Identität
Prof. Dr. Georg Auernheimer
veröffentlicht am 31.01.2022
Identität ist zu verstehen als das jeweilige Ergebnis der Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Geschichte, seinem Körper und seiner Lebenslage, auch mit den Bildern, die das soziale Umfeld von ihm hat. Identität im Sinne von Selbstdefinition oder Selbstverständnis muss von der objektivierenden Bedeutung des Begriffs unterschieden werden, wie er zum Beispiel bei Strafverfolgungsbehörden verwendet wird. Dort wird die Identität einer Person durch physische und soziale Erkennungsmerkmale bestimmt.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Identität als eine moderne Anforderung an die Subjekte
- 3 Identitätstheorien und -forschung
- 4 Kulturelle Hybridität und Transgender
- 5 Anerkennung bedeutsam für Identität
- 6 Konsequenzen für Erziehung, Bildung und Sozialarbeit
- 7 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Identität entwickelt sich in der immer neuen Auseinandersetzung des Subjekts mit seiner Geschichte, seinem Körper und seinen Lebensumständen, die auch geprägt sind von den Ansprüchen, Erwartungen und Werturteilen des sozialen Umfelds, generell der Gesellschaft. Identitätsbildung kann als eine moderne Entwicklungsaufgabe gelten. Denn in traditionellen Gesellschaften, in denen der soziale Ort und das Ansehen des Individuums eindeutig bestimmt sind, erübrigt sich eine solche Auseinandersetzung. Das wird am interaktionistischen Ansatz der soziologischen Identitätstheorien deutlich, in denen Personen als Rollenträger agieren. Psychologische Theorien und Forschungen fokussieren den lebensgeschichtlichen Aspekt der Identitätsentwicklung. Eine besondere Herausforderung stellen transkulturelle Lebensgeschichten und Transsexualität dar. Selbstbewusstsein hängt von sozialer Anerkennung ab, zudem erschweren Abwertung und Rechtlosigkeit die Identitätsfindung. Das erklärt die Kämpfe marginalisierter Gruppen um Anerkennung (Identitätspolitik) und hat Konsequenzen für Pädagogik und Sozialarbeit.
2 Identität als eine moderne Anforderung an die Subjekte
Eine hochmobile, von ständigem Wandel gekennzeichnete Gesellschaft, in der man nicht mehr in einem überschaubaren Gemeinwesen lebt, verlangt ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit für die Frage: Wer möchte ich sein? Dieses System, in dem „der flexible Mensch“ (Sennet 2000) gefragt ist, bringt „Individualisierungsgewinn und Unsicherheitszuwachs“ gleichzeitig mit sich (Woltersdorff 2007, S. 180). Es verleitet zum Spiel mit Selbstdarstellungen, nötigt aber auch zu einer gewissen Eindeutigkeit, denn die anderen wollen wissen, wie sie „mit einem dran sind“.
Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen sehen Identität als eine moderne Anforderung an die Subjekte. Für den Sozialphilosophen Zygmunt Bauman ist Identität „eine Erfindung der Moderne“ (Baumann 1994, S. 389). Mit dem Ende der Ständegesellschaft werden, so der Sozialphilosoph Charles Taylor, Ansprüche auf Identität geweckt (Taylor 1993, S. 15 ff.). Damit verbinde sich der Anspruch des modernen Subjekts auf Anerkennung, den vor allem auch der Sozialphilosoph Axel Honneth (1998) zum Thema macht. Der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama verweist auf die „Wahlmöglichkeiten“ in der modernen Marktgesellschaft im Unterschied zu Agrargesellschaften (Fukuyama 2019, S. 54). Auch der Sozialpsychologe Heiner Keupp hält Identitätskonstrukte für eine historisch junge Anforderung. Denn anders als in vormodernen Gemeinschaften „braucht das Individuum […] keinen inneren Zusammenhang zu produzieren, weil die Gesellschaft ihn bietet“ (Keupp et al. 1999, S. 87). Der Ethnologe Werner Schiffauer (1987) bestätigt das aufgrund seiner Feldstudien in einem anatolischen Dorf.
Nicht dass die Menschen in der Vormoderne keine Identität gehabt hätten, aber diese war das Ergebnis der sozialen Zuordnung und erschien quasi naturwüchsig. Identität als subjektive Aufgabe, Leistung und Anspruch ist modern. Mit Karl Marx lässt sich das damit begründen, dass im Kapitalismus sachliche Beziehungen an die Stelle persönlicher Beziehungen getreten sind. Nur die Familie ist noch der Hort persönlicher Beziehungen. Das Geld ist für Marx „das reale Gemeinwesen“ unserer heutigen Gesellschaft (Marx 1974, S. 74 f.). Bei solch abstrakten Beziehungen müssen sich die Einzelnen zur Gesellschaft ins Verhältnis setzen. Systemtheorien liefern eine Erklärung für diesen Vorgang mit der Vielfalt der Subsysteme (Wirtschaft, Recht, Bildungs-, Gesundheitssystem etc.), die die moderne Gesellschaft kennzeichnen. Das Individuum gehört demnach mehreren Subsystemen an, in denen es verschiedene Rollen einnimmt. Aber bei aller Rollenvielfalt muss der oder die Einzelne noch als identische Person erkennbar sein.
3 Identitätstheorien und -forschung
3.1 Soziologische Theorien und Forschungsbeiträge
Es ist vermutlich kein Zufall, dass die erste Identitätstheorie im 19. Jahrhundert in den von Industrialisierung und Migration geprägten Vereinigten Staaten konzipiert wurde. Der US-amerikanische Sozialphilosoph George Herbert Mead (1863–1931) reflektierte die Situation des modernen Individuums, das sich mit verschiedenen Erwartungen seiner Umwelt konfrontiert sieht, mit denen es sich auseinandersetzen muss. Er bildete diese Situation in einem Modell mit drei psychischen Instanzen ab.
Es braucht nach Meads Vorstellung erstens ein Sensorium, das die Erwartungen der Umwelt an mich registriert, von Mead als „Me“ bezeichnet. Unsere Aufmerksamkeit gilt dabei nicht lediglich den Erwartungen der unmittelbaren Interaktionspartner*innen, sondern eines verallgemeinerten anderen („generalized other“), vergleichbar einem Schiedsrichter, der über die Regeln wacht. Aber die Instanz des „I“ oder „Ich“, für Mead vor allem Ausdruck von Spontaneität und Kreativität, bewahrt uns vor reiner Anpassung oder Unterwerfung. Unsere Reaktionen auf das „Me“ wecken das Gefühl von Initiative und Freiheit in uns. Außenerwartung und Eigenwille muss der oder die Einzelne in Übereinstimmung bringen. Dafür steht das „Self“ in Meads Terminologie, das sich auch als „Ich-Identität“ verstehen lässt.
Mead gilt als Begründer des „symbolischen Interaktionismus“. Sein Modell hat der Soziologe Erving Goffman (1922–1982) für die rollentheoretische Interpretation des Alltagshandelns übernommen, in dem sich die Individuen mit unterschiedlichen und wechselnden Rollenerwartungen auseinandersetzen müssen. Dabei müssen sie einerseits für Rollenerwartungen offen sein, dürfen sich aber andererseits nicht selbst aufgeben und müssen daher „Rollendistanz“ üben. „Persönliche Identität“ hat demnach die Person, der die Umwelt Einzigartigkeit bescheinigt. Eine wichtige Fähigkeit des modernen Individuums ist nach Goffman auch das „impression management“. Dieses ist zentral für die „Selbstdarstellung im Alltag“ („The Presentation of Self in Everyday Life“), so der Titel einer frühen Studie (New York 1959). Die deutsche Ausgabe trägt den Titel „Wir alle spielen Theater“ (Goffman 1996). Der soziologische Begriff Rolle ist dem Theater entlehnt, für Goffman ist er jedoch mehr als eine Metapher.
Der Soziologe Lothar Krappmann (*1936) hat die Anforderungen an das Rollenhandeln weiter ausformuliert. Vor allem hat er verdeutlicht, wie die den Individuen angesonnenen Rollenerwartungen explizit oder implizit ausgehandelt werden müssen („bargaining“), wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen nicht opfern wollen. Außerdem würden sie allzu leicht in wechselnden Rollen unglaubwürdig, wenn sie jeweils allen Erwartungen entsprechen. Krappmann vergleicht das Rollenspiel mit dem Agieren „eines geschickten Händlers“ (Krappmann 1971, S. 56).
3.2 Psychologische Theorien und Forschungsbeiträge
Während die Soziologie Annahmen über die gesellschaftlichen Anforderungen an die Individuen und die subjektiven Voraussetzungen für eine gelingende Interaktion formuliert hat, fokussieren psychologische Beiträge den Prozess der Identitätsentwicklung und die sozialen Bedingungen von Identitätsarbeit. Aus der psychologischen Literatur über Identität sollen zwei Beiträge herausgegriffen werden.
Erik H. Erikson (1902–1994), bekannt für sein Modell der Entwicklungsstufen, stellt die Identitätsfindung in den Mittelpunkt, Heiner Keupp (*1943) die Identitätsarbeit.
Erikson hat zwar eine teleologische Vorstellung von psychischer Entwicklung, die am Modell organischen Wachstums orientiert ist, aber dennoch ist für ihn der Mensch von Geburt an ein aktives Subjekt, das sich in Auseinandersetzung mit inneren und äußeren Konflikten entwickelt. Dieser Standpunkt bestimmt sein Modell der Identitätsentwicklung: Die Lösung jeweils altersspezifischer Konflikte konfrontiert die Heranwachsenden mit den Konflikten und Aufgaben einer neuen Stufe. Die spezielle Aufgabe des Subjekts im Jugendalter ist es, ein Selbstbild zu entwerfen und seine soziale Rolle zu finden, wobei Gruppenzugehörigkeit für Erikson bedeutsam ist. Fehlentwicklungen sieht er als Therapeut einerseits in Fixierungen und andererseits in Wechselhaftigkeit und Indifferenz („Identitätsdiffusion“), beides Ergebnisse einer ungelösten Identitätskrise, die er als „eine normative Krise“ versteht (Keupp 1973, S. 144).
Der kanadische Psychologe James E. Marcia (*1937) wollte sich mit dem Entweder-oder des Ausgangs einer Identitätskrise nicht zufriedengeben. Bei Befragungen von Jugendlichen in den 1960er-Jahren fand er verschiedene Varianten, sich zur Gesellschaft ins Verhältnis zu setzen. Auf dieser Basis entwickelte er, anknüpfend an die Theorie von Erikson, ein Modell mit vier verschiedenen Identitätsstatus, differenziert nach der Selbstverpflichtung auf Weltanschauungen und Werte (Commitment, C) und der Suche nach Alternativen (Exploration, E). Der „diffusen Identität“ (weder C noch E) steht die „kritische Identität“ (wenig C, starke E) gegenüber, der „übernommenen Identität“ (hohes C, keine E) die „erarbeitete Identität“ (hohes C + starke E).
Für Erikson wie für Marcia ist das Ziel eine gelingende Identitätsfindung, was den Einwand provozierte, eine abgeschlossene Entwicklung könne es nicht geben. Heiner Keupp betont daher in seiner Theorie die Unabgeschlossenheit der Arbeit an Identitätsentwürfen oder Identitätskonstrukten. Identität hat für ihn Projektcharakter und ist eine Art Rahmen, innerhalb dessen eine Person ihre Erfahrungen interpretiert und erzählt. Den Stoff für die Selbsterzählung schöpfen wir vielfach aus kulturellen und kulturindustriellen Angeboten. Der Rahmen erlaubt vielfältige Bezüge, was Keupp mit dem Begriff „Patchwork-Identität“ verdeutlicht. Eine wichtige Bedingung für die Identitätsarbeit ist nach Keupp die Einbindung in soziale Netzwerke, in denen der oder die Einzelne Anerkennung und Muster für eigene Identitätsentwürfe findet (Keupp et al. 1999, S. 99; S. 202). Soziale Einbindung und Anerkennung haben in dieser Theorie einen hohen Stellenwert.
4 Kulturelle Hybridität und Transgender
So wie Keupp mit dem Bild vom Patchwork die Vielfalt der Orientierungen veranschaulichen will, die sich heute für die Einzelnen aus dem Wechsel von Jobs, Milieus etc. ergibt, so soll Hybridität als Metapher eine starke Vermischung von kulturellen Orientierungssystemen in manchen Identitätsentwürfen abbilden. Das Subjekt hat in einem solchen Fall zwei oder mehr Sprachen, kulturelle Muster und Praktiken zur Verfügung, ist unter Umständen auch verschiedenen normativen Ordnungen (z.B. im familiären Bereich) verpflichtet. Intellektuelle wie Stuart Hall und Homi K. Bhabha, die aus Ländern des globalen Südens kommend in der akademischen Welt des „Westens“ heimisch wurden und sich in einem Dazwischen, „in between“ (Bhabha 2000) bewegen, haben die Konsequenzen in ihren Theorien reflektiert.
Stuart Hall (1932–2014) kommt von der Karibik. Nach seiner englischen Schulbildung an einem College in Kingston/​Jamaika und seinem Studium in Oxford lehrte er am Center for Contemporary Cultural Studies, zu deren wichtigsten Vertretern er gezählt wird. In einem Interview sagte er von sich, „dass ich die klassischen kolonialen Spannungen als Teil meiner persönlichen Identität lebte“ (Hall 2000, S. 10). „Ich kenne beide Orte [Jamaika und England, G.A.] genau, aber ich gehöre zu keinem Ort völlig“ (a.a.O., S. 16). Menschen, „die für immer aus ihren Heimatländern zerstreut wurden“, tragen nach Hall „die Spuren besonderer Kulturen, Traditionen, Sprachen und Geschichten, durch die sie geprägt wurden, mit sich“ (Hall 1994, S. 218). Hall geht dabei davon aus, dass Traditionen vielfach erfunden sind.
Homi K. Bhabha (*1949) entstammt einer indischen Oberschichtfamilie aus der religiösen Minderheit der Parsen, hat in Mumbai und Oxford studiert und dann im häufigen Wechsel an englischen und US-amerikanischen Universitäten gelehrt. In einem Interview erklärte er, Boston und Mumbai seien auf unterschiedliche Art sein Zuhause. Hybridität kennzeichnet nach Bhabha Kulturen, speziell kolonisierte Kulturen, und Identitäten.
Die Personen können in einer solchen Konstellation die unterschiedlichsten Positionen zu ihren kulturellen Lebensbezügen von Verleugnung bis Stilisierung einnehmen. Ihre Selbstdefinition und -präsentation wird dabei von den Lebensverhältnissen (z.B. institutioneller Rassismus) und häufig kollektiven Erfahrungen (wie Kolonialismus) beeinflusst werden.
Mit interkulturellen Konstellationen ist die Situation von trans Menschen (Transgender) nicht vergleichbar. Aber es gibt insofern eine Analogie, als ihre Geschlechtsidentität nicht eindeutig ist und nach einer Entscheidung verlangt, wenn sie sich in ihrem Körper fremd fühlen. Meist haben sie dabei mit sich und ihrem sozialen Umfeld zu kämpfen, das ihnen in der Regel schon bei der Geburt eine Geschlechtsrolle zugewiesen hat, und zwar orientiert am sichtbaren Genital. Inzwischen haben die Forscher festgestellt, dass das gefühlte psychosexuelle Bedürfnis den somatosexuellen Präjudizien (chromosomale Differenzierung etc.), die sich in einem mehrstufigen pränatalen Prozess entwickelt haben (Bosinski 2000), widersprechen kann. Zudem ist bekannt, dass die binäre Differenzierung weiblich – männlich auf jeder Stufe von einer „bipotenten Anlage“ ausgeht (a.a.O., S. 102 f.). „Intersex-Syndrome können auf allen Ebenen der somatosexuellen Entwicklung entstehen“ (a.a.O., S. 105), weshalb die binäre Geschlechterordnung nicht selbstverständlich ist.
5 Anerkennung bedeutsam für Identität
Wer ausländischer Herkunft ist, eine andere Hautfarbe hat als die Mehrheit, eine andere sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität entwickelt hat, muss mit Diskriminierung rechnen, seien es verletzende Zuschreibungen und Verhaltensweisen im Alltag oder Schwierigkeiten in Institutionen. Die individuellen Reaktionen können schwanken zwischen Tarnung, Verleugnung, Anpassung und stolzer Selbstbehauptung. In jedem Fall stellen Rassismus, Sexismus, Homophobie und Transphobie eine Herausforderung und ständige Belastung dar. Hilfreich kann die Einbindung in soziale Netzwerke sein oder die Knüpfung eines eigenen Netzwerks, in dem die Person Sicherheit verspürt, Vertrauen genießt, Anerkennung erfährt und so Selbstvertrauen gewinnen kann (Keupp et al. 1999).
George H. Mead, für den die individuelle Selbstwahrnehmung über die Wahrnehmung durch andere vermittelt ist, hält Anerkennung für eine wichtige Bedingung von Identitätsbildung. Auch Charles Taylor sieht, ausgehend vom dialogischen Charakter menschlicher Existenz (Taylor 1993, S. 21), Identität „teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt“ (a.a.O., S. 13). Deshalb nimmt er an, dass Menschen Schaden nehmen können, „wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt“ (ebd.). Zu ergänzen wäre, dass auch Fremdbilder, die nicht herabwürdigend sind, aber dem Selbstbild widersprechen, Anerkennung vermissen lassen.
Anknüpfend an Mead hat der Sozialphilosoph Axel Honneth (*1949) eine um Anerkennung zentrierte Sozialphilosophie entwickelt und den „Kampf um Anerkennung“ verständlich gemacht. Honneth unterscheidet drei Formen der Anerkennung: neben der Zuwendung innerhalb der Familie oder der Freundschaft die Zuerkennung gleicher Rechte und die „soziale Wertschätzung“ (Honneth 1998, S. 174 ff.; S. 196 ff.). Wer mindere Rechte hat, ist nicht nur objektiv benachteiligt, sondern muss davon ausgehen, dass ihr oder ihm „moralische Zurechnungsfähigkeit“ aberkannt wird. Aber selbst formal Gleichberechtigte brauchen soziale Wertschätzung. Wenn Menschen entdecken, dass viele ihresgleichen dieselben Diskriminierungserfahrungen machen, so liegt der Zusammenschluss zum Kampf um Anerkennung nahe, wenn nicht schon eine soziale Bewegung mit diesem Ziel besteht. Der Kampf von Frauen, Schwarzen, von LSBT-Personen und anderen Minderheiten richtet sich gegen Benachteiligungen und demütigende Zerrbilder, die eine unbefangene Identitätsarbeit erschweren. Dabei hilft solche Identitätspolitik innerhalb der jeweiligen Bewegung den Einzelnen außerdem, durch ihr Engagement Selbstbewusstsein zu gewinnen.
Ein Teufelskreis besteht darin, dass geringe soziale Wertschätzung auch geringe Sozialchancen begründet, dass aber Erwerbslosigkeit und Armut wiederum geringe Wertschätzung bedingen. Deshalb hält die Philosophin Nancy Fraser (*1947) eine Ergänzung der Politik der Anerkennung um Sozialpolitik für notwendig.
6 Konsequenzen für Erziehung, Bildung und Sozialarbeit
In der Familie kann die Identitätsfindung von Jugendlichen behindert werden, wenn die Eltern starre Vorstellungen von der Entwicklung ihres Sohnes oder ihrer Tochter haben und sie darauf verpflichten wollen. Nach wie vor ist das auch unter postmodernen Verhältnissen möglich, wenn das Kind unbewusst zum Beispiel zur Projektionsfläche nicht eingelöster elterlicher Karriereziele gemacht wird. Solch entwicklungsstörende Mechanismen hat der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter (1923–2011) aufgedeckt.
Schulen und andere pädagogische Einrichtungen müssen ihr Profil und Programm so anlegen, dass sich alle darin wiederfinden können. Ihnen muss signalisiert werden, dass man sich darum bemüht, nicht Mechanismen der Selektion nach Geschlecht, ethnischer und sozialer Herkunft wirksam werden zu lassen. Andererseits sollte Diversity nicht dazu verleiten, Lernenden oder Klient*innen vermeintlich auf sie zugeschnittene Angebote aufzudrängen, um ihnen die Identitätsfindung zu erleichtern – zum Beispiel im Sinne einer gut gemeinten Interkulturalität. Belastende Erfahrungen und Probleme der Selbstfindung werden am produktivsten indirekt über Literatur, Theater und in andere kreative Formen thematisiert. Gegenüber diskriminierenden Ideologien wie Rassismus ist null Toleranz geboten. Aber der erste Schritt müssen Gespräche sein, denkbar in verschiedenen Formaten, wogegen Sanktionen aus pädagogischer Perspektive das letzte Mittel sind.
Soziale Arbeit verhilft durch Resozialisierung oder Eingliederungshilfen dazu, dass Menschen ihre Rolle in der Gesellschaft (wieder-)finden. Die Schwierigkeit besteht in der Segmentierung des Arbeitsmarkts, die die Übernahme einer „ordentlichen“ Arbeit erschwert. Eine berufliche Identität können Arbeitende heute in vielen Jobs nicht mehr finden. Wenn mit Keupp Identität als Erzählung verstanden wird – er spricht auch von „narrativer Identität“ –, dann liegt es nahe, Klient*innen mit schwieriger Vergangenheit zu gemeinsamer Biographiearbeit zu motivieren.
7 Quellenangaben
Auernheimer, Georg, 2020. Identität und Identitätspolitik. Köln: Papyrossa. ISBN 978-3-89438-730-3 [Rezension bei socialnet]
Bauman, Zygmunt, 1994. Vom Pilger zum Touristen. In: Das Argument. 205(3), S. 389–408. ISSN 0004-1157
Bhabha, Homi K., 2000. Die Verortung der Kultur: Kontexte und Spuren einer postkolonialen Identitätstheorie. Tübingen: Stauffenburg. ISBN 978-3-86057-033-3
Bosinski, Hartmut A. G., 2000. Determinanten der Geschlechtsidentität: Neue Befunde zu einem alten Streit. In: Sexuologie. 7(2/3), S. 96–140. ISSN 0944-7105
Erikson, Erik H., 1973. Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-27616-7
Fraser, Nancy, 2001. Die halbierte Gerechtigkeit: Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats. Frankfurt/M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-11743-9
Fukuyama, Francis, 2019. Identität: Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet. 3. Auflage. Hamburg: Hoffmann und Campe. ISBN 978-3-455-00528-8 [Rezension bei socialnet]
Goffman, Erving, 1996. Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag. 5. Auflage. München: Piper. ISBN 978-3-492-20312-8
Honneth, Axel, 1998. Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. 2. Auflage. Frankfurt/M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28729-3
Keupp, Heiner, 1998. Diskursarena Identität: Lernprozesse in der Identitätsforschung. In: Heiner Keupp & Renate Höfer, Hrsg. Identitätsarbeit heute. 2. Auflage. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 11–39. ISBN 978-3-518-28899-3
Keupp, Heiner, Thomas Ahbe, Wolfgang Gmür, Renate Höfer, Beate Mitzscherlich, Wolfgang Kraus und Florian Sraus, 1999. Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek: Rowohlt. ISBN 978-3-499-55634-0
Krappmann, Lothar, 1971. Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart: Klett
Marcia, James E., 1966. Development and Validation of Ego-Identity Status. In: Journal of Personality and Social Psychology. 3(5), S. 551–558. ISSN 0022-3514
Marx, Karl, 1974. Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. 2. Auflage. Berlin: Dietz
Mead, George Herbert, 1973. Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-07628-6
Richter, Horst-Eberhard, 1975. Eltern, Kind und Neurose: Die Rolle des Kindes in der Familie. Reinbek: Rowohlt. ISBN 978-3-499-16082-0
Sennet, Richard, 2000. Der flexible Mensch: Die Kultur des neuen Kapitalismus. 3. Auflage. München: Siedler. ISBN 978-3-442-75576-9
Taylor, Charles, 1993. Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt/M.: Fischer. ISBN 978-3-10-076704-2
Woltersdorff, Volker, 2007. Dies alles und noch viel mehr: Paradoxien prekärer Sexualitäten. In: Das Argument. 273(5/6), S. 179–194. ISSN 0004-1157
Verfasst von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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