High Reliability Organization
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
veröffentlicht am 05.08.2024
High Reliability Organization (hochgradig zuverlässige Organisation) bezeichnet eine Organisation, die mit dem komplexen Betrieb von technischen Einrichtungen mit sehr hohem Gefahrenpotenzial betraut ist.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Entstehungskontext
- 3 Merkmale von High Reliability Organizations
- 4 Kritik am HRO-Konzept
- 5 Quellenangaben
- 6 Literaturempfehlungen
1 Zusammenfassung
Die Essenz von High Reliability Organizations (HRO) ist der zuverlässige Betrieb von technischen Systemen, deren Operationen mit einem großen Gefahrenpotenzial verbunden sind (Weick, Sutcliffe und Obstfeld 1999). Sie basieren Apelt (2015, S. 91) zufolge auf komplexen, miteinander eng gekoppelten Komponenten, die über viele Arten miteinander vernetzt sind, sodass sie Interdependenzen und Eigendynamiken entwickeln. Unter „technischen System“ zu verstehen ist dabei die Kombination von technischen Anlagen und Prozessen mit menschlichem Entscheidungshandeln, was ein sehr aufmerksames Management erforderlich macht (Vogus und Sutcliffe 2013).
Seit der Entstehung der Theorie der High Reliability Organizations in den 1980er Jahren ist das Interesse an ihr stark angewachsen (La Porte 1996; Rijpma 1997; Weick und Sutcliffe 2006; Küppers 2010, Dekker und Woods 2010). HROs finden sich heute im Militär (z.B. Flugzeugträger) ebenso wie in der Energieversorgung (z.B. Kernkraftwerke), im Öffentlichen Dienst (z.B. Feuerwehrwachen), im Gesundheitswesen (z.B. Intensivstationen von Krankenhäusern) und im Sozialwesen (z.B. Jugendamt). Kennzeichnend für hochzuverlässige Organisationen ist, dass die Beteiligten in diesen Organisationen sich stets bewusst sind, dass die Systeme, die sie betreiben, Überraschungen bereithalten (Senge und Dombrowski 2015, S. 89).
Charakteristisch für hochzuverlässige Organisationen ist, dass sie über längeren Zeitraum in gefährlichen, volatilen sowie komplexe Umgebungen erfolgreich agieren und dabei eine gleichbleibend gute Leistung erbringen (Weick und Sutcliffe 2015, S. 152 ff.) Trotz Herausforderungen durch Umwelteinflüsse, personale, psychische oder sonstige Faktoren gelingt es HROs, katastrophale Unfälle zu vermeiden (Tolk et al. 2015, S. 1). Dies schaffen sie aufgrund ihrer Organisationskultur wie auch durch ihr Prozessmanagement, welches darauf ausgelegt ist, Unsicherheit aktiv zu managen (Dekker und Woods 2010, S. 123 f.).
2 Entstehungskontext
Der Organisationswissenschaftler Charles Perrow vertritt in seinem Buch Normal Accidents: Living with High-Risk Technologies (Perrow 1984) die Auffassung, dass Unfälle in Organisationen, die komplexe Systeme betreiben, unvermeidlich seien. Er definiert Normalunfälle als solche mit unvorhergesehenem Zusammenwirken mehrerer Systemausfälle im Zusammenhang mit Hochrisikotechnologien. Perrow argumentiert, dass es zu Unfällen komme, wenn Systeme sowohl komplex als auch eng gekoppelt seien. Wenn es sich um Systeme im Kontext von Hochrisikotechnologien handele, seien Fehler vorprogrammiert (Perrow 1984, S. 70).
Beobachtungen und Analysen in manchen Organisationen, die komplexe Systeme über längeren Zeitraum hinweg konstant nahezu unfallfrei betreiben können, widersprechen Perrows Auffassung allerdings (Hopkins 1999 u. 2009; Cooke und Rohleder 2006; Weick und Sutcliffe 2007). Für solche Organisationen, die es schaffen, Prozesse dauerhaft auch bei unerwarteten Ereignissen hochgradig zuverlässig zu organisieren, prägten Karlene H. Roberts, Gene I. Rochlin und Todd LaPorte Mitte der 1980er Jahre an der Universität von Kalifornien in Berkeley die Bezeichnung „High Reliability Organizations“ (Rochlin, La Porte und Roberts 1987). Roberts definiert diese wie folgt:
„There is a class of organisations that can do catastrophic harm to themselves and a larger public. Within this larger set of potenzially harmful organisations there is a subset which have operated extraordinarily reliably over long period of time. Operational reliability rivals short term efficiency as major goals in these organisations. Extraordinary attention is paid to operational reliability both because of the inherent dangers of the situation and because outcomes reliability is impossible to realize without operational reliability. Hence, we call these organisations ‚high reliability‘ organisations.“ (Roberts 1989, S. 112)
In der aus der Forschung von Roberts et al. hervorgegangenen Fachliteratur wird auch von „High Reliability Theory“ (HRT) gesprochen (Cantu et al. 2020, S. 2; Weick und Sutcliffe 2015; Senge und Dombrowski 2015, S. 88; Mistele 2005). Die High Reliability Theory beschreibt das Ausmaß, in dem sich Menschen auf allen Ebenen einer Organisation beteiligen, trotz hoher Komplexität einen stets sicheren Betrieb gewährleisten und Risiken minimieren. Die High Reliability Theory vertritt laut Mistele „einen optimistischen Standpunkt: Fehler und Unfälle in komplexen und eng gekoppelten technologischen Systemen lassen sich durch ein gutes organisationales Design und ein gutes Management eindämmen und stellenweise sogar verhindern“ (Mistele 2005, S. 7).
Popularisiert wurde das Konzept der High Reliability Organizations vor allem durch das Wirken des Organisationspsychologen Karl E. Weick (*1936), emeritierter Professor für Organisationswissenschaft an der University of Michigan und seiner Kollegin Kathleen Sutcliffe (*1950), Professorin für Medizin und Wirtschaft an der Johns Hopkins University. Weick und Sutcliffe veröffentlichten die Essenz ihre Forschungsergebnisse zu HROs 2001 im Buch Managing the Unexpected. Die Publikation fand ein großes Medienecho und wurde aufgegriffen von Praktiker:innen aus unterschiedlichen Bereichen, die sich mit komplexen Prozessabläufen konfrontiert sehen, u.a.:
- in Sondereinsatzkommandos,
- im Katastrophenschutz,
- bei der Feuerwehr und
- im Gesundheits- und Sozialwesen.
3 Merkmale von High Reliability Organizations
High Reliability Organizations operieren permanent mit hoher Zuverlässigkeit unter schwierigen Umfeld- oder Umweltbedingungen. Becke et al. (2011, S. 31) beschreiben High Reliability Organizations als umweltoffene, sich selbst organisierende sozio-technische Systeme mit hoher Fähigkeit zur adaptiven Bewältigung unerwarteter Entwicklungen. HROs schaffen es, Störungen weitestgehend zu vermeiden und schnell zu lösen, ohne dabei nachhaltig negative Konsequenzen davonzutragen. Dies erreichen sie u.a. dadurch, dass ihre Mitarbeiter:innen sich hierarchieübergreifend bewusst sind, dass jede:r Einzelne überall in der Organisation einen zentralen Beitrag für den Erfolg der Organisation leistet. Den Mitarbeiter:innen von HROs wird viel Handlungsspielraum beim Entscheiden zugestanden, je nach Erfordernis von definierten Routinen abzuweichen (Senge und Dombrowski 2015, S. 92).
Durch kontinuierliche Aufsicht und regelmäßige Inspektion stellen High Reliability Organizations die Aufrechterhaltung einer „Kultur der Achtsamkeit“ sicher, indem sie Mitarbeiter:innen dafür sensibilisieren, Erwartungen und Erfahrungen immer wieder zu hinterfragen (Weick und Sutcliffe 2007, S. 46 f.). Mitarbeiter:innen von HROs wissen, dass sie die Wechselwirkungen komplexer Systeme, in denen sie agieren, nie vollständig erfassen können.
In High Reliability Organizations wird daher gar nicht erst versucht, die mit dem Betreiben komplexer Technologien verbundene Unsicherheit durch Formalisierung der Organisationsstrukturen und -praktiken zu reduzieren. Vielmehr sind HROs bestrebt, Unsicherheit aktiv zu managen (Weick und Sutcliffe 2006; Sutcliffe 2011). Dafür trainieren Mitarbeiter:innen von HROs, permanent eine hohe Acht- und Wachsamkeit (mindfulness und awareness) an den Tag zu legen, um auf unerwartet eintretende Ereignisse adäquat reagieren zu können. Weick und Sutcliffe beschreiben es so:
„When people have well-developed situational awareness, they can make the continuous adjustments that prevent errors from accumulating and enlarging. Anomalies are noticed while they are still tractable and can still be isolated. All of this is made possible because HROs are aware of the close ties between sensitivity to operations and sensitivity to relationships. […] People in HROs know that you can’t develop a big picture of operations if the symptoms of those operations are withheld.“ (Weick und Sutcliffe 2007, S. 12 f.)
Neben der aufmerksamen Beobachtung der Umgebung ist das kritische Hinterfragen von Entscheidungen und Vorgängen essenziell für High Reliability Organizations. Brandl (2010) beschreibt dies am Beispiel des Verhaltens von Piloten, die systematisch trainieren, im Bedarfsfall Wider- und Einspruch (z.B. gegenüber anderen Pilot:innen oder Fluglots:innen) zu leisten, um mögliche Gefahren anzusprechen. Weick und Sutcliffe (2007) zufolge sind die nachfolgend genannten fünf Merkmale zentrale Indikatoren organisationaler Achtsamkeit, die in HROs herrscht:
3.1 Reflexion möglicher Fehler
(auch: Preoccupation with failure): In High Reliability Organizations ist die Reflexion dessen, was alles schief gehen kann, explizit erwünscht. Zu viel Routine kann Unaufmerksamkeit und Selbstüberschätzung befördern (Bosch 2015, S. 4 ff.). Um das zu verhindern, ermutigen HROs Mitarbeiter:innen, konstant nach Fehlern Ausschau zu halten und immer wieder zu prüfen, ob Prozesse verändert werden müssen. Das Reflektieren von Fehlern bedeutet allerdings nicht, dass in HROs alle Prozesse stets streng normiert sind. Den Mitarbeiterinnen wird Spielraum gewährt. Es wird darauf verzichtet, stets höchste Effizienz anzustreben, um somit Ressourcenpuffer („organizational slack“) entstehen zu lassen (Näslund 1964).
Dieses Vorgehen „ermöglicht kontinuierliche Situationsdeutungen aus verschiedenen Perspektiven und erhöht das Potenzial, frühzeitig auf mögliche Unfallursachen und unerwartete Entwicklungen reagieren zu können“, schildern Senge und Dombrowski (2015, S. 94). Damit einher geht, dass der Intuition der Mitarbeitenden vertraut wird, wenn diese eine diffuse Ahnung äußern, dass irgendetwas nicht stimme (Weick et al. 1999). Jeder auftretende Fehler wird zum Anlass genommen, bestehende Prozesse zu überprüfen, aus Fehlern zu lernen und diese so zu verhindern (dafür kommt in HROs u.a. die Critical Incident Technique zur Anwendung). HROs legen Wert auf eine positive Fehlerkultur, die auszeichnet, dass Mitarbeiter:innen für das Aufzeigen von Fehlern nicht getadelt, sondern dazu ausdrücklich ermutigt werden und dafür Lob erfahren (Weick und Sutcliffe 2007, S. 9.).
3.2 Vermeidung von Vereinfachung
(auch: Reluctance to simplify): Je höher die Komplexität von Prozessen ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass in Organisationen ein gewisses Maß an Vereinfachung in der Darstellung und Erklärung von Prozessen erfolgt, wenn diese Prozesse neuen Mitarbeiter:innen verständlich gemacht werden sollen. Vereinfachung allerdings kann gefährlich sein, wenn sie zu stark ausgeprägt ist (Korzybski 1958, S. 58 ff.; Nixdorf 2022). High Reliability Organizations ergreifen daher Maßnahmen, um ein detailliertes Bild Ihrer Organisation und der darin ablaufenden Prozesse zu erlangen. Sie sind achtsam in ihrer Analyse und sensibilisieren Mitarbeiter:innen dafür, detailliertere Informationen zu sammeln und einzufordern. Mitarbeiter:innen auf jeder Hierarchiestufe der Organisation wird die Verantwortungsübernahme zugestanden und eingefordert, sich detailliert mit Prozessen vertraut zu machen, diese zu erforschen und zu validieren. HROs sind so strukturiert, dass sie den Mitarbeiter:innen Zeit einräumen, um zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Diese Lern- und Reflexionszeit ist in den Arbeitsalltag integriert. Ihr Erfolg wird im Rahmen von Feedback-Programmen sichergestellt (Weick und Sutcliffe 2007, S. 10 f.)
3.3 Sensibilität für betriebliche Abläufe
(auch: Sensitivity to operations): Mitarbeiter:innen von High Reliability Organizations sind sensibilisiert für die Bedeutung betrieblicher Abläufe. Die Organisationsleitung weiß, dass die wichtigste Arbeit von den Mitarbeiter:innen in deren Alltag, an vorderster Front, auf dem Street Level geleistet wird. HROs sind weniger strategisch und stärker situativ ausgerichtet, als das bei vielen anderen Organisationen der Fall ist. Mitarbeiter:innen von HROs verfügen über ein gut entwickeltes Situationsbewusstsein („situational awareness“). Sie können dadurch erfolgreich sein, dass ihnen gestattet ist, bei Bedarf eigenverantwortlich Prozessanpassungen vorzunehmen, wenn das Fehler verhindert (Weick und Sutcliffe 2007, S. 12 f.).
Sensibel für betriebliche Ablaufe zu sein schließt mit ein, die Feinheiten einer Situation wahrzunehmen, Muster zu erkennen und zu verstehen, wie einzelne Aktionen das Gesamtergebnis beeinflussen. „Hier geht es um ein Verständnis der kleinteiligen, täglichen Interaktionen von Organisationsmitgliedern in der Auseinandersetzung mit Komponenten des technischen Systems. HROs versuchen, verteilt über verschiedene Abteilungen und Organisationsmitglieder stets eine akkurate kognitive Repräsentation des Zustands des technischen Systems und der für seine Aufrechterhaltung notwendigen Betriebsabläufe zu erstellen“, schreiben Senge und Dobrowski (2015, S. 92 f.)
3.4 Streben nach Resilienz
(auch: Commitment to resilience): In High Reliability Organizations sind sich Mitarbeiter:innen bewusst, dass das Zusammenwirken aller an den Prozessen Beteiligter über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Jedes Glied in der Kette trägt dazu bei. Die Mitarbeiter:innen wissen um die Notwendigkeit, sich in ihren vorausschauenden Aktivitäten zu ergänzen. Ihr Streben nach Resilienz meint die Fähigkeit von HROs, sich selbst zu erhalten und einen dynamisch stabilen Zustand aufrechtzuerhalten, der es ermöglicht, den Betrieb selbst nach Katastrophen fortzusetzen (als Beispiel können die Feuerwehren genannt werden, die am 11. September 2001 nach den Terroranschlägen von New York im Einsatz waren).
Das zentrale Markenzeichen einer HRO ist Weick und Sutcliffe (2007, S. 14) zufolge nicht, dass sie immer fehlerfrei agieren, sondern dass Fehler sie nicht lahnlegen oder gar zerstören. HROs entwickeln Fähigkeiten zum Erkennen, Eindämmen und Reparieren von Fehlern – und setzen das um, auch in stressigsten Situationen. Sie sind flexibel und gestalten ihre Systeme entsprechend selbstkorrigierend und ausfallsicher. Das gelingt ihnen durch die Kombination aus Fehlerminimierung und Improvisation. Bei Problemen erfinden die Mitarbeiter:innen von HROs Problemumgehungslösungen, die es ermöglichen, das System weiterhin funktional zu halten. „Improvise. Adapt. Overcome“ – so lautet das Motto in HROs, das ebenfalls als Mantra der US Marines gilt (Keller 2006). Die Fähigkeit dazu setzt eine umfassende Kenntniss von Technologie, Prozessabläufen und beteiligten Personen voraus. HROs legen daher neben regelmäßigen Schulungen und Trainings des Personals viel Wert darauf, Austausch und Zusammenarbeiten von erfahrenen Mitarbeiter:innen mit noch weniger Erfahrenen zu ermöglichen, um Lernen zu befördern.
3.5 Entscheidungskompetenz nach Expertise
(auch: Deference to Expertise): Zu guter Letzt zeichnet High Reliability Organizations aus, dass Entscheidungen nicht nach Hierarchiestufen getroffen werden, sondern nach Expertise. Entscheidungen, die Einfluss auf Prozessabläufe in der Organisation nehmen, werden von Mitarbeiter:innen getroffen, die am meisten Ahnung von der Materie haben (Weick und Sutcliffe 2007, S. 158). Dirk Baecker (1994, S. 47) bezeichnet ein solches Vorgehen als „vagabundierende Führung“. Der Organisations-, Bereichs- oder Teamleitung kommt „nur noch, aber wesentlich, die Aufgabe zu, zu sichern, dass das Zepter tatsächlich dorthin kommt, wo die Kompetenz sitzt, und anschließend nicht usurpiert, sondern weitergegeben wird“ (a.a.O., S. 47). Das sorgt dafür, dass es in HROs sein kann, dass die Entscheidungshoheit, was wann wie zu tun ist, mitunter bei Mitarbeiter:innen auf einer tieferen Hierarchiestufe liegt, wenn diese über ein umfassenderes Situationsbewusstsein und mehr Erfahrung verfügen als ihre Vorgesetzten.
Die genannten HRO-Prinzipien können Orientierung für Organisationen geben, die ihre Prozesse zuverlässiger gestalten wollen, dürfen aber nicht als Patentrezept verstanden werden. Organisationen müssen stets ihre eigenen Schwerpunkte entwickeln, Prozesse gemäß der eigenen Anforderungen ausprägen und eine eigene Definition der HRO-Arbeitspraktiken ausformulieren, bevor sie sich auf den Weg machen, selbst zu einer HRO zu werden (Weick und Sutcliffe 2007, S. 139 ff.). Der Aufbau einer hochzuverlässigen Organisation ist kein einmaliger Vorgang, sondern ein fortlaufender Prozess des Beobachtens, Analysierens, Handelns und Reformierens. Das solle die kontinuierliche Prozessoptimierung sicherstellen, weshalb ein Finaler „Best“-Zustand nie erreichbar, aber stets anzustreben, ist.
Die Verwirklichung des HRO-Ansatz ist zudem nur dann möglich, wenn die gesamte Organisation eingebunden ist und wenn Mitarbeiter:innen und Organisationsleitung sich nicht nur auf einzelne Instrumente und Individuen verlassen. „Das Kollektiv sollte in die gleiche Richtung schauen, um die erforderlichen Voraussetzungen sicherzustellen und die Zuverlässigkeit in den Prozessen zu steigern“, hebt Rosen (2023) hervor. Wenn eine Organisation die HRO-Prinzipien als Teil ihrer Organisationskultur verinnerlicht hat und ihr Handeln systematisch danach ausrichtet, kann der HRO-Ansatz eine positive Auswirkung auf die Performance der Organisation haben.
4 Kritik am HRO-Konzept
Diverse Wissenschaftler:innen, Unternehmensberater:innen, Manager:innen u.a. sind der Auffassung, dass HRO aufgrund ihrer Fähigkeiten, Unsicherheiten zu managen, Vorbild für andere Organisation sein können (Enya et al. 2020; Deloitte 2017; Mellor et al. 2015; Hopkins 2009). Loidl und Kaufmann (2017) und Brückner und Böwer (2015) zeigen auf, dass von einer Kultur der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, wie sie die High Reliability Theory propagiert, auch sozialpädagogische Organisationen profitieren können.
Senge und Dombrowski (2015, S. 87 ff.) erkennen Aspekte der Steigerung von Achtsamkeit in Organisationen als positiv an, sehen die Frage, ob sämtliche Organisationen von der HRO-Systematik profitieren können, allerdings skeptisch. Sie argumentieren, dass sich die Umwelt von HROs deutlich von den Umwelten anderer Organisationen unterscheide. Daher stellen sie in Frage, ob sämtliche Organisationen von HROs lernen könnten und ob sich auch deren Prozesse hin zu mehr Zuverlässigkeit und Achtsamkeit optimieren ließen, wenn sie die von Weick und Sutcliffe (2007) postulierten HRO-Merkmale übernehmen.
Senge und Dombrowski (2015) heben hervor, dass die Unsicherheit bei HROs prinzipiell aus dem technologischen Kern der dortigen Prozessabläufe resultiere, während dies bei Nicht-HROs nur bedingt der Fall sei. Bei Nicht-HROs resultieren Unsicherheiten vor allem aus der Umwelt der Organisation (und nicht aus der Komplexität der dortigen Abläufe), auf welche die Mitarbeiter:innen in Organisationen nur sehr begrenzt Einfluss nehmen könnten.
Bezugnehmend auf das Beispiel des Jugendamtes bzw. des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) erklären sie, dass diese Organisation mit Umweltdynamiken konfrontiert sei, die sich nicht kontrollieren ließen. Es ließen sich zwar auch im Allgemeinen Sozialdienst Strategien beobachten, die jenen von HROs glichen, dass diese zu ebenso reliablen Organisationsergebnissen führten wie in HROs, sei jedoch unwahrscheinlich, zumal beim Allgemeinen Sozialdienst keine enge Kopplung zwischen Organisationshandeln und dem Erreichen der Organisationsziele zu beobachten sei. Senge und Dombrowski schildern:
„Während die Organisationsstrategien und die Organisationskultur von HROs für den ASD in Bezug auf die Wahrnehmung und organisationale Verarbeitung von Kindeswohlgefährdungen möglicherweise unterstützende Wirkung entfalten könnten, steht die lose Kopplung zwischen Organisationshandeln und Ergebnissen dem entgegen. Im Unterschied zu HROs, bei denen der Umweltdruck eine positive Wirkung auf den sicheren Betrieb des technischen Systems ausübt, da derart hohe Betreiberkosten und eine ‚Kultur der Achtsamkeit‘ gefördert werden, ist der ASD mit einem Umweltdruck konfrontiert, der nicht notwendigerweise unterstützend wirkt: Die Akteure der Umwelt des ASD dienen nicht primär dazu, Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit der ASD sein primäres Ziel erreichen kann, häufig wirken sie eher kontrollierend und sanktionierend. In der Konsequenz orientieren sich der ASD und seine Mitarbeiter daher zunehmend an formalen Vorgaben und Regelungen, um sich gegen einen entsprechenden Umweltdruck abzusichern.“ (Senge und Dombrowski 2015, S. 89)
Summa summarum heben Senge und Dombrowski (2015, S. 100) hervor, eine Übertragung der Erkenntnisse der High Reliability Theory auf andere Organisationen erscheine nur dann sinnvoll, wenn die Unsicherheit, mit der eine Organisation konfrontiert sei, jener Unsicherheit gleiche, die aus dem technischen System von High Reliability Organizations resultiere.
5 Quellenangaben
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Weick, Karl E., Kathleen M. Sutcliffe und David Obstfeld, 1999. Organizing for High Reliability: Processes of Collective Mindfulness. In: Research in Organizational Behavior. 21(3), S. 81–123.. ISSN 0191-3085
6 Literaturempfehlungen
Apelt, Maja und Konstanze Senge, Hrsg., 2014. Organisation und Unsicherheit, S. 87–102. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-5311-9236-9
Brandl, Klaus Peter, 2010. Crash-Kommunikation: Warum Piloten versagen und Manager Fehler machen. Offenbach: Gabal. ISBN 978-3-8693-6055-3
Hagen, Jan U., 2017. Fatale Fehler: Oder warum Organisationen ein Fehlermanagement brauchen. Berlin, Springer Gabler. ISBN 978-3-662-55483-8
Weick, Karl E. und Kathleen M. Sutcliffe, 2007. Managing the Unexpected. San Francisco, CA: Wiley und Sons. Second Edition. ISBN 978-0-7879-9649-9
Bargstedt, Uwe, Horn, Günter und Amanda van Vegten, Hrsg., 2014. Resilienz in Organisationen stärken – Vorbeugung und Bewältigung von kritischen Situationen. Frankfurt am Main: Verlag für Polizeiwissenschaft. ISBN 978-3-86676-393-7
Verfasst von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Es gibt 3 Lexikonartikel von Christian Philipp Nixdorf.
Zitiervorschlag
Nixdorf, Christian Philipp,
2024.
High Reliability Organization [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 05.08.2024 [Zugriff am: 10.10.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/30023
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/High-Reliability-Organization
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