Heterogenität in der Schule
Prof. Dr. Beate Wischer, Prof. Dr. Matthias Trautmann
veröffentlicht am 02.05.2022
Der Ausdruck verweist in schulpädagogischen Zusammenhängen auf Unterschiede bzw. Unterscheidungen zwischen Schüler*innen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Zum Ursprung der Diskussion
- 3 Diskussionslinien um Heterogenität
- 4 Quellenangaben
- 5 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Es handelt sich bei Heterogenität um ein Schlagwort, unter dem seit etwa Anfang der 2000er-Jahre vielfältige Diskussionen und Reformideen zur Verbesserung von Schule und Unterricht firmieren – im Sinne der praktischen Herausforderung, wie mit Schüler*innenunterschieden im Schulsystem, in der einzelnen Schule und in Lerngruppen/​Klassen angemessen umgegangen werden kann und soll. Mittlerweile scheint der griffige, aber unspezifische Slogan zunehmend von einem weit gefassten Inklusionsbegriff abgelöst zu werden.
2 Zum Ursprung der Diskussion
Als Referenzrahmen wird in vielen Veröffentlichungen auf die Pädagogik der Vielfalt von Prengel (1993) verwiesen. Die Autorin diskutiert in dieser Studie das Verhältnis von Gleichheit und Differenz/​Verschiedenheit anhand von drei pädagogischen „Bewegungen“, die sie wiederum in Verbindung mit sozialen Bewegungen bringt: Interkulturelle Pädagogik (Leitdimension: Kultur), Feministische Pädagogik (Leitdimension: Geschlecht) und Integrative Pädagogik (Leitdimension: Behinderung). Sie entwickelt dabei die gesellschaftspolitische Grundidee einer „egalitären Differenz“, die sie u.a. auf den Bereich der Schule auslegt. Auch wenn darin eine frühe Grundlagenschrift gesehen werden kann, verdankt der Heterogenitätsbegriff seine Konjunktur vor allem der ersten PISA-Studie, die eine traditionsreiche Debatte um die Reformbedürftigkeit der Schule in Deutschland angestoßen hat. Reaktiviert wurden so etwa die Kritik an einem standardisierten Massenunterricht im Gleichschritt (Helmke 2009) sowie zahlreiche Empfehlungen, Forderungen, Konzepte und Programme für eine (stärker) an individuellen Lernbedürfnissen orientierte Schul- und Unterrichtsgestaltung (etwa Bräu und Schwerdt 2005; Buholzer und Kummer-Wyss 2010).
3 Diskussionslinien um Heterogenität
Mit Schüler*innenheterogenität in Zusammenhang stehende Fragen werden konzeptionell und empirisch seit vielen Jahrzehnten in der Schulpädagogik und anderen erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen (wie der Interkulturellen Pädagogik oder Sonderpädagogik), daneben aber auch in anderen Disziplinen (z.B. psychologische Lehr-Lern-Forschung, soziologische Ungleichheitstheorie) direkt und indirekt bearbeitet. Auch Bildungspolitik und -verwaltung (Schulministerien, Landesinstitute) haben sich des Themas angenommen, wie entsprechende Formulierungen in Schulgesetzen und curricularen Standards für die Lehrerbildung dokumentieren, z.B. konstruktiver Umgang mit Vielfalt; der Leitlinie Vielfalt; individueller Förderung. Entsprechend groß ist die Bandbreite der Publikationen in Bezug auf deren Anlage und Anspruch (zusammenfassend Wischer 2009): Das Spektrum reicht von ambitionierten theoretischen Entwürfen, historischen und empirischen Analysen über gesetzliche Vorgaben und programmatische Konzepte hin zu Erfahrungsberichten und einer auf die Praxis orientierten Ratgeberliteratur.
Versucht man, die Begriffsverwendung näher zu analysieren, dann zeichnet sich ab, dass Heterogenität in der schulpädagogischen Diskussion als ein nahezu allumfassendes Schlagwort verwendet wird (dazu die kritischen Beiträge in Koller et al. 2014; Trautmann und Wischer 2019, 2020). Die Leitformel (Schüler*innen-)Heterogenität wurde entsprechend den Perspektiven der jeweiligen Autor*innen durchaus unterschiedlich aufgegriffen:
- In einer vor allem normativ-programmatischen Auseinandersetzung mit dem Heterogenitätsthema trifft man – zugespitzt formuliert – auf lange und beliebig erweiterbare Auflistungen von Dimensionen, in denen sich die Schüler*innen einer Lerngruppe unterscheiden (können). In dieser Perspektive finden sich Kritiken an einem standardisierten und auf Selektion ausgerichteten Unterricht sowie Vorschläge, die traditionelle reformpädagogische Methodenformate (wie Binnendifferenzierung über Planarbeit und Projekte) stark machen und eine veränderte, „heterogenitätssensible“ Haltung der Lehrkräfte hin zur Akzeptanz von „Vielfalt“ einfordern (z.B. Höhmann et al. 2009; Rebel 2011).
- Einen anderen Zugang offeriert die psychologische Lehr-Lern-Forschung, die Merkmale von Lernenden (Vorwissen, kognitive Grundfähigkeiten, aber auch motivationale und affektive Aspekte) als Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen modelliert (z.B. Helmke und Weinert 1997). Unter schultheoretischen Gesichtspunkten wird damit ein deutlich engeres Mandat der Schule (effektive Förderung fachlicher Lernleistungen) und vorrangig eine Berücksichtigung von lern- und leistungsbezogenen Merkmalen fokussiert. In dieser Perspektive finden sich Studien und Umsetzungsempfehlungen zugunsten einer stärker „adaptiven“ Unterrichtsgestaltung (z.B. Beck et al. 2008).
- Sozialwissenschaftliche konturierte Diskurse schließlich problematisieren die Konstruktionsprinzipien von Differenzlinien (wie Geschlecht, Nationalität oder Behinderung) und die damit verbundenen Ungleichheiten: Unterschiede gelten als historisch und gesellschaftlich bedingte Konstruktionen bzw. Zuschreibungen, in die Vorstellungen von Normalität und Abweichung, Dominanz, Hierarchie und Unterdrückung eingebaut sind, wobei Schule als eine Institution in den Blick rückt, die recht umfassend an der Herstellung gesellschaftlicher Ungleichheiten beteiligt ist (z.B. Budde 2012). In den praktischen Konsequenzen dieses Zugangs geht es um „differenzsensible“ Lehre und „reflexive Inklusion“ im Sinne einer Arbeit an den Orientierungen von Lehrkräften (Budde und Hummrich 2014).
Neben einem starken unterrichtsbezogenen Fokus thematisieren Beiträge auch Fragen einer angemessenen Organisation der Einzelschule bzw. des Schulsystems (dazu Trautmann und Wischer 2011; Emmerich und Hormel 2013); später auch Überlegungen zu einer zeitgemäßen Lehrer*innenbildung (z.B. Biederbeck und Rothland 2017). Zudem werden Überschneidungen zu angrenzenden Diskussionsfeldern wie Diversity oder Intersektionalität diskutiert (Walgenbach 2014). Zuletzt tauchte der Begriff als einigendes Band für Reformbemühungen vermehrt in den Programmen der Qualitätsoffensive Lehrerbildung auf; seit einigen Jahren ist eine Synthese mit oder Ersetzung durch einen weitgefassten Inklusionsbegriff zu erkennen, der ganz ähnliche Funktionen zu erfüllen vermag: als eine praxisbedeutsame, modern wirkende Konsensformel für Reformabsichten in einem Feld zu dienen, das von vielfältigen Akteur*innen unter starker Beachtung durch die Öffentlichkeit bespielt wird.
4 Quellenangaben
Beck, Erwin, Matthias Baer, Titus Guldimann, Sonja Bischoff, Christian Brühwiler, Peter Müller, Ruth Niedermann, Marion Rogalla und Franziska Vogt, 2008. Adaptive Lehrkompetenz: Analyse und Struktur: Veränderbarkeit und Wirkungen handlungssteuernden Lehrerwissens. Münster: Waxmann. ISBN 978-3-8309-1936-0
Biederbeck, Ina und Martin Rothland, 2017. Professionalisierung des Umgangs mit Heterogenität. In: Thorsten Bohl, Jürgen Budde und Markus Rieger-Ladich, Hrsg. Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 223–235. ISBN 978-3-8252-4755-3 [Rezension bei socialnet]
Bräu, Karin und Ulrich Schwerdt, Hrsg., 2005. Heterogenität als Chance: Vom produktiven Umgang mit Gleichheit und Differenz in der Schule. Münster: Lit. ISBN 978-3-8258-7951-8
Budde, Jürgen, 2012. Problematisierende Perspektiven auf Heterogenität als ambivalentes Thema der Schul- und Unterrichtsforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik. 58(4), S. 522–540. ISSN 0044-3247
Budde, Jürgen und Merle Hummrich, 2014. Reflexive Inklusion. In: Zeitschrift für Inklusion (4). ISSN 1862-5088. Verfügbar unter: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/​article/view/193
Buholzer, Alois und Annemarie Kummer-Wyss, Hrsg., 2010. Alle gleich – alle unterschiedlich! Zum Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Seelze/Zug: Kallmeyer & Klett. ISBN 978-3-7800-1056-8
Emmerich, Marcus und Ulrike Hormel, 2013. Heterogenität – Diversity – Intersektionalität: Zur Logik sozialer Unterscheidungen in pädagogischen Semantiken der Differenz. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-531-94209-4
Helmke, Andreas, 2009. Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität: Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. Seelze/Zug: Kallmeyer & Klett. ISBN 978-3-7800-1009-4 [Rezension bei socialnet]
Helmke, Andreas und Franz E. Weinert, 1997. Bedingungsfaktoren schulischer Leistungen. In: Weinert, Franz E., Hrsg. Psychologie des Unterrichts und der Schule. Göttingen: Hogrefe, S. 71–176. ISBN 978-3-8017-0539-8
Höhmann, Katrin, Rainer Kopp, Heidemarie Schäfers und Marianne Demmer, 2009. Lernen über Grenzen: Auf dem Weg zu einer Lernkultur, die vom Individuum ausgeht. Opladen: Barbara Budrich. ISBN 978-3-86649-221-9 [Rezension bei socialnet]
Koller, Hans-Christoph, Rita Casale und Nobert Ricken, 2014. Heterogenität: Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts. Paderborn: Schöningh. ISBN 978-3-506-77837-6
Prengel, Annedore, 1993. Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen: Leske + Budrich. ISBN 978-3-8100-1163-3
Rebel, Karlheinz, 2011. Heterogenität als Chance nutzen lernen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-5080-3
Trautmann, Matthias und Beate Wischer, 2011. Heterogenität in der Schule: Eine kritische Einführung. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-531-16573-8
Trautmann, Matthias und Beate Wischer, 2019. Heterogenität: Überblick, Begriff, theoretische Zugänge. In: Michaela Gläser-Ziduka, Marius Harring und Carsten Rohlfs, Hrsg. Handbuch Schulpädagogik. Münster: Waxmann, S. 529–537. ISBN 978-3-8252-8796-2
Trautmann, Matthias und Beate Wischer, 2020. Theoriebildung im Diskursfeld Heterogenität. In: Martin Harant, Philipp Thomas, Uwe Küchler, Hrsg., 2020. Theorien! Horizonte für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Tübingen: Tübingen University Press, S. 219–229. ISBN 978-3-947251-20-9
Walgenbach, Katharina, 2014. Heterogenität, Intersektionalität, Diversity in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Barbara Budrich. ISBN 978-3-8252-8670-5 [Rezension bei socialnet]
Wischer, Beate, 2009. Der Diskurs um Heterogenität und Differenzierung: Beobachtungen zu einem schulpädagogischen „Dauerbrenner“. In: Beate Wischer und Klaus-Jürgen Tillmann, Hrsg. Erziehungswissenschaft auf dem Prüfstand: Schulbezogene Forschung und Theoriebildung von den 1970er Jahren bis heute. Weinheim: Juventa, S. 69–96. ISBN 978-3-7799-2230-8
5 Literaturhinweise
Bohl, Thorsten, Jürgen Budde und Markus Rieger-Ladich, 2017. Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 223–235. ISBN 978-3-8252-4755-3 [Rezension bei socialnet]
Koller, Hans-Christoph, Rita Casale und Nobert Ricken, 2014. Heterogenität: Zur Konjunktur eines pädagogischen Konzepts. Paderborn: Schöningh. ISBN 978-3-506-77837-6
Trautmann, Matthias und Beate Wischer, 2011. Heterogenität in der Schule: Eine kritische Einführung. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-531-16573-8
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