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Helming, Helene

Manfred Berger

veröffentlicht am 18.12.2019

* 06.03.1888 in Ahaus

05.07.1977 in Coesfeld

Helene Helming
Abbildung 1: Helene Helming (Ida-Seele-Archiv)

Helene Helming war eine der führenden Persönlichkeiten der internationalen Montessori-Bewegung. Es ist vor allem ihr Verdienst, dass nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur die verfemte Montessori-Pädagogik in (West-)Deutschland binnen kurzer Zeit wieder zu neuen Ehren kam. Durch sie wurde „Nordrhein-Westfalen für Jahrzehnte zum Stammland der Montessorianer in der Bundesrepublik Deutschland“ (Holtz 1997, S. 110). Auf ihre Initiative hin wurden Montessori-Schulen und Kinderhäuser in Aachen, Düsseldorf, Köln und anderen Städten ins Leben gerufen (Stein 1990, S. 194). Zahlreiche Lehrer*innen, Kindergärtnerinnen und Jugendleiterinnen wurden von ihr in der Montessori-Pädagogik ausgebildet.

Überblick

  1. 1 Lebenslauf
  2. 2 Lebenswerk
  3. 3 Wirkungsgeschichte
  4. 4 Würdigung
  5. 5 Quellenangaben
  6. 6 Informationen im Internet

1 Lebenslauf

Maria Theodora Helene war das erste von insgesamt 13 Kindern des Geheimen Medizinalrats Hermann Theodor Helming und dessen Ehefrau Antonia, geb. Berentzen. Der Vater hatte als Kreisphysikus eine große Praxis zu betreuen und war zudem kommunalpolitisch aktiv. So setzte er sich beispielsweise für eine bessere Wasserversorgung in der Stadt Ahaus ein. Die Mutter leitete den großen Haushalt, zeichnete für die Erziehung der Kinder verantwortlich und übernahm noch zusätzlich auf ehrenamtlicher Basis soziale Aufgaben. Im Elternhaus wurde sehr auf Bildung und katholische Gesinnung geachtet:

„Die Lebenszugewandtheit, die Bejahung der Familie und des Kindes, das sichere Gespür für das Geziemende und die selbstverständliche Integration von Freiheit und Ordnung sind ihr ganz gewiß weitgehend durch dieses Elternhaus zugewachsen“ (Oswald 1963, S. 217).

Nach dem Lehrerinnenexamen für „mittlere Schulen“, das sie 1908 abgelegt hatte, und einer zweijährigen Lehrtätigkeit an der Mädchenschule in Ahaus, studierte Helene Helming Deutsch, Englisch und Geschichte an den Hochschulen in Münster und Berlin. In erstgenannter Stadt befreundete sie sich mit Gerta Krabbel (1881-1961), der späteren Historikerin und Schriftstellerin von christlicher Literatur. 1916 legt sie das Staatsexamen ab und erhielt in Berlin eine Anstellung am hiesigen Mädchengymnasium der Ursulinen. Ostern 1919 übersiedelte Helene Helming nach Köln und unterrichtete am dortigen Lyzeum der Schwestern vom armen Kinde Jesus. Zwei Jahre später wechselte sie als Direktorin an die Aachener Mädchenmittelschule in der Beeckstraße. Hier konnte sie die Bestrebungen der Schulreform in die Praxis umsetzen, den Unterricht nicht allein vom Stoff, sondern vom Kinde her zu gestalten. Ab 1923 leitete sie das Sozialpädagogische Seminar in Aachen, welches „unter dem Namen ‚Fröbel-Seminar‘ weit über das Rheinland hinaus bekannt wurde“ (o.V. 1963, S. 142). Dort unterrichtete sie u.a. Kindergartenpädagogik und kam dadurch auch in Berührung mit der Montessori-Pädagogik. Um diese „neue Methode“ näher kennenzulernen, nahm Helene Helming als Gasthörerin an dem von Clara Grunwald (1877-1943) organisierten und von Maria Montessori in den Wintermonaten 1926/27 in Berlin geleiteten Montessori-Kurs teil. In diese Zeit fiel auch ihre Begegnung mit der Jugendbewegung und eine rege schriftstellerische Tätigkeit durch Herausgabe bzw. Mitherausgabe von mehreren Zeitschriften, beispielsweise „Die Schildgenossen“, einer Zeitschrift der katholischen Lebensbewegung (o.V. 1963, S. 142).

Helene Helming
Abbildung 2: Helene Helming (x) im Familienkreis (Ida-Seele-Archiv)

Inzwischen der italienischen Sprache mächtig erwarb Helene Helming 1930 in Rom das Internationale Montessori-Diplom. Der Kurs wurde von Maria Montessori, ehrfurchtsvoll „Dottoressa“ genannt, geleitet. Während der Ausbildung wurde ihr erneut die Notwendigkeit und Einzigartigkeit dieses reformpädagogischen Ansatzes in Familie, Kinderhaus und Schule bewusst und sie sah „als überzeugte Katholikin, wie katholisch die Vorstellung vom Menschen gerade in dieser Bildungskonzeption ist“ (Familie Helming 2002, S. 117). „Es wäre gut“, schrieb sie rückblickend über den fünfmonatigen Montessori-Kurs, „wenn wir frei von Vorurteil und reinen Geistes dem begegnen können, was diese geniale Frau unserer Zeit sagt. Erst dann werden wir auch wissen, ob und wie ihre Forderungen aus dem Überkommenen zu ergänzen sind, und erst dann wird sich das Neue, lebendig mit der Tradition vereinen können“ (Helming 1931, S. 230).

1935 wurde die Pädagogin ihres Amtes als Schulleiterin des Fröbel-Seminars enthoben. Ihre unerschütterliche christliche Haltung war den Nazis ein Dorn im Auge. Maria Wachendorf (1913-1998), eine ehemalige Schülerin, erinnerte sich:

„Wir waren tief getroffen, als man Helene Helming eines Mittags – es war der 3. Dezember 1935 – vom Unterricht fort zwangsweise in den Ruhestand schickte, obwohl sie erst 47 Jahre alt war. Die Begründung zur vorzeitigen Pensionierung gereicht ihr noch heute zur Ehre: Die von ihr vertretene und praktizierte Pädagogik der Freiheit und Selbständigkeit war mit nationalsozialistischen Ideen unvereinbar. Helene Helming verließ das Haus, das von ihrem Geist geprägt war, mit den Worten an ihre Schülerinnen:
‚Bleiben Sie sich selbst treu!‘“ (Wachendorf 1973, S. 13).

Helene Helming kehrte ins Elternhaus nach Ahaus zurück und arbeitete dienstverpflichtet am Landratsamt bei der Familienbetreuung von Wehrmachtsangehörigen.

Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur wurde ihr die Direktorenstelle der am 29. Januar 1946 als katholische Einrichtung zur Lehrerausbildung gegründeten Pädagogischen Akademie in Essen-Kupferdreh übertragen. 1954 ging die Akademiedirektorin in Pension und zog sich nach Ahaus in ihr Elternhaus zurück. Dort lebte sie mit ihrer Schwester Maria zusammen. Noch bis ins hohe Alter und in seltener Rüstigkeit engagierte sich Helene Helming für die Montessori-Pädagogik (Berger 1994, S. 236; 1995, S. 91 ff.; 1998, S. 238 ff.; 2002, Sp. 725 ff.; 2015, S. 255 ff.).

2 Lebenswerk

Als Helene Helming 1927 in Berlin erstmals offiziell mit der Montessori-Pädagogik in Berührung kam, schrieb sie enthusiastisch:

„Man wird sich mit dieser Methode auseinandersetzen müssen. Es scheint so, als ob mehr als bisher eine pädagogische Methode europäische Bedeutung gewänne […] Einen deutschen Leser mutet es wundersam an, daß man mit einer solchen Selbstverständlichkeit auf dem Boden des Heute stehen und handelnd zugreifen soll, ohne zunächst alle Probleme zu erörtern! Es mag wohl mit dem romanischen Wesen und mit der Art der Frau zusammenhängen, dass Maria Montessori von ihren Einsichten ausgehend, die auf Wissen und auf Erfahrung beruhen, einfach handelt und nicht weiter grübelt […] Mit Hingebung und Gründlichkeit strebt Frau Montessori danach, dem kleinen Kind und dem heranwachsenden seinen Raum zu geben und dem noch schwachen, vibrierenden Willen zu helfen, damit er zur Würde seiner Freiheit komme. Sie betont immer wieder, daß Freiheit nicht Willkür ist, sondern Ordnung, Beherrschung und Anmut […] Es wird in der heutigen Pädagogik viel von Eigenständigkeit und Freiheit, von Persönlichkeits- und Gemeinschaftserziehung gesprochen. Frau Montessori hat darauf hingezeigt, daß die Grundstruktur der Bildungsstätte sich den Zeitumständen gemäß ändern muß, damit der Raum entsteht, darin heute das Kind zu sich selber, zum Gegenstand, zum anderen Menschen kommt“ (Helming 1927, S. 142 ff.).

Sogleich begann Helene Helming in Aachen mit der Verwirklichung der pädagogischen Prinzipien Maria Montessoris und der vollständigen Umwandlung „einer veralteten, den Erfordernissen der Zeit nicht mehr entsprechenden Ausbildung der Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen und die damit notwendig verbundene Umwandlung des Kinderlebens in Kindergärten und Horten“ (o.V. 1963, S. 142). Sie initiierte am Fröbel-Seminar eine Montessori-Kindergruppe, gleichberechtigt neben den in der Fröbel-Tradition stehenden Kindergruppen. Im Laufe der nächsten Jahre kamen zwei weitere Montessori-Gruppen hinzu. Daraus entstand ein eigenständiges Montessori-Kinderhaus (Helming 1957, S. 59 ff.). Später kam noch eine vierklassige Montessori-Grundschule, die organisch mit der benachbarten Volksschule verbunden war, hinzu. So avancierte Aachen zum Vorbild der Montessori-Pädagogik, „war ein Samenkorn, welches wuchs, blühte und Frucht trug, bis ihm durch den Nationalsozialismus ein gewaltsames Ende bereitet wurde“ (Günnigmann 1979, S. 97).

Anfang 1946 wurde Helene Helming die Direktorenstelle der Pädagogischen Akademie in Essen-Kupferdreh übertragen. Dies war seinerzeit ein Novum, dass eine Frau und dazu noch im gewissen Sinne eine Außenseiterin innerhalb der Lehrerbildung, einem männlichen Hochschulkollegium vorgesetzt wurde. Die Akademiedirektorin hatte der Ausbildungsinstitution mit den pädagogischen Prinzipien Maria Montessoris eine besondere Prägung verliehen. Eine beachtliche Anzahl von zukünftigen Lehrer*innen inspirierte sie für die Montessori-Pädagogik, beispielsweise Paul Oswald (1914-1999), ein international bekannter Montessori-Forscher, der über seine ehemalige Hochschullehrerin konstatierte:

„Es lag ihr nicht, in intellektueller Systematik über die Gegenstände des Bildungs- und Erziehungsgeschehens zu reden; aber sie verstand es, ihre Hörer in unmittelbaren und lebendigen Kontakt mit diesen geistigen Wirklichkeiten zu bringen, sie vor allem aufgeschlossen zu machen für das Wesen des Kindes […] Obwohl sie nicht aus der Volksschule kam, hat sie in ihrem gesunden Gespür für die Realitäten sehr nachdrücklich Einfluß auf die praktische Umgestaltung der Volksschule und des Unterrichts gemäß den Erkenntnissen der Erziehungswissenschaft genommen und solche Umgestaltung auch beispielhaft erreicht“ (Oswald 1963, S. 219).

Besondere Hochschätzung erfuhr ihr 1958 erstmals veröffentlichtes Buch „Montessori-Pädagogik. Ein moderner Bildungsweg in konkreter Darstellung“. Genanntes Werk erfreut sich noch heute großer Anerkennung und zählt längst zu den Standardwerken, was die Interpretation und Darstellung der Montessori-Pädagogik im deutschsprachigen Raum betrifft. Eindringlich weist die Autorin darauf hin, dass Maria Montessoris Theorie und ihre Aufforderung zur Praxis, im Gegensatz zu Friedrich Fröbels „romantischer Kindergartenkonzeption“, nicht einer idealtypischen Richtung zuzuordnen ist und sich nicht an einem vorgefassten Bild orientiert. Der Verdienst der Dottoressa sei es, dass sie „in einer Zeit, in welcher ein pädagogischer Idealismus in Skepsis umschlagen mußte, das konkrete Kind sah und intuitiv erfaßte“ (Helming 1989, S. 15). In genannter Publikation werden systematisch und in leicht verständlicher Sprache die einzelnen Segmente des Erziehungskonzepts Maria Montessoris erläutert. Mit ihrem Buch wollte Helene Helming „im Erwachsenen die Bereitschaft wecken, dem Kind Lebenshilfe zu leisten. Wenn in unserer durch Wissenschaft und Technik so erstaunlich aufbauenden Zivilisation nicht der Raum für das Kind freigegeben und bereitet wird, wenn es mitten in der menschlichen Gesellschaft nicht vom verantwortlichen Erwachsenen, sei er Erzieher oder Politiker, liebevoll aufgenommen wird, so kann vom Kind her nicht die notwendige Erneuerung unserer Kultur gesichert bleiben, sondern Dekadenz wird folgen, und der wichtigste Grund dafür wird sein, daß man das Kind als Mitmenschen verrät“ (ebd., S. 10).

Standardwerk
Abbildung 3: Standardwerk (13. Auflage) von Helene Helming (Ida-Seele-Archiv)

3 Wirkungsgeschichte

Die Leiterin des Aachener Fröbelseminars kämpfte gegen die vielen Vorurteile gegenüber der Montessori-Methode an, die sich bis zu der Supposition steigerten, dass die Methode als Ganzes genommen die wesentlichen Seiten des kindlichen Seelenlebens mit seiner Betonung von Gemüt, Fantasie und Spiel zu wenig berücksichtige, im Gegensatz zur Fröbelpädagogik. Diesbezüglich schrieb Helene Helming bereits 1927, während der Montessori-Fröbel-Streit, wie diese vorschulische Kontroverse in die Historiografie eingegangen ist, noch in im vollem Gange war:

„Ist des Menschen Aufgabe und Ziel, daß er spielend zu leben lerne, so kann diese freiste aller Bewegungen, wohl das Spiel, nur da sich erfüllen, wo der Mensch von sich selber losgelöst, demütig und liebend auf Gott und den Nächsten gerichtet ist. Dahin können beide, Fröbels und Montessoris Pädagogik führen, auf verschiedenen Wegen“ (Helming 1927, S. 366).

In ihren Schriften greift Helene Helming immer wieder das altbekannte Vorurteil auf, die Dottoressa würde das kindliche Spiel grundsätzlich negativ bewerten. Sie hebt hervor, dass die Merkmale, die dem Spiel bereits von Friedrich Fröbel (1782-1852) zugeschrieben wurden, zahlreiche Schnittstellen und Parallelen zu Maria Montessoris Beschreibung der kindlichen Arbeit aufweist. Jedoch habe Letztgenannte erkannt, „daß nicht alles Tun des Kindes im eigentlichen Sinne Spiel genannt werden kann“ (Helming 1959a, S. 210). Dazu führt Helene Helming näher in ihrem schon genannten Standardwerk aus:

„Auch in Montessoris Auffassung vom Leben und Tun des Kindes zeigt sich ein ideologisches Element trotz der Realistik ihrer Pädagogik gegenüber der romantisch-symbolhaften Fröbels. Wenn Fröbel auf das Spiel als Lebensform des Kindes eindringlich hinwies, so überwindet Montessori die Gefahr, daß das Kind sich an ein Bereich der Phantasie und des Spiels verliert und in seinem Wesen eine Spaltung begründet wird, die Spiel und Arbeit zu sehr voneinander trennt […] Wenn Montessori schon beim kleinen Kind von ‚Arbeit‘ spricht, so bedeutet das keine Verherrlichung der Nuraktivität, die ein Leerlauf sein würde. Wenn auch Montessoris pädagogischer Realitätsoptimismus bei uns, die wir ihre Forderungen zu verwirklichen suchen, eine Wandlung erfährt, wenn wir auch wissen, es gehört zum Kind auch das Spiel des Als-ob, so müssen wir doch zugeben, daß das Tun des Kindes und des Erwachsenen durch die gleiche Sinnrichtung miteinander verbunden sein müssen und daß Montessori viel geleistet hat, wenn sie uns die Erkenntnis bringt, nicht nur das Spiel muß für das Kind gerettet werden, sondern auch ein ‚lebendiges Tun‘, wodurch das Kind den Weg findet in die Wirklichkeit“ (Helming 1989, S. 79).

Vertieft bei der „Arbeit“ mit dem Montessori-Material Vertieft bei der „Arbeit“ mit dem Montessori-Material
Abbildungen 4 und 5: Vertieft bei der „Arbeit“ mit dem Montessori-Material (Ida-Seele-Archiv)

Ende der 1950er-Jahre entfachte eine heftig geführte Kontroverse über das Für und Wider des Schulkindergartens. Dabei kritisierte die Fröbelexpertin Erika Hoffmann (1902-1995) die „Intellektualisierung des Kinderlebens“ in den Einrichtungen, hervorgerufen durch den Einsatz des Montessori-Materials. Dem hielt Helene Helming entgegen:

„Man könnte dieser Auffassung E. Hoffmanns nur wirksam entgegentreten durch eine Darstellung des Lebens im Montessori-Kinderhaus und Montessori-Schule […] Hier sei nochmal darauf hingewiesen, daß Montessori in besonderer Weise der Gefährdung des heutigen Kindes durch ihr Entfaltungsmaterial entgegenwirkt, das dem Kind hilft, Sinne, Bewegung und Geist zu koordinieren und zu einer Polarisation der Aufmerksamkeit zu kommen. Dem nervösen Kind wird zur Beruhigung geholfen, zum Verweilen bei seiner Tätigkeit, es überwindet seine Zerstreutheit, seine Gewöhnung an Sensationen; die normalisierenden Grundtendenzen des Kindes kommen in Bewegung, es gelangt zu einem vollständigen tun […] Aus Erika Hoffmanns Arbeit geht hervor, dass sie mit einer gewissen Künstlichkeit für die nicht schulreifen Kinder einen Raum des Spielens und eine Förderung der ‚Retardierung‘ seiner Tätigkeiten und der Verhinderung von schulischen Dingen vertritt. Auch wenn man, so wie Montessori es vorschlägt, mit der Vorbereitung des Schreibens und Lesens und Rechnens bei den größeren Kindern im Kindergarten beginnt, kann man dabei nicht von einer unechten Verfrühung sprechen. Montessori regt die frühe Vorbereitung des Lesens und Schreibens deshalb an, weil in den Jahren der sensiblen Periode des Sprechenlernens das Kind für die Sprache leicht zu interessieren ist, und weil die heutige Umgebung das Kind von selbst darauf aufmerksam macht. Es weiß ferner jeder, dass die meisten 6 Jahre alten Kinder bis zwanzig zählen können und Zahlenbegriffe haben“ (Helming 1959b, S. 78).

In ihren Veröffentlichungen betonte Helene Helming stets, dass das „Phänomen der Konzentration“ das entscheidende Merkmal der Montessori-Erziehung, im Kindergarten wie Schule, ist:

„Maria Montessori […] geht aus von der Gewinnung des Selbst durch das Vergessen des Ich. Dieses Gesetz des Selbstwerdens, so entdeckte Montessori, ist schon entscheidend für die Bildung des Kindes. Diese Konzentration aber ist, soll sie in einer dem Kind gemäßen Intensität in der Schule [oder im Kinderhaus; M. B.] gelingen, abhängig von der freien Wahl der Tätigkeit und davon, daß das Kind in seinem Zeitmaß, ja mit einem Vergessen der Zeit wie des äußeren Zweckes seiner Tätigkeit in unmittelbaren Kontakt mit dem Gegenstand seiner Arbeit […] tätig sein darf“ (Helming 1950, S. 290).

Für Helene Helming stand außer Zweifel, dass die Montessori-Pädagogik in ihrer ganzen Tiefe nur aus dem „Wahrheitselement“ des katholischen Glaubens zu interpretieren und zu praktizieren ist. Aufgrund veränderter Lebensbedingungen ist eine religiöse Erziehung im Kindergarten zu verorten:

„Die Erziehung in der Ordnung des Kinderhauses und das Wecken der Freiheit zeigen sich als gute Voraussetzungen für die religiöse Erziehung, die auf gewohnte, aber in die Ordnung des Glaubens an das Gute in der Natur des Kindes gedeiht. Im Kinderhaus gibt es einen Platz des Gebetes, wo auf das Heilige hinweisende Dinge Tun und Betrachten der Kinder anregen oder wo ein Kind auch für sich beten kann, wenn etwa das Morgengebet zu Hause vergessen wurde. Die Liebe zu Gott ist mit der Liebe zu seiner Welt und ihren Dingen und Menschen beim Kind glücklich verbunden“ (Helming 1964, S. 480).

Es bedürfe in „unserer kindfremden und verweltlichten Zivilisation“ einer Niveauhebung des Kindergartens, als auch einer Erweiterung und Vertiefung der Religiosität der Kindergärtnerin. Nur dann „wird die religiöse Erziehung im Kindergarten ihre notwendigen Voraussetzungen und gegebenen Ansatzpunkte finden“ (Helming und Wachendorf 1963, S. 9 f.).

Helene Helming im Alter von ca. 80 Jahren
Abbildung 6: Helene Helming im Alter von ca. 80 Jahren (Ida-Seele-Archiv)

4 Würdigung

Es ist vor allem Helene Helmings Verdienst, dass nach dem Zusammenbruch der Hitler-Diktatur die verfemte Montessori-Pädagogik in (West-)Deutschland binnen kurzer Zeit wieder zu neuen Ehren kam. Besonders tatkräftig beteiligte sie sich an der Neuentstehung der Deutschen Montessori-Gesellschaft, am 17. April 1952. Sie zeichnete u.a. federführend für den ersten Montessori-Diplomkurs auf deutschem Boden 1954 in Frankfurt/Main verantwortlich und war Mitbegründerin der 1961 ins Leben gerufenen Montessori-Vereinigung für katholische Erziehung e.V. mit Sitz Aachen. Außerdem bereicherte die „charismatisch begabte Pädagogin“ (Günnigmann 1979, S. 97), durch zahlreiche eigene Veröffentlichungen die Montessori-Literaturlandschaft, übersetzte einige Werke Maria Montessoris (1870-1952) aus dem Englischen, Französischen sowie Italienischen in die deutsche Sprache und führte allgemein der Montessori-Idee viele treue Anhänger*innen zu. Sie war bis ins hohe Alter „Motor der Montessorianer in Deutschland“ (Holtz 1997, S. 110).

Helene Helming erhielt für ihre Verdienste hohe kirchliche und weltliche Auszeichnungen. Sie war u.a. Trägerin des Päpstlichen Ordens „Pro Ecclesia et Pontifice“ (1957) und des Bundesverdienstkreuzes Erster Klasse (1963).

Heute tragen in Ahaus eine Grundschule und in Düren ein Kindergarten ihren Namen.

5 Quellenangaben

Berger, Manfred, 1994. Führende Frauen in sozialer Verantwortung: Helene Helming. In: Christ und Bildung. (40)7, S. 236. ISSN 0343-2645

Berger, Manfred, 1995. Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Ein Handbuch. Frankfurt: Brandes & Apsel. ISBN 978-3-86099-255-5

Berger, Manfred, 1998. Helming, Helene. In: Hugo Maier, Hrsg. Who is who der Sozialen Arbeit. Freiburg/Brsg.: Lambertus, S. 238–240. ISBN 978-3-7841-1036-3

Berger, Manfred, 2002. Helene Helming. In: Traugott Bautz, Hrsg. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 20. Nordhausen: Traugott Bautz, Sp. 725–730. ISBN 978-3-88309-091-7

Berger, Manfred, 2015. Helene Helming (1888-1977): Pionierin der Montessori-Pädagogik. In: Ingeborg Höting, Ludwig Kremer und Timothy Sodmann, Hrsg. Westmünsterländische Biografien 1. Vreden/​Bredevoort: Achterland Verlagscompagnie, S. 255–259. ISBN 978-3-933377-24-1

Familie Helming, 2002. Helene Helming (1888-1977). Zur Erinnerung an Helene Helming. In: Harald Ludwig, Christian Fischer und Reinhard Fischer, Hrsg. Montessori-Pädagogik in Deutschland: Rückblick – Aktualität – Zukunftsperspektiven: 40 Jahre Montessori-Vereinigung e.V. Münster: Lit, S. 116–117. ISBN 978-3-8258-5746-2

Günningmann, Manfred, 1979.Montessori-Pädagogik in Deutschland: Bericht über die Entwicklung nach 1945. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-451-18295-2

Helming, Helene, 1927. Die Montessori-Methode. In: Die Schildgenossen. Katholische Zweimonatszeitschrift. (7)10, S. 141–144

Helming, Helene, 1931. Zum Internationalen Montessori-Kurs in Rom. In: Die christliche Frau. (29)10, S. 227–230

Helming, Helene, 1950. Die Pädagogik Maria Montessoris und die den Menschen bedrohende Vermassung. In: Pädagogische Rundschau. (4)5, S. 289–293

Helming, Helene, 1957. Unser Kinderhaus. In: Kinderheim. (35)2, S. 59–67

Helming, Helene, 1959a. Der Ort des Spiels im Lebensbereich des Kindes. In: Kinderheim. (37)5, S. 209–218

Helming, Helene, 1959b. Das Problem der Schulreife und der Schulkindergärten. In: Kinderheim. (37)2, S. 75–80

Helming, Helene, 1964. Das Montessori-Kinderhaus. In: Ernst Bornemann, Hrsg. Handbuch der Sozialerziehung. Band II. Praxis der Sozialerziehung im geordneten Feld. Freiburg/Brsg.: Herder, S. 477–480

Helming, Helene, 1989 [1958]. Montessori-Pädagogik: Ein moderner Bildungsweg in konkreter Darstellung. Freiburg/Brsg; Herder. ISBN 978-3-451-21686-2

Helming, Helene und Maria Wachendorf, 1963. Der religionspädagogische Auftrag der Kindergärtnerin. Düsseldorf: Patmos

Holtz, Axel, 1997. Helming, Helene. In: Ulrich Steenberg, Hrsg. Handlexikon zur Montessori-Pädagogik. Ulm: Kinders Verlag, S. 108–111. ISBN 978-3-927179-09-7

Ohne Verfasser, 1963. Professor Helene Helming, die Repräsentantin der Montessori-Pädagogik in Deutschland, feiert am 6. März ihren 75. Geburtstag. In: Kinderheim. (41)3, S. 142–143

Oswald, Paul, 1963. Zum 75. Geburtstag von Frau Professor Helene Helming am 6. März 1963. In: Katholische Frauenbildung. (64)3, S. 217–220

Stein, Barbara, 1990. Helene Helming – Sorge um den Menschen in unserer Zeit. In: Ilse Brehmer. Hrsg. Mütterlichkeit als Profession? Lebensläufe deutscher Pädagoginnen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts. Band 1. Pfaffenweiler: Centaurus, S. 185–196. ISBN 978-3-89085-331-4

Wachendorf, Maria 1973. Fröbelseminar Aachen. In: Montessori-Werkbrief. (33)1, S. 12–13

6 Informationen im Internet

Verfasst von
Manfred Berger
Mitbegründer (1993) und Leiter des „Ida-Seele-Archivs zur Erforschung der Geschichte des Kindergartens“
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Zitiervorschlag
Berger, Manfred, 2019. Helming, Helene [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 18.12.2019 [Zugriff am: 05.11.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/28892

Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Helming-Helene

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