187).
Für den Begründer der Gesprächspsychotherapie stand bereits in einer frühen Phase seines Schaffens der therapeutische Prozess im Mittelpunkt seines Interesses (u.a. Rogers 1940). Nach Rogers (1959) kommt ein Prozess zustande, wenn die in seiner Therapie-Theorie formulierten sechs Voraussetzungen erfüllt werden (s.o.). Unter diesen Bedingungen kann ein Prozess in Gang kommen, der Erfahrungen integriert, die bis dahin bedrohlich für das Selbstkonzept waren. Im Schutz einer therapeutischen Beziehung können sie bewusst gemacht und in das Selbstkonzept einbezogen werden.
Der Prozess beinhaltet eine Verschiebung von der inneren Diskrepanz zur Kongruenz („Jetzt spür’ ich endlich, was mich wirklich interessiert“). Erfahrungen, die von einer Person ursprünglich nicht als Selbsterfahrungen wahr- und angenommen werden konnten und deshalb von ihr höchstens in verstellter Form symbolisierbar waren, werden auf diese Weise zugänglich, akzeptiert und in ihren emotionalen Erlebnisinhalten verbalisiert. Indem die Person versucht, diese Erfahrungen in das bisherige Bild von sich selbst zu integrieren, wird dasselbe neu organisiert und zugleich offener auch für ungewohnte oder ursprünglich befremdende Ereignisse.
Eine hilfesuchende Person gelangt indes im Verlaufe des therapeutischen Prozesses nur dann zu größerer Kongruenz, wenn sich die helfende Person selbst kongruent verhält oder im Verlaufe der Therapie immer mehr zu einem kongruenten Verhalten gelangt. Dies gilt insbesondere hinsichtlich ihrer Akzeptanz und Empathie der KlientIn gegenüber. Nach Keil (1997) bieten v.a. die kongruenten nicht-akzeptierenden und nicht-verstehenden spontanen Reaktionen der TherapeutIn den „hermeneutischen Schlüssel“ zum Verstehen der Inkongruenz der KlientIn. Die therapeutische Person erspürt das inkongruente Selbst der hilfesuchenden Person und deren Bedingungszusammenhang und eröffnet damit sich und im Weiteren auch der KlientIn den „Horizont der Kongruenz“ (ebd., S. 11). Dies gelingt aber nur dann, wenn die TherapeutIn im Nicht-Akzeptieren und Nicht-Verstehen selbst kongruent ist. „Resultieren seine Reaktionen aus seiner eigenen Inkongruenz, dann enthalten sie keinen Hinweis auf die Problematik des Klienten, sondern verweisen auf seine eigene“ (ebd., S. 10). Im Weiteren weist Keil darauf hin, dass neben dem inkongruenten Nicht-Akzeptieren und Nicht-Verstehen auch das inkongruente Akzeptieren und Verstehen vorkommt; dies gerade auch bei GesprächspsychotherapeutInnen (ebd., S. 12).
10 Prozesskontinuum
Im Verlaufe einer GPT gelangt die hilfesuchende Person zu einer reichhaltigen und beweglichen Bewusstheit ihres Erfahrens. Die sich im Verlauf eines therapeutischen Prozesses entwickelnden Gefühle betrachtete Rogers (1961) i.S. eines Prozesskontinuums (ebd., S. 135 ff.).
Stufe 1: Die Person ist in ihrer (Selbst-)Wahrnehmung an rigide psychische Strukturen gebunden. Sie kommuniziert ausschließlich über äußere Dinge, noch nicht über sich selbst. Eine Mutter berichtet z.B. haargenau über das Verhalten ihrer rebellischen Tochter, ohne dass es ihr in den Sinn käme, dass dasselbe auch mit ihr etwas zu tun haben könnte.
Stufe 2: Die Person kann über Probleme sprechen, doch werden dieselben noch als außerhalb ihrer selbst wahrgenommen. Beispiel: „Wenn sie mich so abwertet, kann ich nicht mehr mit ihr reden.“
Stufe 3: Die Person kann sich über ihr Selbst äußern, doch wird dasselbe ausschließlich objektivierend betrachtet. Das Erleben wird aus (mitunter zeitlicher) Distanz dargestellt. Beispiel: „Nun ja, das ist die Rolle, die ich lange Zeit gespielt habe.“
Stufe 4: Die Person beschreibt Gefühle in der Gegenwart. Sie erforscht sich und stellt festgefahrene Konstrukte in Frage, doch hat sie noch Angst davor, sie im Augenblick auch wirklich zu erleben. Beispiel: „Da werde ich auch wütend, möchte ausrufen und davonlaufen.“
Stufe 5: Die Person wird lockerer und beginnt zu spüren, dass ihr Selbstbild am organismischen Erlebensfluss in ihr überprüft und differenziert werden kann. Die Mutter redet von einem kürzlichen Streit: „Da hasse ich sie, nein das ist es eigentlich doch nicht so sehr, ich verabscheue sie, wenn sie mir das vorwirft; eher fürchte ich mich aber vor ihr, und spüre auch ihre Angst“.
Stufe 6: Von der Person wird das unmittelbar gegenwärtige Erleben von Gefühlen erreicht: ein fortlaufender Prozess des Erlebens, der sich von Moment zu Moment wandelt. Häufig fühlt sich die KlientIn dadurch geradezu „getroffen“, was sich in körperlichen Begleiterscheinungen wie Seufzern, Tränen oder anderen Muskelentspannungen äußert.
Stufe 7: Das Selbst wird zum subjektiven Bewusstsein des Erlebens. Wenn die Mutter sich an ihre Tochter als Kleinkind erinnert, spricht sie weich und warmherzig, wenn sie von ihren Konfrontationen spricht, wird sie kühl und hartherzig (Rogers 1961, S. 135–158).
Nach Rogers gelangt die hilfesuchende Person im Verlaufe einer erfolgreichen GPT zu kongruenten verbalen und nonverbalen Verhaltensweisen. Sie wird gelöster und gelangt zu einem Selbst, das immer mehr mit der beweglichen Bewusstheit inneren Erfahrens zusammenfällt, bis es sich selbst als Objekt auflöst (Näheres in Klein et al. 2018, S. 50 f.).
Ein eigentliches Prozess-Modell zu entwickeln, blieb allerdings Gendlin (1997) vorbehalten. Nach Gendlin ist ein Prozess eine beständige interpersonale Interaktion, in welcher dem Körper-Umwelt-Verhältnis zentrale Bedeutung zukommt. In den menschlichen Organismus werden immer wieder neue Erfahrungen einbezogen, wodurch das schon früher Integrierte verändert wird, bevor es im Weiteren wiederum expliziert wird.
11 Quellenangaben
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Brossi, Rosina, 2003. Unzeitgemäß? Gedanken einer Praktikerin zum Thema Langzeittherapie. In: PERSON. 7(1), S. 57–65. ISSN 1028-6837
Eckert, Jochen, 2003. Gesprächspsychotherapie. In: Gerhard Stumm, Johannes Wiltschko und Wolfgang W. Keil, Hrsg. Grundbegriffe der Personzentrierten und Focusing-orientierten Psychotherapie und Beratung. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta, S. 141–142. ISBN 978-3-608-89697-8 [Rezension bei socialnet]
Finke, Jobst, 2003. Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte. In: Gerhard Stumm, Johannes Wiltschko und Wolfgang Walter Keil, Hrsg. Grundbegriffe der Personzentrierten und Forcusing-orientierten Psychotherapie und Beratung. Stuttgart: Pfeiffer bei Klett-Cotta, S. 331–332. ISBN 978-3-608-89697-8 [Rezension bei socialnet]
Gendlin, Eugene, 2015 [1997]. Ein Prozess-Modell. Freiburg: Karl Alber. ISBN 978-3-495-48704-4 [Rezension bei socialnet]
Jenny, Bettina und Camille Schär, 2010. Personzentrierte Gruppenpsychotherapie für Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen – das KOMPASS-Training. In: PERSON. 14(1), S. 5–20. ISSN 1028-6837
Keil, Wolfgang, 1997. Hermeneutische Empathie in der Klientenzentrierten Psychotherapie. In: PERSON. 1(1), S. 5–13. ISSN 1028-6837
Klein, Margot, Christine le Coutre und Mark Galliker, 2018. Aktualisierungstendenz oder Interaktion zuerst? Zur Kontroverse dialogisches versus monologisches Selbst. In: PERSON. 22, S. 47–55. ISSN 1028-6837
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Rogers, Carl R., 1940. The process of therapy. In: Journal of Consulting Psychology 4(5), S. 161–164. ISSN 0095-8891
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12 Literaturhinweise
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Eckert, Jochen, Eva-Maria Biermann-Ratjen und Diether Höger, Hrsg., 2012. Gesprächspsychotherapie. 2., überarb. Auflage. Berlin: Springer. ISBN 978-3-642-28649-0 [Rezension bei socialnet]
Finke, Jobst, 2009. Gesprächspsychotherapie: Grundlagen und spezifische Anwendungen. 4. Auflage. Stuttgart: Thieme. ISBN 978-3-13-129604-7
Galliker, Mark und Daniel Weimer, 2006. Psychologie der Verständigung. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-018848-8
Klein, Margot, 2011. Dialogisches Prinzip und Personzentrierter Ansatz. In: PERSON. 15(2), S. 138–149. ISSN 1028-6837
Klein, Margot und Mark Galliker, 2007. Der Dreischritt als Untersuchungseinheit der Therapieforschung – Zu einer gegenstandsangemessenen Evaluation Personzentrierten Psychotherapie, veranschaulicht am Gespräch von Rogers und Gloria. In: PERSON. 11(2). S. 227–139. ISSN 1028-6837
Verfasst von
Prof. Dr. Mark Galliker
Institut für Psychologie der Universität Bern
Eidg. anerkannter Psychotherapeut pca.acp/FSP
Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für den Personzentrierten Ansatz
Weiterbildung, Psychotherapie, Beratung (pca.acp).
Redaktion der Internationalen Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung (PERSON).
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Es gibt 3 Lexikonartikel von Mark Galliker.
Zitiervorschlag
Galliker, Mark,
2020.
Gesprächspsychotherapie [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 02.06.2020 [Zugriff am: 20.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/4941
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Gespraechspsychotherapie
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