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Homo oeconomicus

Prof. Dr. Georg Kortendieck

veröffentlicht am 15.09.2020

Etymologie: lat. homo der Mensch, oeconomicus der Haushalter, homo oeconomicus „Wirtschaftsmensch“

Der Begriff Homo oeconomicus ist ein theoretisches Konstrukt, dass in den Wirtschaftswissenschaften beschreibt, wie sich Menschen unter der Annahme eigennützigen und rationalen Entscheidens verhalten.

Überblick

  1. 1 Verhaltensmodelle
  2. 2 Kritik an den Modellannahmen
  3. 3 Quellenangaben

1 Verhaltensmodelle

Ändern sich Situationsbedingungen, wie Einkommen, Güterpreise und Präferenzen, lassen sich die daraus entstehenden Verhaltensänderungen im Prinzip und als Muster, nicht aber im Einzelfall erklären oder vorhersagen. Die grundlegenden Annahmen eines vernünftigen, rationalen Verhaltens und der Eigennutzverfolgung resultieren aus vier Verhaltensannahmen (Mankiw und Taylor 2012):

  1. Menschen stehen vor abzuwägenden Entscheidungen. Sie müssen sich beim Wirtschaften für oder gegen eine Lösung entscheiden.
    Beispiel: Eine Sozialarbeiterin, die mit einer Klientin ein Gespräch führt, kann nicht gleichzeitig einen Hausbesuch bei einem anderen Klienten durchführen.
  2. Sie lassen sich von den Opportunitätskosten, d.h. den Kosten, die sich ergeben, wenn man auf eine nächstbeste Alternative verzichtet, leiten.
    Beispiel: Beide Tätigkeiten (Beratungsgespräch/Hausbesuch) sind für die Sozialarbeiterin wichtig, beide sind dringlich. Sie „verzichtet“ im Fall des Beratungsgespräches mit einer Klientin auf den Hausbesuch bei dem anderen Klienten. Sie kann den Hausbesuch vielleicht nachholen; in dieser Zeit müsste sie aber vielleicht auch ein dringendes Gespräch mit einer Jugendhilfeeinrichtung führen.
  3. Sie verhalten sich rational und denken in Grenzbegriffen. Sie maximieren solange ihren Nutzen, bis er die dadurch für sie entstehenden Kosten nicht mehr übersteigt.
    Beispiel: Wann würde die Sozialarbeiterin ein Gespräch beenden und sich zum Hausbesuch aufmachen? Nach ökonomischer Vorstellung, wenn der zusätzliche Nutzen weiterer Gesprächseinheiten ihre (Opportunitäts-)Kosten (ihre Zeit) nicht mehr übersteigt, sondern eher geringer als die Kosten ausfallen. Sie könnte also dann etwas „Besseres“ machen, eben den Hausbesuch nachholen.
  4. Menschen reagieren auf Anreize. Sie ziehen eine bessere Alternative einer schlechteren vor.
    Beispiel: Die Sozialarbeiterin hat in ihrer Zielvereinbarung mit ihrem Arbeitgeber vereinbart, dass sie häufiger Beratungsgespräche durchführen soll, statt die aufwendigen Hausbesuche durchzuführen. Bei Erreichen der vereinbarten Ziele hat sie größere Chancen, eine Aufstiegsfortbildung zu besuchen.

Aus diesen Modellannahmen leiten sich in der Ökonomie eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten ab. Beispielhaft sei das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen und die Nachfrage nach Gütern genannt. Der Konsum einer Leistung, wie z.B. ein Kaffee oder ein Beratungsgespräch, bringt Konsument*innen einen bestimmten Nutzen. Bei der ersten Konsumeinheit ist der Nutzenzuwachs (Grenznutzen) besonders groß (Kortendieck 2013, S. 24). Im Beispiel der beratenden Sozialarbeiterin sei unterstellt, dass das erste Gespräch mit der Klientin die größten Fortschritte (= Nutzen) mit sich bringt. Jede weitere Einheit (im Beispiel: jedes weitere Gespräch) stiftet einen weiteren, positiven Nutzen, der jedoch mit fortschreitendem Konsum (Inanspruchnahme) immer weiter abnimmt. Wenn der Nutzenzuwachs abnimmt, sinkt auch die Zahlungsbereitschaft, sodass Nachfrager*innen immer weniger bereit sind, einen bestimmten Preis zu bezahlen. Auch die Klient*innen „zahlen“ einen Preis: sie „opfern“ ihre Zeit. Haben sie das Gefühl, das zusätzliche Gespräch bringe ihn nichts mehr ein, versuchen sie es zu vermeiden.

2 Kritik an den Modellannahmen

Die Modellannahmen des Homo oeconomicus sind innerhalb wie außerhalb der Volkswirtschaftslehre heftig kritisiert worden (Beck 2014, S. 2; Stiglitz und Walsh 2010, S. 139 f.). Die Vorstellung eines allwissenden, kalt kalkulierenden und stets seinen Nutzen maximierenden Subjekts hat ökonomisches Verhalten insgesamt in Misskredit gebracht (Homann und Suchanek 2005, S. 398 ff.). Die Versuche, fehlendes Wissen und eingeschränkte Rationalität als ebenso nutzenorientiertes und rationales Verhalten zu interpretieren, führten zu dem Vorwurf, eine nicht überprüfbare Tautologie zu formulieren, weil jedes Verhalten als rational gedeutet und damit nicht mehr wiederlegt werden könne.

In der Ökonomie selbst orientieren sich die Kritikpunkte an den getroffenen Annahmen oder an der grundsätzlichen Sinnhaftigkeit des Modells. Unterstellt man als Ausgangspunkt kundige Kund*innen, so ergeben sich interessante Erkenntnisse, wenn bspw. die Allwissenheit aufgegeben wird. Die Informationsökonomie zeigt auf, welche Gefahren in institutionellen Settings (z.B. Verträge, Märkte) drohen, wenn eine Marktseite mehr Informationen als die andere hat und diese gemäß der Annahme der Nutzenmaximierung systematisch zu ihrem Vorteil ausnutzt. Die sich damit befassende Principal-Agent-Theorie untersucht, welche Konsequenzen menschliches Verhalten im Unternehmen oder im Gesundheitswesen haben kann, wenn Verträge nicht vollständig ausformuliert sind und eine Partei (Agents) gegenüber der anderen beauftragenden Partei (Principals) Informationsvorteile hat. So wurde dem Gesundheits- und Krankenversicherungsbereich wegen der Informationsasymmetrie der Beteiligten bezüglich arztinduzierter Nachfrage, Moral Hazard der Versicherten sowie Risk Selection der (privaten) Krankenversicherungen ein gravierendes Marktversagen unterstellt und eine staatliche Lösung empfohlen (Kortendieck 2016; Stiglitz und Walsh 2010, S. 385 ff.). Im Personalwesen besteht ebenso ein Anreizproblem, wie man das nicht beobachtbare Verhalten der Mitarbeiter*innen so steuern kann, dass sie die vom Unternehmen erwarteten Ergebnisse erbringen (Kortendieck 2016).

Unterstellt man den nutzenmaximierenden, vernünftigen Menschen als Ausgangspunkt für das überlegene Funktionieren von Märkten, fällt es nicht schwer, bei Nachweis unvollkommener Wirtschaftssubjekte entsprechend auch Marktunvollkommenheiten und letztlich Marktversagen anzunehmen.

Optimistische Kritiker*innen des Modells des Homo oeconomicus bemängeln, dass es kein Lernen und keine Entwicklung gibt (Kahnemann und Tversky 1987). Unwissenheit der Marktakteur*innen sei jedoch kein Mangel. Deswegen nutzen sie Märkte als Entdeckungsverfahren von Informationen. Preise und Preisentwicklungen bündeln die Informationen, Gesetze reduzieren die Komplexität und lassen verlässliche Verhaltensprognosen zu. Dem Staat und seinen Akteur*innen werfen sie eine Anmaßung von Wissen vor: zum einen, dass sie im Gegensatz zum fehlerbehafteten Wirtschaftssubjekt vollkommene Informationen haben, zum anderen, weil sie die wahren Bedürfnisse der Menschen noch besser zu kennen glauben (Hayek 1969; Küppers 2019, S. 140, der den [politischen] Wettbewerb als Entdeckungsverfahren in einem subsidiären, föderalistischen Gesellschaftssystem als überlegen ansieht).

Die Verhaltensökonomie hinterfragt die grundsätzliche Sinnhaftigkeit eines Homo oeconomius und will über die Experimente und Beobachtung realen Verhaltens tatsächliche ökonomische Verhaltensmuster ableiten. Menschen verhalten sich beschränkt rational, begehen systematische „Fehler“ und sind bei der Informationsverarbeitung überfordert. Die Frage ist, ob und wie man solche Fehler prognostizieren und steuern kann (Beck 2014). Eine Reihe systematischer „Fehler“ lässt sich beobachten, wie z.B. die Überschätzung der Gegenwart gegenüber der Zukunft, die Höherschätzung von Verlusten gegenüber Gewinnen oder systematische Überschätzung verfügbarer Daten. Schließlich konnte in verschiedenen Experimenten nachgewiesen werden, dass Menschen sich nicht nur eigennützig, sondern ebenso sozial verhalten und Ungerechtigkeiten nicht ohne weiteres akzeptieren (Kahnemann 2014).

Der Homo oeconomicus beschreibt nach Homann und Suchanek (2005) nicht menschliches Verhalten an sich, sondern wie Menschen reagieren (können), wenn ihr Verhalten zweckrational ist bzw. sein kann (für den sozialen Bereich: Kortendieck 2016). Zudem stellt der Homo oeconomicus in der Ökonomie keine wünschenswerte Norm dar, sondern einen Belastungstest für gesellschaftliche Settings. In einem Marktsystem wird das menschliche Verhalten durch das Eigeninteresse so geleitet, dass Anbieter*innen und Käufer*innen grundsätzlich zueinander finden, obwohl jede*r eigene Interessen verfolgt. Berücksichtigen Regelungen nicht, dass sich Menschen eigennützig verhalten können, sind die Settings in der Regel nicht stabil. Dies trifft zu auf

  • marktwirtschaftliche Regelungen, z.B. indem es in Märkten einen inhärenten Trend zur Monopolisierung gibt
  • bürokratische Lösungen (Anreizproblem)
  • innerorganisationale Lösungen (Problem langfristiger Verträge).

Mit Hilfe des „Market Design“, das Marktlösungen danach bewertet, ob sie tatsächlich zufriedenstellend die Interessen von Nachfrage und Angebot in Einklang bringen und schlecht funktionierende Lösungen durch Neugestaltung der Marktbeziehungen verbessern will, soll dem Rechnung getragen werden. In der Praxis konnte man so bspw. das Angebot und die Nachfrage nach Schul- oder Kita-Plätzen deutlich zufriedenstellender lösen (Roth 2016).

3 Quellenangaben

Beck, Hanno, 2014. Behavioral Economics. Wiesbaden: Springer Gabler. ISBN 978-3-658-03366-8

Hayek, Friedrich August von, 1969. Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. In: Friedrich August von Hayek. Freiburger Studien. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 249–265

Homann, Karl und Andreas Suchanek, 2005. Ökonomik – eine Einführung. Tübingen: Mohr Siebeck. ISBN 978-3-16-148436-0

Kahneman, Daniel, 2014. Schnelles Denken, langsames Denken. München: Pantheon. ISBN 978-3-570-55215-5

Kahneman, Daniel und Amos Tversky, 1987. Rational Choice and the Framing of Decision. In: Robin M. Hogarth und Melvin W. Reder, Hrsg. Rational Choice: The Contrast between Economics and Psychology. Chicago: University of Chicago Press Journals, S. 67–94. 2. Auflage. ISBN 978-0-226-34859-9

Kortendieck, Georg, 2013. Volkswirtschaftslehre kompakt – Mikroökonomie und Makroökonomie – Studienbrief des Hochschulverbandes Distance Learning. Brandenburg: Service Agentur des HdL. ISBN 978-3-86946-171-7

Kortendieck, Georg, 2016. Wir sind die Guten – Braucht es Kontrollen im Sozialen Bereich. In: Armin Wöhrle, Hrsg. Moral und Geschäft: PositionenzumethischenManagement in der Sozialwirtschaft. Baden-Baden: Nomos, S. 111–136. ISBN 978-3-8487-2261-7 [Rezension bei socialnet]

Küppers, Arnd, 2019. Subsidiarität und Demokratie. In: Volker Kronenberg und Jakob Horneber, Hrsg. Die repräsentative Demokratie in Anfechtung und Bewährung. Wiesbaden: Springer VS, S. 135–144. ISBN 978-3-658-26363-8

Mankiw, N. Gregory und Mark P. Taylor, 2012. Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Stuttgart: Schäffer-Poeschel. ISBN 978-3-7910-3098-2

Roth, Alvin R., 2016. Who Gets What – and Why: The New Economics of Matchmaking and Market Design. Eamon Dolan: Mariner. ISBN 978-0-544-70528-9

Stiglitz, Joseph E. und Carl E. Walsh, 2010. Mikroökonomie. 4. Auflage. München: Oldenbourg. ISBN 978-3-486-58477-6

Verfasst von
Prof. Dr. Georg Kortendieck
Diplom-Volkswirt, Dekan Fakultät Soziale Arbeit, Ostfalia Hochschule Braunschweig-Wolfenbüttel, Langjähriger Leiter mehrerer Bildungsträger, Professor für Betriebswirtschaftslehre im Sozialen Bereich
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Es gibt 3 Lexikonartikel von Georg Kortendieck.

Zitiervorschlag
Kortendieck, Georg, 2020. Homo oeconomicus [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 15.09.2020 [Zugriff am: 08.02.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/6981

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