Inklusion (Behinderung)
Prof. Dr. Albrecht Rohrmann
veröffentlicht am 20.08.2024
Inklusion bezeichnet ein Menschenrechtsprinzip, das mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) Einzug in den Menschenrechtsdiskurs gefunden hat. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderungen eine volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Inklusion im menschenrechtlichen Diskurs
- 3 Das Verständnis von Behinderungen
- 4 Überwindung von Barrieren
- 5 Ableismus als spezifische Form der Ausgrenzung
- 6 Paternalismus als Risiko einer inkludierenden Exklusion
- 7 Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft
- 8 Die Karriere des Menschenrechtsprinzips Inklusion in der Bundesrepublik Deutschland
- 9 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Der Begriff der Inklusion hat im Zusammenhang der UN-BRK einen Bedeutungswandel erfahren. War er zuvor im systemtheoretischen Diskurs um die Adressierung durch ausdifferenzierte Systeme und im politikwissenschaftlichen Diskurs um soziale Ungleichheit und Ausgrenzung verankert, gewinnt er nun eine normative Dimension (Wansing 2015, S. 43). Auf der Grundlage von rechtlichen Vorgaben und einem systematischen, planerischen Vorgehen soll auf allen Ebenen eine inklusive Infrastruktur entwickelt werden.
Inklusion etabliert sich mit der UN-BRK als Menschenrechtsprinzip (Bielefeld 2017), mit dem das Recht auf einen selbstbestimmten und gleichberechtigten Zugang zu gesellschaftlich relevanten Systemen wie dem Bildungssystem, dem Rechtssystem, dem Erwerbsarbeitssystem oder dem Sozial- und Gesundheitssystem gesichert werden soll.
Als Menschenrechtsprinzip zielt Inklusion auf die Gewährleistung des Rechts auf gleichberechtigte Teilhabe prinzipiell aller Menschen. Die inklusive Öffnung von Systemen und Organisationen erfordert im Sinne der Menschenrechte jedoch auf spezifische Ausgrenzungen zugeschnittene, geeignete Maßnahmen, um die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe an und die Partizipation in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen zu ermöglichen. Die UN-BRK konkretisiert daher das allgemeine Menschenrechtsprinzip bezogen auf die Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen.
Damit Inklusion nicht zu einer appellativen und entpolitisierten Leerformel verkommt, ist es bedeutsam, die Verknüpfung zu den konkreten Vorgaben der UN-BRK bezogen auf die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen herzustellen. Nur dann können sinnvoll Verallgemeinerungen beispielsweise für die Entwicklung einer inklusiven Infrastruktur für alle Menschen vorgenommen werden.
2 Inklusion im menschenrechtlichen Diskurs
Im Menschenrechtsdiskurs ist der Ansatz der Inklusion vergleichsweise neu. Die UN-BRK ist die erste Konvention zum Schutz von Menschenrechten, in der das Konzept entfaltet wird und in der sich Inklusion als ein leitendes Prinzip durchzieht (Bielefeldt 2009).
Die UN-BRK steht in einer Reihe von Konventionen, die den Menschenrechtsschutz in Bezug auf eine bestimmte Gruppe konkretisieren. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die universale Geltung der Menschenrechte nur durch eine Konkretisierung des Schutzes von Gruppen, die in besonderer Weise von Menschenrechtsverletzungen bedroht sind, durchgesetzt werden kann.
Konventionen zum Schutz von Menschenrechten und ihre Umsetzung haben immer auch zur Weiterentwicklung des Menschenrechtsdiskurses insgesamt beigetragen. So wurde durch das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women, CEDAW) von 1979 die Bedeutung einer Antidiskriminierungspolitik herausgestellt und das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child, CRC) aus dem Jahr 1989 hat das Bewusstsein für die Bedeutung von Partizipation geschärft. Es handelt sich um allgemeine Prinzipien, die ihre Wirkung jedoch in Bezug auf konkrete Erfahrungen der Verletzung dieser Rechte entfalten.
3 Das Verständnis von Behinderungen
In der UN-Behindertenrechtskonvention wird es vermieden, von einer festen Definition von Behinderungen auszugehen. Es wurde vielmehr ein menschenrechtsbasiertes Verständnis von Behinderungen entwickelt (Degener 2015; 2016). In der Präambel der Konvention wird hervorgehoben, dass das „Verständnis von Behinderungen sich ständig weiterentwickelt“ (UN-BRK Präambel, Buchstabe e). Dies hängt mit der relationalen Hervorbringung von Behinderungen durch Strukturen und Interaktionen zusammen. Behinderungen entstehen demnach in „Wechselwirkungen zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ (ebd.), die an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe hindern.
Solche Wechselwirkungen lassen sich auch bezogen auf die Benachteiligung beispielsweise aufgrund von Geschlecht, Armut oder ethnischer Zugehörigkeit analysieren und es lassen sich auf einer abstrakten Ebene gemeinsame Prinzipien herausarbeiten. In gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen und Kämpfen für eine gleichberechtigte Teilhabe kann jedoch auf die spezifische Benennung von Barrieren der Teilhabe und konkrete Ansätze zu ihrer Überwindung nicht verzichtet werden.
4 Überwindung von Barrieren
Maßnahmen zur Entwicklung einer inklusiven, für Menschen mit Behinderungen auf der Basis der Gleichberechtigung nutzbaren Infrastruktur zielen demnach auf die Überwindung von einstellungs- und umweltbedingten Barrieren. Da auch solche Barrieren nur relational verstanden und bezogen auf spezifische Gegebenheiten überwunden werden können, ist die Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigungen in solchen Prozessen grundlegend. Zur Umsetzung der Konvention ist dies daher zwingend und wird den Vertragsstaaten vorgegeben (Art. 4 Abs. 3 UN-BRK).
Hier wird die Notwendigkeit der Konkretisierung des allgemeinen Menschenrechtsprinzips durch Maßnahmen, die mit Menschen mit Beeinträchtigungen entwickelt werden, deutlich.
Hinsichtlich der Überwindung von Barrieren zeigt sich, dass bereits die verallgemeinernde Kategorie „Menschen mit Behinderungen“ wenig zielführend ist. „Barrieren sind nicht schlicht vorhanden, sondern entstehen je situativ, individuell und im Prozess der Auseinandersetzung“ (Trescher 2022, S. 452).
Menschen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung einen Langstock nutzen, suchen zur Orientierung in Räumen nach wahrnehmbaren Markierungen, wie beispielsweise Bordsteinkanten, die für Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, Barrieren darstellen können. Die Anforderungen an die barrierefreie Nutzung einer Wohnung, öffentlicher Bereiche oder von Geräten sind zwischen unterschiedlichen Gruppen von Menschen mit Beeinträchtigungen und auch Individuen mit ähnlichen Beeinträchtigungen höchst unterschiedlich. Daher sind partizipative, planerische Maßnahmen und im Einzelfall notwendige Vorkehrungen notwendig, um eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen.
5 Ableismus als spezifische Form der Ausgrenzung
5.1 Leistungsfähigkeit als Differenzkategorie
Im Kontext der Disability Studies (Campbell 2009) wurde herausgearbeitet, dass sich die Zuschreibung von Leistungsfähigkeit („ableism“) zu einer zentralen gesellschaftlichen Differenzkategorie entwickelt. Menschen wird eine „ability“ zugeschrieben oder eben eine „disability“. Im Unterschied zu anderen Merkmalen sozialer Ungleichheit gilt der Bezug auf Leistungen zur Verteilung von Chancen in meritokratischen Gesellschaften als legitim (Karim und Waldschmidt 2019, S. 270). Soziale Leistungen für Menschen mit Behinderungen setzen voraus, dass eine Abweichung von den alterstypischen Erwartungen an bestimmte Fähigkeiten individuell festgestellt wird (§ 2 SGB IX). Durchaus in Spannung zu den Zielen sozialstaatlicher Unterstützung haben Menschen, denen eine solche Abweichung zugeschrieben wird, deutlich schlechtere Chancen zum Erwerb formaler Bildungsabschlüsse (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2021, S. 122). Es besteht dauerhaft ein großes Risiko des Ausschlusses vom regulären Arbeitsmarkt (a.a.O., S. 215). Feststellbar sind auch seltenere Familiengründungen (a.a.O., S. 85) und diverse Ausgrenzungen.
Die Risiken verschärfen sich, wenn die Feststellung einer Behinderung vor der Bewältigung von wichtigen Übergängen im Lebenslauf erfolgt, was insbesondere bei Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung der Fall ist. Ihre Lebenslagen sind folglich in hohem Maße durch Armutslagen und weitere Risiken einer dauerhaften Ausgrenzung geprägt. Der ableismuskritische Zugang zum Verständnis macht die Bedeutung von einstellungsbedingten Barrieren deutlich. Es handelt sich um vermutete und zugeschriebene Fähigkeiten, die über Bildungswege, Arbeitsmarktchancen oder auch Unterstützungsbedarfe und-formen entscheiden.
5.2 Benachteiligung
In einer ableistischen Perspektive wird deutlich, dass Menschen mit Behinderungen in den meisten Gesellschaften gerade nicht entkoppelt von den gesellschaftlich relevanten Systemen leben, sie sind nicht exkludiert. Die Benachteiligung wird deutlich in der Art und Weise, wie ihnen von Systemen eine bestimmte Stellung zugewiesen wird. Menschen mit Behinderungen stehen nicht außerhalb des Rechtssystems, sondern sie werden durch rechtliche Regelungen in ihrer Rechtsfähigkeit und in ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Sie sind nicht ausgeschlossen von den Anforderungen des Bildungssystems, werden jedoch aus dem System der Regelbeschulung ausgeschlossen. Sie sind auch nicht ausgeschlossen von der Anforderung, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit zu sichern, sie werden jedoch überdurchschnittlich häufig vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Diese Ausschlüsse verknüpfen sich zu typischen Lebenslagen und sind verwoben mit anderen Mechanismen der Herstellung sozialer Ungleichheit.
Die Vorgabe der Inklusion zielt daher in allen Lebensbereichen auf die Überwindung der Verweigerung von Rechten und den Verzicht auf Sondereinrichtungen.
Sehr deutlich wird die Überwindung von eingeschränkten Rechten hinsichtlich der uneingeschränkten Anerkennung als Rechtssubjekt (Art. 12 UN-BRK), der Wahrnehmung von Rechten im Bereich von Partnerschaften und Familiengründung (Art. 23 UN BRK) oder der politischen Teilhabe (Art. 29 UN-BRK). Hinsichtlich der Überwindung von Sondereinrichtungen werden vor allem ein inklusives Bildungssystem (Art. 24 UN-BRK), ein inklusiver Arbeitsmarkt (Art. 26 UN-BRK) und ein Verzicht auf besondere Wohnformen (Art. 19 UN-BRK) gefordert. Die fehlende Entwicklung von geeigneten Maßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland in diesen Bereichen ist der Anlass einer deutlichen Kritik des zuständigen Ausschusses in seinen abschließenden Bemerkungen zu den Berichten über die Umsetzung der UN-BRK in Deutschland.
6 Paternalismus als Risiko einer inkludierenden Exklusion
Legitimiert werden Sondereinrichtungen im gesellschaftlichen und auch im fachlichen Diskurs durch ein paternalistisches Konzept des Schutzes und der Fürsorge. Dieses Konzept war und ist leitend für die Schaffung geschützter Sonderräume der Bildung, Arbeit und alltäglichen Lebensführung. Während die Art und Weise der Einbindung in Systeme in modernen Gesellschaften den Individuen Spielräume der Ausgestaltung ermöglicht, ist dies für Menschen mit Behinderungen in Bezug auf die Lebensführung stark eingeschränkt. Dies ist auch für Lebenslagen von anderen Menschen, die von sozialstaatlichen Leistungen adressiert werden, typisch. Es verschärft sich jedoch in Bezug auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen aufgrund des hohen Grads sowie der Prägung ihres Alltags und gesamten Lebenslaufes durch Sondereinrichtungen.
Die Kritik an Sondereinrichtungen ist nicht neu. Erving Goffmann (2011) hat sein Konzept der totalen Institutionen zu Beginn der 1960er-Jahre durch teilnehmende Beobachtungen in einer psychiatrischen Anstalt für Langzeitpatienten entwickelt. Er beschreibt darin die von Zwang und Gewalt gekennzeichneten inneren Abläufe in solchen geschlossenen Einrichtungen, welche die in modernen Gesellschaften prägenden Grenzen zwischen Lebensbereichen aufheben und eine Rückkehr in das übliche gesellschaftliche Leben erschweren oder unmöglich machen. In systemtheoretischen Ansätzen werden solche Formen der festen Einbindung in einen Lebensbereich oder System als „Hyperinklusion“ (Göbel und Schmidt 1998, S. 21 ff.) oder als „inkludierende Exklusion“ (Stichweh 2009, S. 38 ff.) beschrieben, wobei Beispiele aus dem Feld der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen und anderer sozialer Hilfen herangezogen werden.
7 Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft
Die Bedeutung von Inklusion für die Unterstützung von Menschen mit Behinderungen kann exemplarisch anhand der Vorgaben in Artikel 19 der UN-BRK zu einer unabhängigen Lebensführung verdeutlicht werden.
7.1 Beispiel: Artikel 3 UN-BRK
Der erste der in Artikel 3 der Konvention genannten Grundsätze fordert „die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen sowie seiner Unabhängigkeit“ (Art. 3 UN-BRK). Damit wird der allgemeine Grundsatz der Menschenwürde bezogen auf Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen konkretisiert. Ihre Menschenwürde wird durch die Verweigerung, eigene Entscheidungen zu treffen und selbstbestimmt zu leben, gefährdet. Bezogen auf soziale Unterstützung kommt hier die Forderung nach einem Wandel weg von einer paternalistischen Fürsorge hin zu einer an Menschenrechten orientierten Unterstützung zum Ausdruck. Diese Form der Unterstützung wird von Graumann (2011) als „assistierte Freiheit“ bezeichnet.
7.2 Beispiel: Artikel 19 UN-BRK
Die Verknüpfung von einer selbstbestimmten Lebensführung wird in besonderer Weise in Artikel 19 UN-BRK deutlich. Er trägt die Überschrift „Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“ (Living independently and being included in the community). Im ersten Teil des Artikels werden das Recht gleicher Wahlmöglichkeiten von Menschen mit Behinderungen und die Pflicht der Vertragsstaaten zu wirksamen und geeigneten Maßnahmen zur Realisierung dieses Rechts und der vollen Einbeziehung und Teilhabe (full inclusion and participation) herausgestellt.
Dies wird sodann in dreierlei Hinsicht präzisiert:
- das Recht, nicht in Sondereinrichtungen zu leben
- die Bereitstellung von den notwendigen Unterstützungsdiensten
- die Möglichkeit der Nutzung gemeindenaher Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit auf der Grundlage der Gleichberechtigung.
7.2.1 Das Recht, nicht in Sondereinrichtungen zu leben
Sondereinrichtungen werden in einer Auslegungshilfe zu Artikel 19 charakterisiert durch Merkmale der Institutionalisierung wie:
- „der Verpflichtung, Assistentinnen und Assistenten zu teilen und fehlendem oder begrenztem Einfluss auf die Wahl von Assistentinnen und Assistenten;
- Isolierung und Segregation von einem selbstbestimmten Leben in der Gemeinschaft;
- fehlender Kontrolle auf alltägliche Entscheidungen;
- fehlender Wahlfreiheit hinsichtlich der Mitbewohnerinnen und Mitbewohner;
- starre[n] Abläufe[n] losgelöst von persönlichem Willen und Präferenzen;
- identische[n] Aktivitäten am selben Ort für eine Gruppe von Menschen unter der Aufsicht einer bestimmten Person;
- einem paternalistischen Ansatz bei der Bereitstellung von Diensten;
- Überwachung der Wohnverhältnisse und meist auch durch
- eine überdurchschnittlich hohe Anzahl von Personen mit Behinderungen, die in derselben Umgebung leben“ (Vereinte Nationen. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2017, S. 6, Formatierung vom Verfasser hinzugefügt).
7.2.2 Die Bereitstellung von notwendigen Unterstützungsdiensten
Diese lassen sich in Abgrenzung zu den durch die oben zitierten Merkmale geprägten Sondereinrichtungen als inklusionsorientierte Dienste charakterisieren (Rohrmann 2024). Die Orientierung an der Entwicklung solcher Dienste wurde mit der Reform des Sozialgesetzbuches IX und speziell der Eingliederungshilfe mit dem Bundesteilhabegesetz ermöglicht. Sie wird jedoch nicht konsequent eingefordert und umgesetzt.
7.2.3 Die Möglichkeit der Nutzung gemeindenaher Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit
Hierzu liegen für den öffentlichen Bereich zunehmend strengere Vorgaben in den Behindertengleichstellungsgesetzen des Bundes und der Länder vor. Die rechtlichen Vorschriften zur Barrierefreiheit für private Anbieter bleiben hingegen völlig unzureichend. Die konsequente Umsetzung erfordert vor allem auf kommunaler Ebene systematische Planungsaktivitäten zur Entwicklung eines inklusiven Gemeinwesens, die jedoch längst noch nicht flächendeckend mit einer entsprechenden Priorität versehen wurden (Bertelmann et al. 2024).
In der oben zitierten Auslegungshilfe des zuständigen Ausschusses wird von den Vertragsstaaten gefordert, in Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen „strategische Planungen mit einem angemessenen zeitlichen und finanziellen Rahmen vorzunehmen, um sämtliche Einrichtungen durch Unterstützungsdienste für selbstbestimmtes Leben zu ersetzen“ (Vereinte Nationen. Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2017, S. 15). Die Entwicklung einer solchen Strategie wird von der Bundesrepublik als Reaktion auf den Staatenbericht von dem prüfenden Ausschuss der Vereinten Nationen dringlich eingefordert (UN-Committe on the Rights of Persons with Disabilities 2023, S. 10).
8 Die Karriere des Menschenrechtsprinzips Inklusion in der Bundesrepublik Deutschland
Dass sich der Begriff der Inklusion in der deutschsprachigen Diskussion zu dem Kernbegriff der Umsetzung der UN-BRK entwickelt hat, ist durchaus überraschend. In der deutschen Übersetzung wurde der englische Begriff „inclusion“ an vielen Stellen durchaus zutreffend mit „Einbeziehung“ übersetzt, an zwei zentralen Stellen jedoch weniger passend mit „Integration“. Dabei geht es vor allem um die Vorgaben, ein „inclusive education system“ (Art. 24 UN-BRK) zu entwickeln und „a labour market and work environment that is open, inclusive and accessible to persons with disabilities“ (Art. 27 UN-BRK). Damit sollte der kritische Gehalt der Vorgaben entschärft werden. Es ist ein Erfolg der Mobilisierung von Betroffenen, dass die Umsetzung der UN-BRK mit diesem Kernanliegen der Entwicklung inklusiver Infrastrukturen in allen Lebensbereichen auf die politische Agenda gesetzt wurde.
Die tatsächliche Entwicklung bleibt hingegen ernüchternd. In Vorbereitung auf die Staatenprüfung formuliert die Monitoringstelle der UN-BRK des Deutschen Instituts für Menschenrechte:
„Ein echter Paradigmenwechsel in Politik und Gesellschaft hin zu Inklusion und Selbstbestimmung ist auch 14 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK nicht festzustellen. Im Gegenteil: In Deutschland besteht weiterhin ein stark ausgebautes System von Sonderstrukturen – sowohl in der schulischen Bildung und bei der Beschäftigung in Werkstätten als auch in Form von großen stationären Wohneinrichtungen. Zwar wird viel über Inklusion diskutiert, konsequent in die Tat umgesetzt wird sie allerdings nicht“ (Deutsches Institut für Menschenrechte 2023, S. 8).
Es bleibt eine wichtige Aufgabe, die Bedeutung des Menschenrechtsprinzips der Inklusion im Rückgriff auf die Vorgaben der UN-BRK hinsichtlich der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu schärfen und auf allen Ebenen der Politik wirksam werden zu lassen.
9 Quellenangaben
Bertelmann, Lena, Malin Butschkau, Matthias Kempf und Albrecht Rohrmann, 2024. Die Verbreitung systematischer Planungsaktivitäten zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den Kommunen: Erster Zwischenbericht zum Forschungsprojekt ‚UN-Behindertenrechtskonvention in den Kommunen‘ [online]. Siegen: Universität Siegen, 04.2024 [Zugriff am: 09.05.2024]. Verfügbar unter: https://zpe.uni-siegen.de/unbrk-kommunal/​wp-content/​uploads/​sites/2/2024/04/Zwischenbericht_UNBRK-kommunal.pdf
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Verfasst von
Prof. Dr. Albrecht Rohrmann
Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt soziale Rehabilitation und Inklusion an der Uni Siegen, Zentrum für Planung und Entwicklung Sozialer Dienste (ZPE)
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Zitiervorschlag
Rohrmann, Albrecht,
2024.
Inklusion (Behinderung) [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 20.08.2024 [Zugriff am: 13.02.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/4754
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