Green Social Work
Prof. Dr. Andrea Schmelz
veröffentlicht am 26.09.2024
Green Social Work (GSW) wird entweder als Konzept für Katastrophenhilfe und -vorsorge in Zusammenhang mit Umweltgerechtigkeit oder als Oberbegriff für eine nachhaltige, ökosoziale Praxis verwendet.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Herausforderung für eine Green Social Work
- 3 Grundlagen von Green Social Work im Kontext von Katastrophen
- 4 Green Social Work als Oberbegriff für ökosoziale Praxis
- 5 Kritik und Potenziale zur Weiterentwicklung
- 6 Ausblick
- 7 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Im internationalen Fachdiskurs zu Green Social Work (GSW) sind zwei Bedeutungsrichtungen zu unterscheiden: GSW ist einerseits als Theorie-Praxis-Ansatz einer an Umweltgerechtigkeit orientierten Katastrophenhilfe und -vorsorge zu verorten. Konzeptualisiert wird GSW als transdisziplinärer, ganzheitlicher Ansatz in Kontexten von menschengemachten, naturbedingten und sozialen Katastrophen (Dominelli 2024; 2019; 2018; 2012). Andererseits hat sich GSW als Oberbegriff für eine nachhaltige, ökosoziale Praxis etabliert. Sie versteht Nachhaltigkeit als integrierte Komponente einer jeden sozialen Intervention. Schwerpunkt der Darstellung ist die Konzeptualisierung von Green Social Work im Anschluss an Lena Dominelli. Diese ist auch als ökosoziale Katastrophenvorsorge weiterzuentwickeln (Schmelz 2023; 2024).
2 Herausforderung für eine Green Social Work
Zu den Herausforderungen von Green Social Work gehören insbesondere Planetare Grenzen (PG), globale Polykrisen und Transformationen. Für die Katastrophenforschung ist evident, dass der vom Menschen verursachte Wandel des Erdsystems einen Anstieg der Häufigkeit und Intensität von (Natur-)Katastrophen mit sich bringt. Durch ungleich verteilte Bewältigungsressourcen sind Regionen und Bevölkerungsgruppen rund um den Globus unterschiedlich von den Auswirkungen der planetaren Polykrisen auf Gesundheit und Wohlbefinden betroffen. (Dominelli 2024; Schmelz 2024)
Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen diagnostiziert eine Triple Planetary Crisis (Dreifache Globale Krise) – Klimawandel, Vermüllung und Verlust der Biodiversität. Weitergefasst ist das Konzept der Planetaren Grenzen (PG), welches insgesamt neun planetare Grenzbereiche bzw. drohende Kipppunkte ausweist. Das Konzept von PG stammt aus der Erdsystemforschung und wurde seit 2008 vorwiegend von einer Forschergruppe um den schwedischen Klima- und Resilienzforscher Johan Rockström entwickelt. Es benennt unverhandelbare, ökologische Kipppunkte der Erde in neun Teilsystemen (Rockström und Gaffney 2021). Werden die Kipppunkte überschritten, ist die Stabilität der Ökosysteme auf der Erde und damit die Existenzgrundlage unseres (Über-)Lebens gefährdet. Fünf der neun Teilsysteme haben die Planetaren Grenzen bereits überschritten: das Klima, die Biodiversität, der Stickstoff- und Phosphorhaushalt, die Landnutzung wie auch aktuell die Verunreinigung der Biosphäre mit Plastik und anderen chemischen Stoffen. Die übrigen Teilsysteme wie Ozonschicht, Ozeanversauerung, Süßwassernutzung und Aerosole in der Atmosphäre sind ebenfalls stark belastet. Diese Entwicklungen zeigen, dass ein planetarischer Notstand bereits eingetreten ist (Schmelz 2023).
Für die Soziale Arbeit folgt daraus ein „grünes“ bzw. „ökosoziales“ Mandat. Während Fachdiskurse, Fallstudien und Forschungen zu diesbezüglichen Herausforderungen und Aufgaben Sozialer Arbeit rund um den Globus Jahrzehnte zurückreichen, nehmen die Thematisierung und Bearbeitung „grüner“, ökosozialer Probleme im deutschsprachigen Raum erst in jüngster Zeit an Fahrt auf (Pfaff et al. 2022; Liedholz und Verch 2023; Schmelz 2022; Stamm 2021; Schmidt 2021). Damit rückt Green Social Work (GSW) als Zukunftsaufgabe vom Rand ins Zentrum einer transformativen Sozialen Arbeit.
3 Grundlagen von Green Social Work im Kontext von Katastrophen
3.1 Umweltgerechtigkeit und Community-Action
„Grüne“ Sozialarbeiter*innen schätzen Katastrophenrisiken ein, die aus umwelt- und menschenverursachten Gefahren (hazards) entstehen (Dominelli 2024, S. 13). Sie setzen sich dafür ein, die wechselseitige Verflechtung aller Lebewesen und des Planeten Erde anzuerkennen und nachhaltig auf der Basis (für-)sorgender Beziehungen zu gestalten. GSW verfolgt einen transformativen Ansatz mit der Zielsetzung weitreichenden ökosozialen Wandels, der auf machtkritisch-emanzipatorischen Zielsetzungen und neoliberaler Kritik beruht (Dominelli 2024; Schmelz 2023; Boddy und Nipperess 2022).
Maßgeblich wurde dieser Ansatz von Lena Dominelli, langjährige Präsidentin der International Association of Schools of Social Work (IASSW), im Kontext der Katastrophenforschung und Fragen der Umweltgerechtigkeit konzeptualisiert. GSW bearbeitet die sozialen Dimensionen von Katastrophen, unabhängig davon ob sie von Menschen gemacht oder von Naturereignissen ausgelöst werden. Von Menschen verursachte Katastrophen reichen vom Klimawandel bis zu Armut. Naturereignisse, wie beispielsweise Erdbeben oder Vulkanausbrüche, können Katastrophen verursachen, wenn sie vulnerabilisierte Bevölkerungsgruppen betreffen (Dominelli 2019, S. 234). GSW denkt Environmental Justice (Umweltgerechtigkeit) als integralen Bestandteil von sozialer Gerechtigkeit und legt den Fokus auf Community Action (Gemeinwesenorientierung). Die Interventionen von GSW nehmen gleichermaßen das Wohlbefinden der Menschen und den Schutz der Umwelt in den Blick.
GSW wird als transdisziplinärer, holistischer Ansatz verortet (Dominelli 2018: 9). Das grüne Praxismodell führt alle relevanten Wissenschaftsdisziplinen und Professionen zu einer abgestimmten Maßnahmenplanung während des gesamten Katastrophenzyklus zusammen. Ziel ist es, die Beteiligungsprozesse mit lokalen Communities und Bevölkerungsgruppen koproduktiv zu gestalten. Es geht darum, lokales und indigenes Wissen von Betroffenen als Expert*innenwissen und vorhandene Bewältigungsressource zu nutzen (Schmelz/​Schmitt 2023).
3.2 Intervention und Prävention
Die GSW-Perspektive beinhaltet über reaktive Handlungsstrategien einer sozialarbeiterischen Katastrophenhilfe hinaus ein präventives Handeln der Profession. Sie hebt zwei grundlegende Perspektiven hervor: Zum ersten beschränkt sich Soziale Arbeit in der Reaktion auf umwelt- und naturbedingte Katastrophen nicht auf soziale Hilfsangebote für die betroffene lokale Bevölkerung, d.h. vorwiegend auf humanitäre Hilfe. Zum zweiten verfolgt GSW präventive Handlungsstrategien. Bedeutsam werden hier die Folgen umweltschädlicher, kapitalistischer Konsum- und Produktionsweisen, welche die begrenzt vorhandenen Ressourcen der Erde beschädigen und aufbrauchen. GSW setzt auf die Koproduktion von Wissen und Handeln in transdisziplinärer Kooperation – und zwar vor der (Natur-)Katastrophe, während der Katastrophe und beim Wiederaufbau nachhaltiger Communities (Dominelli 2018, S. 13).
Um vulnerable Situationen der von klima- und umweltbedingten Katastrophen betroffenen Menschen zu bearbeiten, stellen sich für GSW vielfältige Aufgaben mit Schwerpunkt auf eine nachhaltige Community-Entwicklung. Dies beinhaltet u.a. Bewusstseinsbildung, Lobbying und Advocacy, Mobilisierung, Koproduktion von Lösungsansätzen auf Community-Ebene, Dialogführung und die Entwicklung von „grünen“ Curricula in der Aus- und Fortbildung an Hochschulen und Trägerorganisationen Sozialer Arbeit (Dominelli 2018, S. 15). Darüber hinaus geht GSW mit einer Vielzahl von teils bekannten, teils neuen Rollen für Sozialarbeiter*innen einher, welche in Kontexten nachhaltigen Handelns der Communities vor allem Moderator*innen, Koordinator*innen, Community-Mobilisierer*innen, Mediator*innen, Berater*innen, Trainer*innen und Erzieher*innen, psychosoziale Therapeut*innen und Übersetzer*innen wissenschaftlicher Texte sein können (Dominelli 2012, S. 199).
3.3 „Grüne“ Handlungsfelder
GSW als internationales Rahmenkonzept sozialarbeiterischer Katastrophenhilfe entwickelt sich kontinuierlich durch Anwendung und Reflexion rund um den Globus weiter und wird in der sozialarbeiterischen Katastrophenforschung rezipiert (z.B. Alston et al. 2019). Wichtig ist hier auch der Einbezug neuer Perspektiven, wie beispielsweise aus der community-orientierten Umweltbildung, der Advocacy für ökologische Rechte und der ökosozialen Bildungs- und Kulturarbeit (Schmelz 2024; Breen et al. 2023; Schmelz und Schmitt 2023). Ein wichtiger Fokus von GSW bildet die Resilienz von Communities, für die Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen bedeutsam sind (Schmelz 2024). Anhand von Fallstudien entfaltete die Monographie „Green Social Work“ (Dominelli 2012) ein breites Spektrum möglicher Handlungsfelder (Dominelli 2012). Diese beziehen sich u.a. auf die Verbesserung städtischen Wohnens (ebd., S. 40 f.); auf psychosoziale Unterstützung und Beratung von Betroffenen des Giftmülls (ebd., S. 72 f.); bis hin zu Maßnahmen für erneuerbare Energien und Einkommensgenerierung in armutsgefährdeten Communities (ebd., S. 76) sowie Mediation in Communities zur Lösung von Wasserkonflikten (ebd., S. 161 f.). Dominelli 2012 (S. 174 f.) setzt sich besonders dafür ein, dass die „(…) schätzungsweise 370 Millionen [indigenen] Menschen auf dem Planeten Erde (…)“ ihre Lebensgrundlagen trotz des Drucks auf ihre Landrechte bewahren können. Viele indigene Gruppen erfahren Dominelli zufolge Kolonisierung, Marginalisierung, Zerstörung ihrer Kulturen und Sprachen sowie den Verlust von Land und anderen Ressourcen (ebd., S. 183). Viele dieser fortbestehenden Kämpfe indigener Völker sind eine große Belastung für den Schutz ihrer Lebensgrundlagen und ihrer natürlichen Umwelt, zum Beispiel im Regenwald des Amazonas oder in Kanada, Alaska und Australien. In der durch Kolonialität geprägten medialen Berichterstattung bleibt dieser Aktivismus aus dem Globalen Süden weitgehend unsichtbar.
Im Routledge Handbook of Green Social Work (Dominelli et al. 2018) beschreiben und reflektieren Expert*innen rund um den Globus weitere, vielfältige GSW-Praxisfelder: z.B. in Bereichen einer „grünen“ Landwirtschaft (Luk 2018, S. 159 ff.), der psychosozialen Unterstützung in Zusammenhang mit katastrophenbedingter Migration (Moosa-Mitha et al. 2018, S. 307 ff.), der community-basierten Interventionen für spezifische Zielgruppen wie etwa Kinder oder Menschen mit Behinderung (Kennedy 2018, S. 407 ff.). Eine weitere Herausforderung für die Profession deutet sich zudem in der Diskussion um die Entwicklung „grüner“ Curricula an, die mit einschlägigen Fallbeispielen, u.a. aus Australien, Neuseeland und den USA, konkretisiert wird (Stinson und Williams 2018, S. 511 ff.).
Die jüngste Monographie „Social Work Practice During Times of Disaster. A Transformative Green Social Work Model for Theory, Education and Practice in Disaster Interventions“ (Dominelli 2024) entfaltet Einblicke in ausgewählte Handlungsfelder. Dies geschieht auf der Basis von Fallstudien aus Großbritannien und unter Berücksichtigung internationaler Kontexte. Die Analyse des Falls Großbritannien fokussiert sich auf Katastrophen im Zusammenhang mit Bränden, Überschwemmungen, Dürren, Kälteeinbrüchen, Windstürmen, Sturmfluten, Freisetzung von Chemikalien, Terrorismus und COVID 19. Darüber hinaus werden Katastrophen untersucht, die sich an anderen Orten der Welt ereigneten, sich aber auch auf Großbritannien auswirkten – entweder weil britische Fachkräfte im Ausland humanitäre Hilfe leisten, oder weil Überlebende solcher Katastrophen im Vereinigten Königreich Zuflucht suchen oder dorthin auswandern. Hierunter fällt vor allem die Migration aufgrund von Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Wirbelstürmen, bewaffneten Konflikten und dem Klimawandel.
Zu konkreten sozialarbeiterischen Aufgaben im Katastrophenfall gehören u.a. (Dominelli 2018, S. 16):
- Bedarfsfeststellung bei den Betroffenen, Überlebenden und der gesamten Community;
- Koordinierung und Bereitstellung von Hilfsgütern und -leistungen, um individuelle Not zu lindern und den Wiederaufbau von Communities zu stärken;
- Unterstützung bei der Familienzusammenführung, Gewährleistung von Kinderrechten und -schutz, ebenso wie einer guten psychosozialen Versorgung;
- Beratung und Begleitung von Einzelpersonen und Gemeinschaften beim Wiederaufbau, bei der Entwicklung von Resilienz und beim Aufbau individueller und gemeinschaftlicher Kapazitäten zur Vermeidung künftiger Risiken.
- Lobby- und Advocacy-Arbeit sowie Mobilisierung der Bevölkerung, um Umwelt und alle Lebewesen zu schützen, künftige Katastrophen zu vermeiden und Todesfälle, Verletzte und materielle Schäden zu reduzieren.
Zur präventiven Auseinandersetzung mit Katastrophenrisiken übernehmen grüne Sozialarbeiter*innen darüber hinaus folgende Aufgaben (Dominelli 2024, S. 14):
- Verstehen von Katastrophen und ihren jeweiligen Ausformungen, Ursachen und damit einhergehender Sekundärgefahren;
- Kenntnisse zum geographisch-räumlichen Kontext und der spezifischen Ausprägung der Katastrophe aus Sicht der lokalen Bevölkerung;
- Verstehen der vor Ort bestehenden Vulnerabilisierungen in Communities, Sorge für angemessene Umweltgestaltung und Vermeiden von Umweltstress, etwa durch Bau von Wohnungen in Überschwemmungsgebieten;
- Zusammenarbeit in Partner*innennschaften auf Community-Ebene, um gemeinsam (coproduced) Lösungsansätze für Umweltprobleme in Ownership der lokalen Bevölkerung zu entwickeln;
- Einbeziehung der Bedeutung der Lokalität eines Katastrophenereignisses und ihrer sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und historischen Rahmenbedingungen für das Identitäts- und Zugehörigkeitsgefühl der Menschen vor Ort;
- Berücksichtigung der Verbundenheit der Menschen mit Raum und Ort (space & place) als die Basis für Sicherheit;
- Wertschätzung der physischen Umwelt als Eigenwert und Ressource für Wohlbefinden.
Um grüne Kompetenzen im Handlungs- und Arbeitsfeld der Katastrophenhilfe und -vorsorge international zu verankern, ist deren Vermittlung in den Hochschulcurricula für alle Student*innen sowie Richtlinien und Weiterbildungscurricula für Praktiker*innen ein zentraler Pfeiler. Für GSW spielt eine Vielzahl von Handlungsfeldern eine Rolle.
4 Green Social Work als Oberbegriff für ökosoziale Praxis
Green Social Work bzw. Grüne Soziale Arbeit wird auch als Oberbegriff verwendet für eine auf Nachhaltigkeit sowie ökosoziale Transformation und Gerechtigkeit ausgerichtete sozialarbeiterische Praxis. Als „grüne“ sozialarbeiterische Praxis wird eine professionelle Handlungsorientierung bezeichnet, welche die Nachhaltigkeit als selbstverständliche Handlungsdimension in jeder sozialarbeiterischen Intervention betrachtet (Papadimitriou 2020, S. 139). Ferguson et al. (2018, S. 111) begreifen GSW als übergreifendes Konzept und fassen darunter einen eklektischen Mix von Ideen und Praktiken zusammen in Kontexten von Ökologie, Umwelt, globalem Klima und Nachhaltigkeit. Im deutschsprachigen Raum zeigt etwa Husi auf, wie Grüne Soziale Arbeit „hilft bei der Verhinderung oder Bewältigung sozialer und kultureller Probleme, die aufgrund der vielgestaltigen Umweltkrise vermutlich oder tatsächlich entstehen (werden), sowie bei der Entfaltung umwelt(schutz)bezogener Entwicklungspotenziale.“ (Husi 2022, S. 300). Der Autor benennt eine Reihe von Praxisbeispielen einer Grünen Sozialen Arbeit als „systematisches naturrespektierendes Veränderungshandeln“ (Husi 2022, S. 301). Darunter fällt u.a. ein grünes Sozialmanagement (z.B. ökologisch ausgerichtetes Personal- und Organisationsmanagement); (informelle) Bildung zu grünen Lebensweisen; Unterstützung und Begleitung grüner Lebensformen im lokalen Umweltpentagon (Stadt-, Gemeinde- und Quartiersentwicklung, Dialog- und Kooperationsorganisation, Tauschnetzwerkbildung); Präventionsmaßnahmen gegen umwelt- und klimaschädliche Praktiken; grüne Kulturprojekte; sozial- und gesundheitsfördernde Soziale Arbeit im Grünen (Green Care, Soziale Landwirtschaft, Natur- und Erlebnispädagogik); ökologische Aus- und Fortbildungen; Umwelt- und Klimaaktivismus lokal und global (Advocyarbeit, politische Bildung, Politikberatung, Community Organizing) (Husi 2022, S. 307).
Versuche in der Fachliteratur unterschiedliche ökosoziale Ansätze zu systematisieren, verdeutlichen, dass Schnittmengen der unterschiedlichen Ansätze eine klare Abgrenzung unmöglich machen (Schmelz 2022; Frobes und Smith 2023). Als meist verwendete ökosoziale Zugänge haben sich Green Social Work, Environmental Social Work und Ecosocial Work herausgebildet. Die gemeinsame Schnittmenge dieser Ansätze wird als ökosoziales Paradigma der Sozialen Arbeit zusammengefasst: „Ökosoziale Arbeit meint Soziale Arbeit in all ihrer Tiefe und Breite; sie nähert sich der Analyse sozialer Probleme, Fragen und Anliegen mit einem ökosozialen Paradigma und nicht unter einem anthropozentrischen Blickwinkel“ (Matthies und Närhi 2016, S. 205 zit. nach Rambaree et al. 2019: S. 206, Übersetzung Autorin). Gemäß dieser Definition ist ökosoziale Arbeit nicht als Spezialgebiet zu begreifen. Stattdessen sollte jede Soziale Arbeit auch ökosozial und transformativ ausgerichtet sein. Ecosocial Work verknüpft dabei eine ökozentrische Blickrichtung mit indigenem Wissen und Spiritualität, greift Deep Ecology-Perspektiven auf und setzt sich kapitalismuskritisch für Postwachstum ein. Die einzige deutschsprachige Überblicksdarstellung (Stamm 2021) bevorzugt das Begriffskonzept einer ökologisch-kritischen Sozialen Arbeit (Eco-Critical Social Work) und bezieht sich hierbei auf Nähri und Matthies (2016), den Pionier*innen dieses Ansatzes in Europa. Die beiden Vorreiter*innen listen ihrerseits die folgende Systematik von Ansätzen auf (Närhi und Matthies 2016: S. 29–32; Dörfler 2021):
- Ecological Social Approach in Social Work (Jef Peeters, Belgien; Margret Alston/​Jennifer McKinnon, Australia),
- Deep Ecological Social Work (Fred Besthorn, USA),
- Eco-Spiritual Social Work (Mel Gray, Australia; John Coates, Kanada)
- Green Social Work (Lena Dominelli, Großbritannien)
- Social Ecological Social Work (Jef Peeters, Belgien)
- Environmental Social Work (Mel Gray/John Coates/​Tiani Hetherington, Australia).
Zum aktuellen Stand der internationalen Debatte (2021) streicht Stamm (2021) drei Schwerpunkte heraus: ökologisch-kritische Soziale Arbeit, Konzept der Green Social Work und australische Ansätze wie etwa das Transformative Eco-Social Model (Boetto 2019; Stamm 2021: S. 53). Im deutschsprachigen Raum spielen darüber hinaus Perspektiven der Nachhaltigkeit im Fachdiskurs eine bedeutsame Rolle (Böhnisch 2019; Elsen 2019, 2023; Liedholz und Verch 2023; Wassermann et al. 2024)
5 Kritik und Potenziale zur Weiterentwicklung
In Zeiten von zunehmenden ökosozialen Krisen und Katastrophen erlangt eine Green Social Work (GSW) eine wachsende Bedeutung, sowohl im Hinblick auf Rollen und Aufgaben in Krisen und Katastrophen als auch mit Blick auf eine ökosoziale Transformation. Es gehört zum Verdienst Dominellis, Aufgaben und Rollen von Sozialarbeiter*innen in Kontexten von Katastrophen mit Fragen der Umweltgerechtigkeit und Intersektionalität zusammenzudenken, auf unterschiedliche Handlungsfelder zu beziehen und ein nachhaltiges, ressourcenschonendes Modell des Wirtschaftens einzufordern (Dominelli 2024, 2019, 2018, 2012). Hier ist zu kritisieren, dass die Grundlagen bzw. Schnittstellen von GSW zu ökosozialen Zugängen und Fachdiskursen nicht hinreichend gewürdigt werden, wenn Dominelli ihre Vorreiterrolle hervorhebt. Dies trifft insbesondere auf indigene Wissensbestände zu, die unsichtbar gemacht werden (Boddy und Nipperess, S. 2022; Schmelz 2023).
Fachwissenschaftlich wurde der Stellenwert von Green Social Work kontrovers eingeschätzt. Zum einen gilt GSW als der gesellschaftskritischste Ansatz, weil dieser Theorie und Praxis von Umweltaktivismus und -gerechtigkeit zusammenführt und gesellschaftliche Transformation eines unfairen neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells auf lokaler, regionaler, nationaler und globaler Ebene einfordert (Ife 2016). Zum anderen wird das Konzept wegen konzeptionell unscharfer Verbindungen zu Ökologie und Umwelt kritisiert. Dabei wird eingeräumt, dass GSW die Debatte um Klimawandel, Nachhaltigkeit und Ökologie maßgeblich gefördert habe (Stamm 2021, S. 46 f.). Hier verknüpfe GSW unterschiedliche Themen, Ziele und Empfehlungen für die Praxis, bilde aber weder ein „klares Konzept“ oder gar eine „Theorie“, noch löse der Ansatz das Alleinstellungsmerkmal eines „holistischen Ansatzes“ ein. Mit dieser Kritik zeigt Stamm auf, dass Green Social Work konzeptuell zu schärfen, weiterzuentwickeln und mit anderen ökosozialen Zugängen zusammenzudenken ist.
6 Ausblick
Das Konzept der GSW in Verbindung mit den Planetaren Grenzen fordert zum „Mainstreaming von Green Social Work“ in Studium und Praxis der Sozialen Arbeit auf, um zur ökosozialen Transformation für einen gesunden Planeten beizutragen. Der Beitrag legte den Schwerpunkt auf zwei Bedeutungsrichtungen, die miteinander interagieren: zum einen GSW als Katastrophenhilfe und -vorsorge in Kontexten von Umweltgerechtigkeit, zum anderen GSW als Oberbegriff für eine ökosoziale Praxis. Mit der globalen Initiative „Co-Building a New Eco-social World“ entwirft die International Federation of Social Work (IFSW) die Zukunftsvision einer globalen ökosozialen Transformation mit der Sozialen Arbeit als maßgeblicher Akteurin. In dieser Hinsicht erlangt grüne Sozialarbeit als transformativer, emanzipatorischer Ansatz wachsende Bedeutung und ist global auf allen Ebenen der Ausbildung, Forschung und Praxis zu verankern und weiterzuentwickeln (Boddy und Nipperess 2023; Panagiotaras et al. 2022; Schmelz 2022, 2023). Damit Soziale Arbeit eine resiliente Zukunft von Communities in einer von Krisen und Katastrophen geschüttelten Welt mitgestaltet, sind theoretisch-konzeptuelle ökosoziale Fachdiskurse durch vielfältige gemeinschaftliche Handlungspraxen der ökosozialen Transformation und der Katastrophenvorsorge vom Kopf auf die Füße zu stellen.
7 Quellenangaben
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Wassermann, Dirk, Okka Zimmermann, Jens Rieger, Stefanie Stocker, Katrin Sen, Martin Staats und Maria Burschel, Hrsg., 2024. Handbuch Soziale Arbeit, Nachhaltigkeit, Transformation. Weinheim: BeltzJuventa. ISBN 978-3-7799-7878-7
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Prof. Dr. Andrea Schmelz
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Zitiervorschlag
Schmelz, Andrea,
2024.
Green Social Work [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 26.09.2024 [Zugriff am: 05.10.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29146
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Green-Social-Work
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