ICD
Prof. Dr. Sandra Wesenberg
veröffentlicht am 01.05.2024
Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme), kurz ICD, ist ein Klassifikationssystem für Krankheiten, gesundheitsbezogene Zustände und Todesursachen, welches von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben wird.
Überblick
1 Zusammenfassung
1893 wurde eine erste allgemein anerkannte Version eines Klassifikationssystems für Todesursachen ICD (International List of Causes of Death; ILCD) veröffentlicht. Diese wurde in den Folgejahren mehrfach überarbeitet, um ein Verzeichnis von Krankheiten erweitert und in sechster Revision 1946 als erste internationale Klassifikation der Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen (ICD) eingeführt. Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification (ICD-10-GM) ist aktuell die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung in Deutschland. Sie beeinflusst den Zugang zu Leistungen des Gesundheits- und Sozialsystems und dient dem effizienteren Austausch von Informationen zwischen den Beteiligten der Unterstützungssysteme. 2019 wurde die ICD-11 durch die WHO verabschiedet und ist 2022 formal in Kraft getreten. Ein Termin zur Einführung als amtlich gültige Klassifikation für den klinischen Alltag in Deutschland steht noch nicht fest
2 Historische Entwicklung
Bereits in der Antike gab es erste Überlegungen zur Klassifikation von Krankheiten. Vorläufer finden sich etwa in der Humoralpathologie oder Humorallehre – einer in der Antike ausgebildeten Krankheitslehre von den sogenannten „Körpersäften“ (Kollesch 2019). Die Konzepte zur Klassifizierung von Krankheiten entwickelten sich seitdem beständig weiter. Ab dem 19. Jahrhundert mehrten sich die Bemühungen, ein internationales Klassifikationssystem zu schaffen. 1893 wurde die erste internationale Klassifikation der Todesursachen veröffentlicht (erste Version der heutigen ICD, benannt allerdings zunächst als International List of Causes of Death – ILCD; Bertillon und Farr 1893). Es dauerte weitere 40 Jahre (und sechs Revisionen, also Überarbeitungen), bis aus dieser internationalen Liste der Todesursachen ein erstes gemeinsames Verzeichnis von Todesursachen und Krankheiten entstand. 1946 wurde die erste internationale Klassifikation der Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen eingeführt, die ICD-6 (WHO 1950). Es folgten seitdem etwa im Zehn-Jahres-Rhythmus neue Auflagen und Erweiterungen (Zogg 2005):
- 1955: ICD-7,
- 1965: ICD-8,
- 1976: ICD-9 sowie
- 1992: ICD-10.
3 ICD-10
Die 10. Revision der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme wurde 1992 eingeführt und ist in der deutschsprachigen Version (ICD-10-GM) die amtliche Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen in Deutschland. Die ICD-10-GM ist in verschiedenen Fassungen und Formaten erhältlich und wird zurzeit jährlich überarbeitet; die aktualisierte Version tritt zu Jahresbeginn in Kraft und ist bis Ende des Jahres gültig. Alle an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Mediziner:innen, Therapeut:innen und ärztlich geleiteten Einrichtungen – z.B. Kliniken, Reha-Einrichtungen – müssen verpflichtend die ICD in der aktuell gültigen Fassung nutzen (§ 295 Abs. 1 Satz 2 SGB V).
Zweck der ICD ist es, eine systematische Erfassung von Mortalitäts- und Morbiditätsdaten (Todesursachen und Krankheiten) zu ermöglichen. Diagnosen von Krankheiten und anderen Gesundheitsproblemen werden in der Klassifikation einem alphanumerischen Code zugeordnet und erlauben über die einheitliche Codierung einen Vergleich auf nationaler und internationaler Ebene. Die Codes in der ICD-10 sind maximal fünfstellig (ein großgeschriebener Buchstabe am Anfang mit folgenden Ziffern), wobei jede Stelle eine spezifische Bedeutung hat. Der Buchstabe und die folgenden zwei Ziffern bezeichnen die Hauptkategorie einer Diagnose, z.B. F32 Depressive Episode. Mit zusätzlichen Ziffern nach einem Punkt können Diagnosen genauer gefasst werden, z.B. F32.0 Leichte depressive Episode.
4 ICD-11
Die ICD-11 (WHO 2019) wurde im Mai 2019 auf der 72. Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly) verabschiedet und ist am 1. Januar 2022 in Kraft getreten. Über den Zeitpunkt einer Einführung zur Mortalitäts- und Morbiditätscodierung in Deutschland sind noch keine Aussagen möglich (BfArM o.J.). Aktuell (Stand: 02/2024) liegt eine (noch nicht autorisierte) Entwurfsfassung der deutschsprachigen Übersetzung der ICD-11 vor. ICD-11-Codes umfassen mindestens vier und höchstens sechs Zeichen, wobei an zweiter Stelle immer ein Buchstabe steht, z.B. 6A70 Einzelne depressive Episode.
Die Neufassung der ICD ist das Ergebnis eines mehr als zehnjährigen inhaltlichen Überarbeitungsprozesses und enthält Ergänzungen bestimmter Kategorien und Definitionen bzw. Veränderungen der Codierung bestimmter Diagnosen. So wurden in der ICD-11 unter anderem neue Kapitel aufgenommen, etwa „Zustände, die die sexuelle Gesundheit betreffen“, oder Kapitel neu gruppiert, z.B. „Erkrankungen des Schlafes“. Neben zahlreichen inhaltlichen Überarbeitungen in allen Kapiteln wurde zudem die neue Sektion „Funktionsfähigkeit“ eingeführt. Diese enthält Kategorien, die der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit (International Classification of Functioning, Disability and Health, ICF) entnommen sind und die Beschreibungen der Funktionsfähigkeit einer Person in den Bereichen Aktivität und Teilhabe ermöglichen (Jakob 2018).
Außerdem wurde die ICD von einem Printprodukt in Buchform in eine elektronische Infrastruktur überführt. Zudem soll die Nutzer:innenfreundlichkeit verbessert werden. Entsprechend sind Index, systematisches Verzeichnis und die Codierregeln in eine einzige logische Struktur eingebunden („Foundation Component“). Alle Einträge (z.B. Kategorien, Diagnosegruppen, Synonyme, Ausschlusskriterien) befinden sich in einer elektronischen Struktur und sind untereinander verknüpft. Die Codierung erfolgt mithilfe des sogenannten „Coding-Tools“, einem webbasierten Codierwerkzeug, welches die Nutzung der ICD erheblich vereinfachen soll (Jacob 2018; Sievers 2021).
5 Kritik
Hinsichtlich der kritischen Auseinandersetzung mit der ICD lassen sich zwei Strömungen unterscheiden: Zum einen gibt es eine grundlegende Kritik an klassifikatorischer Diagnostik in Form der ICD oder des von der American Psychological Association (APA) herausgegeben DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen). Es wird beispielsweise die einseitig defizitorientierte Perspektive, eine vermeintlich willkürliche Grenzziehung zwischen „gesund“ und „krank“ sowie – insbesondere mit Blick auf die Klassifikation psychischer Erkrankungen – eine Ausblendung der sozialen Konstruktion der Diagnosen kritisiert.
Gahleitner, Hintenberger, Kreiner und Jobst (2014, S. 137) bemerken grundlegend, dass die ICD „von Normalitätskonstruktionen, Ethnozentrismen sowie Macht- und Lobbyinteressen geprägt“ sei. Auch wenn klassifikatorische Diagnostik eine möglichst zuverlässige Verarbeitung der über standardisierte Erhebungs- und Auswertungsverfahren erhobenen Informationen anstrebt, so bilden die entsprechenden Befunde keine objektive Realität ab. In der Zuweisung von Phänomen zu sprachlichen Klassifikationen spiegeln sich immer Vorstellungen bzw. Konstruktionen von Normalität vs. Abweichung wider.
Neben der grundlegenden Kritik an klassifikatorischer Diagnostik erfolgt zum anderen eine Auseinandersetzung mit einzelnen Kategorien und Codierungen. Mit jeder Neufassung der ICD gehen kritische Einwände von Wissenschaftler:innen sowie Fach- oder Betroffenenverbänden hinsichtlich der erfolgten inhaltlichen Veränderungen einher.
Bezüglich der ICD-11 schätzt etwa die Wissenschaftliche Gesellschaft Autismus-Spektrum (WGAS) e.V. (2022) die Kriterien für die Autismus-Spektrum-Diagnosen als zu unscharf ein. Weiterhin werden beispielsweise die Kriterien für die Einordnung von Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörungen kritisiert (Schulte-Körne 2021).
Demgegenüber gibt es eine Reihe positiver Einschätzungen zu bestimmten Veränderungen. So werden u.a. die Neuaufnahmen einer Klassifikation für Tumorschmerz (Bennet et al. 2019) sowie einer Diagnose für pathologisches Horten (Külz 2021) als gerechtfertigt gesehen und als positive Veränderung für die Behandlungspraxis beurteilt. Zudem werden beispielsweise „Störungen der Geschlechtsidentität“ in der ICD-11 nicht mehr als psychische Störungen pathologisiert, sondern (neutral) als „Bedingungen im Zusammenhang mit der sexuellen Gesundheit“ bestimmt, was u.a. der Bundesverband Trans* e.V. (2018) ausdrücklich begrüßt.
6 Ausblick
Grundlegend bestimmt die ICD in entscheidender Weise den Zugang zu Leistungen des Gesundheits- und Sozialsystems. Zudem stellt sie trotz kritischer Einwände ein wichtiges Mittel für den zeit- und ressourceneffizienten Austausch von Informationen zwischen verschiedenen Akteuren der beteiligten Unterstützungssysteme dar.
Sievers (2021, S. 119) empfiehlt zukünftig eine stärkere Verknüpfung der Blickwinkel der ICD und der ICF.
„Während die ICD Krankheiten klassifiziert, klassifiziert die ICF Komponenten von Gesundheit. ICF kann verwendet werden, um funktionsbezogene Ziele und Bedarf an Unterstützung zu beschreiben, die mit der Person vereinbart wurden. Gleichzeitig kann auch der therapeutische Erfolg durch ICF dokumentiert werden. Die Blickwinkel von ICD und ICF ergänzen sich also. Zusammen liefern sie ein umfassendes Bild von der Gesundheit eines Menschen“.
7 Quellenangaben
Bennett, Michael, Stein Kaasa, Antonia Barke, Beatrice Korwisi, Winfried Rief und Rolf-Detlef Treede, 2019. The IASP classification of chronic pain for ICD-11: chronic cancer-related pain. In: Pain. 160(1), S. 38–44. ISSN 0304-3959
Bertillon, Jacques und William Farr, 1893. Manual of the International list of causes of death. London: Department of Commerce and Labor
Bundesinstitut für Arzneimitteln und Medizinprodukte (BfArM), o.J. ICD-11 [online]. Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 11. Revision. Bonn: Bundesinstitut für Arzneimitteln und Medizinprodukte (BfArM), 2024 [Zugriff am: 17.02.2024]. Verfügbar unter: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/​Klassifikationen/ICD/ICD-11/​_node.html
Bundesverband Trans* e.V., 2018. BVT* begrüßt ICD 11 der WHO: Verbesserung der Transgendergesundheitsversorgung in Aussicht [online]. Berlin: Bundesverband Trans* e.V., 19.06.2018 [Zugriff am: 17.02.2024]. Verfügbar unter: https://www.bundesverband-trans.de/bvt-begruesst-icd-11-der-who-verbesserung-der-transgendergesundheitsversorgung-in-aussicht
Gahleitner, Silke Birgitta, Gerhard Hintenberger, Barbara Kreiner und Angelika Jobst, 2014. Biopsychosoziale Diagnostik: Wie geht denn das konkret? Plädoyer für ein „integratives diagnostisches Verstehen“. In: Resonanzen: E-Journal für biopsychosoziale Dialoge in Psychotherapie, Supervision und Beratung [online]. 2/2014, S. 134–152 [Zugriff am: 17.02.2024]. ISSN 2307-8863. Verfügbar unter: http://www.resonanzen-journal.org
Kollesch, Jutta, 2019. Kleine Schriften zur antiken Medizin. Berlin: De Gruyter. ISBN 978-3-11-065341-0
Külz, Anne Katrin, 2021. Pathologisches Horten als neue Diagnose in der ICD-11: Charakteristika und Behandlung. In: Psychotherapeutenjournal. 2/2021, S. 126–133. ISSN 1611-0773
Schulte-Körne, Gerd, 2021. Verpasste Chancen: Die neuen diagnostischen Leitlinien zur Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung der ICD-11. In: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie [online]. 49(6), S. 1–5 [Zugriff am: 17.02.2024]. ISSN 1664-2880. Verfügbar unter: doi:10.1024/1422-4917/​a000791
Sievers, Christoph, 2021. ICD-11: Mehr als nur ein Update. In: Uwe Repschläger, Claudia Schulte und Nicole Osterkamp, Hrsg. Gesundheitswesen aktuell 2021. Beiträge und Analysen [online]. S. 96–124 [Zugriff am: 17.02.2024]. Berlin: Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung. Verfügbar unter: doi:10.30433/​GWA2021-96
Wissenschaftliche Gesellschaft Autismus-Spektrum (WGAS) e.V., 2022. Kommentar und Stellungnahme der Wissenschaftlichen Gesellschaft Autismus-Spektrum zur ICD-11 [online]. Frankfurt am Main: Wissenschaftliche Gesellschaft Autismus-Spektrum (WGAS) e.V [Zugriff am: 17.02.2024]. Verfügbar unter: https://wgas-autismus.org/2022/11/16/kommentar-und-stellungnahme-der-wissenschaftlichen-gesellschaft-autismus-spektrum-zur-icd-11/
World Health Organization (WHO), Hrsg., 1950. Handbuch der internationalen statistischen Klassifizierung der Krankheiten, Gesundheitsschädigungen und Todesursachen: 6. Überarbeitung des internationalen Verzeichnisses der Krankheiten und Todesursachen. Angenommen 1948 von der Weltgesundheitsorganisation in Genf. Deutsche Ausgabe. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt
World Health Organization (WHO), Hrsg., 2019. ICD-11 [online]. International classification of diseases 11th revision: The global standard for diagnostic health information. Genf: WHO [Zugriff am: 17.02.2024]. Verfügbar unter: https://icd.who.int/en
Zogg, Heidi, 2005. Wandel der psychiatrischen Nosologie von 1950 bis heute (Diagnostik von ICD-6 bis ICD-10) [Dissertation]. Eine kritische Studie zu den ICD-Revisionen. Zürich: Universität Zürich [Zugriff am: 17.02.2024]. Verfügbar unter: http://psychotherapie-zogg.ch/wp-content/​uploads/2020/11/Dissertation-.pdf
Verfasst von
Prof. Dr. Sandra Wesenberg
Gastprofessorin für Klinische Psychologie mit den Schwerpunkten Beratung und Therapie an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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Es gibt 3 Lexikonartikel von Sandra Wesenberg.
Zitiervorschlag
Wesenberg, Sandra,
2024.
ICD [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 01.05.2024 [Zugriff am: 14.10.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1997
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/ICD
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