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HAAT Model

Prof. Dr. Oliver Wendt, Prof. Dr. Liane Bächler

veröffentlicht am 02.11.2023

Abkürzung: HAAT

Abkürzung von: Human Activity Assistive Technology Model

Der Begriff HAAT Model steht für „Human Activity Assistive Technology Model“ und repräsentiert im Bereich der assistiven Technologien (AT) ein theoretisches Model, das den Blick auf das Zusammenwirken von Person, Aktivität, Kontext und AT richtet. Diese Elemente bilden ein transaktionales System, das Ausführung und Teilnahme an benötigten und gewünschten täglichen Aktivitäten ermöglicht.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Mensch/​Person
  3. 3 Aktivität
  4. 4 Kontext
  5. 5 Assistive Technologie
  6. 6 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Albert Cook und Susan Hussey beschrieben das Human Activity Assistive Technology Model zum ersten Mal in der Erstausgabe des Lehrbuchs „Assistive Technology: Principles and Practices“ (1995). Das Modell beschreibt eine Person (Human), die mit Hilfe der assistiven Technologie (AT) einer Tätigkeit (Activity) in einem bestimmten Kontext nachgeht (siehe Abb. 1). Der Fokus liegt bewusst auf dem Element der Person, die sich in bestimmten Umgebungen bewegt und darin mit Hilfe der AT interagieren möchte. Jegliche Anwendung des HAAT-Modells beginnt immer mit der Person als Ausgangspunkt, bevor um die Anwendung der AT in spezifischen Kontexten geht. Damit soll vermieden werden, dass die Technologie Vorrang gegenüber der Person erhält. Die Person soll nicht den Anforderungen der AT genügen müssen, sondern die AT soll sich den Anforderungen und Bedürfnissen der Person anpassen (Cook, Polgar und Encarnação 2020). Das HAAT-Modell wird eingesetzt in der Entwicklung von AT, der Forschung, Bestandsaufnahme und Diagnostik. Es dient der initialen Auswahl und Identifikation von AT-Lösungen und der kontinuierlichen Evaluation der Ergebnisse von AT-Anwendungen. Insgesamt wird das HAAT-Modell als eine transaktionale Einheit verstanden, deren Elemente immer in gegenseitiger Wechselwirkung stehen (Cook et al. 2020).

Das Human Activity Assistive Technology Model nach Cook und Hussey
Abbildung 1: Das Human Activity Assistive Technology Model nach Cook und Hussey (1995)

2 Mensch/​Person

Die personenzentrierte Komponente des HAAT-Modells konzentriert sich auf die gegenwärtigen Fähigkeiten und Befindlichkeiten der Nutzerin bzw. des Nutzers in den Bereichen Motorik, Kognition, Sensorik und affektives Empfinden. Eine gute Einschätzung derselben ist wichtig für die entsprechend geeignete Auswahl effektiver AT-Lösungen und für die Bereitstellung eventuell benötigter Trainingsangebote. Eine umfassende Bewertung dieser Fähigkeiten versucht herauszufinden, ob in naher Zukunft Veränderungen in den verschiedenen Fähigkeiten zu erwarten sind, z.B. durch entwicklungsbedingtes Wachstum, durch eine progrediente Erkrankung oder Alterserscheinungen. Das Funktionieren oder Vorhandensein der Fähigkeiten wird abgeschätzt, um sagen zu können, inwiefern sie im Zusammenspiel mit der AT bei der Person zu einer Leistungssteigerung führen können, sodass die Person gewohnte Beschäftigungen ausüben kann. Neben den Informationen über Körperfunktionen ist es wichtig, ein Verständnis für die verschiedenen Lebensrollen und Erfahrungen mit Technologie zu entwickeln. Hierbei verfolgt die Personen-Komponente des HAAT-Modells eine Perspektive über die Lebensspanne des Individuums. Bei einem Kind befinden sich gegenwärtige Fähigkeiten noch in der Entwicklung. Das Kind braucht die Unterstützung der Eltern, um Aktivitäten ausführen und AT bedienen zu können. Ein älterer Mensch hingegen zeigt womöglich altersbedingte Einschränkungen und damit einhergehend gänzlich andere Bedürfnisse für Unterstützung durch AT. Beim Erwachsenen mag der AT-Einsatz auch den Eindruck des Verlusts erwecken, oftmals bedingt durch Alterungsprozesse.

Die Idee, dass es Technologie-Neulinge und erfahrene Nutzer:innen gibt, beeinflusst die Balance zwischen Input der Therapeutin oder des Therapeuten oder Input der Nutzerin oder des Nutzers während des Assessment- und Trainings-Prozesses. Der Neuling, dem es noch an Wissen und Erfahrung fehlt, ist auf die Information durch die Therapeutin oder den Therapeuten angewiesen. Demgegenüber weiß der oder die erfahrene Nutzer:in genau, was die AT leisten soll. Dieser Input bestimmt in hohem Maße den Beschaffungsprozess (Cook et al. 2020).

3 Aktivität

Das Modell fragt an dieser Stelle nach Aktivitäten, die eine Person mit Hilfe der AT bewältigen möchte. Hierzu zählen solche des täglichen Lebens, die man im Allgemeinen unterteilen kann in Selbsthilfe, Produktivität (Arbeit und Beruf, Freiwilligenarbeit, Erziehung und Bildung) und Freizeit. Viele Menschen haben das Bedürfnis, mehrere Aktivitäten zur selben Zeit zu bewältigen (multi-tasking). Daraus würde man ableiten, dass eine Einteilung von Aktivitäten in Kategorien eigentlich wenig Sinn macht. Cook et al. (2020) schlagen deshalb vor, davon auszugehen, dass eine Person in mehreren Aktivitäten gleichzeitig involviert ist. Partizipation in einer Aktivität ist als dynamischer Prozess zu verstehen. Die Teilnahme der Person variiert fortlaufend innerhalb mehrerer Aktivitäten.

Dabei ist es wichtig, die Art der Tätigkeit zu verstehen, die die Person ausführen möchte. Das Aktivitäts-Element im HAAT-Model hilft dabei, die verschiedenen Aufgaben innerhalb der Aktivitäten zu identifizieren, die die Person letztendlich ausführen muss. Dieses Element ist der Ausgangspunkt für Produktforschung und Entwicklung sowie die Auswahl von AT-Lösungen. Es dient der Identifikation funktionaler Endziele, um AT-Lösungen zu evaluieren und im Forschungsbereich gezielte Fragestellungen zu formulieren. Es hilft, genau zu überlegen, wie die Aktivitäten in begrenzte Einzelaufgaben zerlegt werden können und was genau die Person mit Hilfe der AT auszuüben gedenkt.

Das Element fragt außerdem nach zeitlichen Aspekten des Ausführens einer Aktivität (z.B. Dauer und Frequenz der Tätigkeiten; unterteilt in mehrmals täglich, wöchentlich, monatlich, usw.). Dabei ist ebenso zu berücksichtigen, ob auch bestimmte andere Personen involviert sind. Kenntnis, wo genau die Aktivität ausgeführt werden soll, hilft dabei, Kontext-Faktoren zu identifizieren, die die Ausführung beeinträchtigen können. Mit solchen Informationen kann die Qualität des Ausführens über verschiedene Kontexte hinweg verglichen werden. Gleichfalls lassen sich Probleme erkennen für den Fall, dass die AT-Lösung transportiert werden muss (Cook et al. 2020).

4 Kontext

Während andere gängige AT-Modelle den Begriff „Umwelt“ oder „Umfeld“ verwenden, betont das HAAT-Modell den Begriff des Kontexts. Cook et al. (2020) bezeichnen die Idee des „Kontexts“ als inklusiver im Vergleich zum allgemein geläufigen Begriff der „Umwelt“. Das Verständnis von Mechanismen der Behinderung hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt, wenn auch noch nicht vollständig. Das medizinische Modell von Behinderung verankert das „Problem“ innerhalb des Individuums, als eine Form der Beeinträchtigung, die behoben werden muss. Intervention, die sich ausschließlich darauf konzentriert, innerhalb der Person Veränderungen zu bewirken, folgt solch einem medizinischen Modell. Obwohl ein solches Vorgehen bisweilen nützlich und gerechtfertigt sein kann, verliert es den Blick auf andere Ursachen von Behinderung, die außerhalb von körperlichen Strukturen und Funktionen liegen (Whalley Hammel 2006; McColl und Jongbloed 2006).

Demgegenüber betont ein soziales Modell von Behinderung die Verortung von Behinderung außerhalb der Person und innerhalb von sozialen Strukturen. Es erkennt, dass soziale Wahrnehmungen, Einstellungen, Institutionen und Verordnungen allesamt zu dem Phänomen der Behinderung beitragen (Fougeyrollas und Gray 1998).

Das HAAT-Modell reflektiert solch ein soziales Modell von Behinderung, indem es die kontextuellen Aspekte von AT-Designs, AT-Dienstleistungen und AT-Nutzung explizit hervorhebt. Vier wesentliche Kontext-Elemente werden angesprochen:

  1. der physische Kontext bezieht sich auf natürliche und bauliche Umgebungen, die die Teilnahme an Aktivitäten fördern oder behindern können;
  2. der soziale Kontext beschreibt Bezugspersonen innerhalb des Umfeldes der Person, die die Nutzung von AT und die Teilnahme an Aktivitäten beeinflussen können;
  3. der kulturelle Kontext identifiziert Systeme gemeinsamer Bedeutungen (Bruner 1990; Jonsson und Josephsson 2005), die weitverbreitete Überzeugungen, Rituale und Werte umfassen;
  4. der institutionelle Kontext fokussiert sowohl die Bereiche Gesetzgebung und die damit zusammenhängende Vorschriften als auch Politik und Finanzierung.

5 Assistive Technologie

Assistive Technologie im HAAT-Modell wird als Wegbereiter dafür betrachtet, dass ein Mensch eine Aktivität in einem bestimmten Kontext ausführen kann. Diese Komponente gliedert sich in vier Aspekte:

  1. Mensch-Technik-Schnittstelle
  2. Prozessor
  3. Umgebungssensor
  4. Aktivitätsausgabe.

Die Interaktion mit dem Menschen erfolgt über die Mensch-Technik-Schnittstelle, die die Grenze zwischen dem Menschen und der AT bildet. An dieser Grenze kommt es zu einer wechselseitigen Wirkung, d.h. Informationen und Impulse werden vom Menschen zur Technologie geleitet und umgekehrt (Cook et al. 2020).

Die Technologie unterstützt das Ausführen von Aktivitäten durch einen Aktivitätsoutput, der Kognition, Kommunikation, Manipulation oder Mobilität anspricht. Die Mensch-Technologie-Schnittstelle und die Aktivitätsausgabe werden durch den Prozessor miteinander verbunden. Er übersetzt vom Menschen empfangene Informationen und Impulse in Signale, die zur Steuerung der Aktivitätsausgabe verwendet werden. Bestimmte assistive Technologien (z.B. sensorische Hilfsmittel) müssen auch in der Lage sein, externe Umgebungsdaten zu erfassen. Der Umgebungssensor erfüllt diese Funktion. Nachdem die externen Daten erkannt wurden, interpretiert und formatiert der Prozessor sie, damit sie dem Benutzer über die Schnittstelle bereitgestellt werden können. Nicht alle assistiven Technologien verfügen über alle diese Komponenten. Alle zeigen jedoch mindestens eine dieser Komponenten und die meistens zwei oder drei (Cook et al. 2020).

Assistive Technologien können auch auf einem Kontinuum verortet werden. Dieses reicht von Technologie, die für den Massenmarkt produziert wird, oder Mainstream-Technologie bis hin zu Technologie, die nur für eine einzelne Person entwickelt wurde. In jüngerer Zeit geschieht es immer häufiger, dass Menschen mit Behinderungen Technologie nutzen, die in Massenproduktion hergestellt wird und für ein breites Verbraucherpublikum konzipiert wurde. Insbesondere Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Computertechnologien können von Personen mit einem breiten Spektrum an Fähigkeiten genutzt werden. Sie sind in der Regel einfacher zu beschaffen und kostengünstiger als Geräte, die speziell für Menschen mit Behinderungen hergestellt werden. Im Mittelfeld dieses Kontinuums rangieren Produkte, die für Menschen mit Behinderungen produziert und normalerweise „von der Stange“ verwendet werden, wobei nur minimale oder keine Änderungen notwendig sind. Am anderen Extrem befinden sich Geräte, die für eine einzelne Person (oder eine geringe Anzahl von Personen) entwickelt wurden und sehr spezifische Bedürfnisse dieser erfüllen. Diese Geräte sind tendenziell teurer und schwieriger zu beschaffen, da sie kundenspezifisch hergestellt und in sehr geringen Stückzahlen produziert werden (Cook et al. 2020).

6 Quellenangaben

Bruner, Jerome S., 1990. Acts of meaning. Cambridge, MA: Harvard University Press. ISBN 978-0-674-00361-3

Cook, Albert M. und Susan M. Hussey, 1995. Assistive technologies: Principles and practice. St. Louis, MO: Mosby. ISBN 978-0-8016-1038-7

Cook, Albert M., Jan Miller Polgar und Pedro Encarnação, 2020. Assistive technologies: Principles and practice. 5. Auflage. St. Louis, MO: Elsevier. ISBN 978-0-323-52338-7

Fougeyrollas, Patrick und David B. Gray, 1998. Classification systems, environmental factors and social change. In: David B. Gray, Louis A. Quatrano und Morton L. Lieberman, Hrsg. Designing and using assistive technology: The human perspective. Baltimore, MD: Paul H. Brookes, S. 13–28. ISBN 978-1-55766-314-6

Jonsson, Hans und Staffan Josephsson, 2005. Occupation and meaning. In: Charles H. Christiansen, Carolyn M. Baum und Julie D. Bas, Hrsg. Occupational therapy: Performance, participation, and well-being. Thorofare, NJ: SLACK, S. 116–133. ISBN 978-1-61711-050-4

McColl, Mary Ann und Lyn Jongbloed, 2006. Disability and social policy in Canada. Concord, ON: Captus University Publishers. ISBN 978-1-55322-128-9

Whalley Hammel, Karen, 2006. Perspectives on disability and rehabilitation: Contesting assumptions, challenging practice. London, UK: Churchill Livingstone. ISBN 978-0-443-10059-8

Verfasst von
Prof. Dr. Oliver Wendt
Universität Potsdam
Professur für Inklusionspädagogik bei kognitiven und emotionalen Entwicklungsbeeinträchtigungen
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Prof. Dr. Liane Bächler
Technische Universität Dortmund Fakultät für Rehabilitationswissenschaften Fachgebietsleitung Partizipation bei Beeinträchtigung körperliher und motorischer Entwicklung
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Es gibt 3 Lexikonartikel von Oliver Wendt.
Es gibt 7 Lexikonartikel von Liane Bächler.

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Buchcover

Brigitte Schumann: Streitschrift Inklusion. Debus Pädagogik Verlag (Schwalbach/Ts.) 2018.
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