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Inklusion (Psychiatrie)

Dr. Katharina Ratzke

veröffentlicht am 25.02.2022

Gegenteil: Ausschluss, Ausgrenzung, Exklusion

Inklusion in der Psychiatrie meint die selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit seelischer Beeinträchtigung an allen gesellschaftlichen Bereichen, verbunden mit der Anerkennung und Wertschätzung ihrer Besonderheiten, Eigensinnigkeiten und abweichenden Erfahrungen. Inklusion umfasst individuelle, soziale, organisatorische, politische und gesamtgesellschaftliche Aspekte.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Einführung
  3. 3 Inklusion und Exklusion
  4. 4 Inklusion als Ziel und Mittel psychiatrischer Interventionen
  5. 5 Weiterführende Überlegungen zu einer inklusiven Praxis
  6. 6 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Inklusion ist ein schillernder und kontrovers diskutierter Begriff. Dies hängt mit den verschiedenen Ebenen zusammen, auf denen Veränderungen angestoßen werden müssten, um die volle Teilhabe und ein gleichberechtigtes Miteinander zu stärken. Gesellschaftliche Ausgrenzungsprozesse wie auch die Stigmatisierung von insbesondere schweren psychischen Erkrankungen sind dabei in den Blick zu nehmen.

Inklusion wird mit verschiedenen theoretischen Konzepten der Exklusion verknüpft, um die Vielschichtigkeit inklusiver Ansätze aufzuzeigen. So wird deutlich, dass Teilhabechancen von Menschen mit seelischer Beeinträchtigung erst dann substantiell ausgebaut werden, wenn neben der Stärkung individueller Potenziale auch die sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen thematisiert und beeinflusst werden. Inklusion nicht nur als Ziel, sondern auch als Mittel psychiatrischer/​professioneller Intervention bedeutet, sich mehr als bisher an den individuellen Präferenzen und Lebensentwürfen betroffener Menschen zu orientieren und Unterstützung in deren Lebensalltag anzubieten und zu organisieren.

2 Einführung

„Es geht bei Inklusion […] nicht nur um abgesenkte Bürgersteige und Aufzüge oder Gebärdensprachdolmetscher. Solche Barrieren müssen abgebaut werden […]. Aber auch wie die Menschen miteinander umgehen, ob sie sich auch mit ihren Besonderheiten gegenseitig akzeptieren und ob ganz unterschiedliche Lebensentwürfe gleichwertig eingeschätzt werden, ob sie überhaupt miteinander reden, das alles berührt Inklusion. […] Was Inklusion ändern kann, ist, dass alle Menschen ermutigt werden, ihren eigenen Lebensweg zu entdecken und zu beschreiten, mit dem Respekt und der Unterstützung anderer. Dass alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen wertvoll sind und angehört werden in der Gesellschaft. Dass mehr Unterschiede erlaubt sind und nicht verborgen werden müssen. Das alles verlangt auch Geld, aber nicht nur Geld. […] Es verlangt eine Art Demokratisierung unserer Gesellschaft.“ (Bunt 2020, S. 15 f.)

In diesem Eingangszitat einer Wissenschaftlerin, klinischen Sozialarbeiterin und Psychiatrieerfahrenen wird unter Inklusion vor allem der Respekt vor den Lebensentwürfen Betroffener, ihre Ermutigung, den eigenen Lebensweg zu entdecken und zu verfolgen, sowie eine grundlegende Veränderung in unserer Gesellschaft verstanden. Dies alles beschreibt Aspekte, die der folgende Beitrag aufgreift.

Der Begriff der Inklusion prägt seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zunehmend die öffentlichen Debatten sowie politische, gesetzgeberische und fachliche Reformen, wenn es um Menschen mit Behinderung oder Beeinträchtigung geht. Gemeint ist die selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung an allen gesellschaftlichen Bereichen und ein gleichberechtigtes Miteinander. Neu war und ist, dass die gesellschaftlichen Barrieren mit in den Blick genommen werden, die Menschen mit Beeinträchtigung daran hindern, vollumfänglich und gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzuhaben. Die Gesellschaft bzw. die soziale Umwelt sind demnach aufgefordert, sich so zu ändern und zu öffnen, dass sie Menschen mit Beeinträchtigung selbstverständlich einbeziehen und ihnen Anerkennung zeigen. Es sind Strukturen zu schaffen, in denen sich Menschen mit ihren Besonderheiten auf die ihnen eigene Art einbringen und mit ihren Erfahrungen für andere bedeutungsvoll werden können.

Allerdings kommen die Lebenslagen und spezifischen Barrieren von Menschen mit psychischer Erkrankung oder seelischer Beeinträchtigung in den öffentlichen Diskursen kaum zur Sprache. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Barrieren, die Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Psychiatrie-Erfahrung erleben, einerseits individuell und unterschiedlich sind. Andererseits sind es weniger äußere Barrieren – wie fehlende Aufzüge für Rollstuhlfahrer:innen oder fehlende Übersetzungen in Gebärdensprache oder in leichte Sprache –, von denen Menschen mit psychischer Erkrankung betroffen sind. Die Barrieren entstehen eher im persönlichen Kontakt, sind soziale Barrieren und berühren bei allen Beteiligten persönliche Einstellungen, Meinungen und Haltungen. Diese werden nach wie vor von dem Stigma, der damit zusammenhängenden Selbststigmatisierung und der Tabuisierung psychischer Erkrankungen geprägt (BeB 2022).

Studien aus den letzten Jahren zeigen, dass Vorbehalte und Vorurteile in unserer leistungs- und erfolgsorientierten Gesellschaft gegenüber Menschen mit schwerer seelischer Beeinträchtigung trotz zahlreicher Anti-Stigma-Kampagnen eher zugenommen haben. Daran hat auch die anscheinende Normalisierung z.B. von Burn-out-Phänomenen oder Depressionen bisher zu wenig geändert.

Der in diesem Beitrag verwendete Begriff „Psychiatrie“ umfasst nach Robert Castel (1979) fünf Dimensionen, zwischen denen Wechsel- und Spannungsverhältnisse der gegenseitigen Beeinflussung bestehen und die sich fortschreitend verändern. Neben der Organisation psychiatrischer Institutionen umfassen die Dimensionen die Erklärungs- und Bedeutungssysteme der psychiatrischen Wissenschaft, die Methodik der Behandlung oder des professionellen Handelns, den Status bzw. das Selbstkonzept der Nutzer:innen sowie den Status der Professionellen und ihr Verständnis von Professionalität.

Inklusion als Leitidee professioneller Interventionen im psychiatrischen Bereich muss sich mit einer Entwicklung selbstkritisch auseinandersetzen, die in den letzten Jahren unter den Stichwörtern „Psychiatriegemeinde“ und „Gemeindepsychiatrie“ problematisiert wird. Der Begriff „Psychiatriegemeinde“ beschreibt, dass Menschen mit seelischer Beeinträchtigung, die lange auf Unterstützung angewiesen sind, häufig nur noch Kontakte zu anderen psychiatrie-erfahrenen Menschen oder in der Psychiatrie tätigen Personen haben. Ihre Kontakte finden in erster Linie in den Diensten und Einrichtungen der Gemeindepsychiatrie statt. Die „Psychiatriegemeinde“ wird zu einem Surrogat des „normalen“ Lebens für Menschen, die schwer und lange psychisch erkranken.

Die menschenunwürdigen und katastrophalen Bedingungen, unter denen Menschen mit psychischer Erkrankung in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg untergebracht waren, führten Anfang der 1970er-Jahre in der alten Bundesrepublik zum Einsetzen einer Psychiatrie-Enquete, um die weitab liegenden Großanstalten aufzulösen. Die Idee, soziale Integration in die Gemeinschaft der „Normalen“ oder „Gesunden“ entstehe automatisch durch die Enthospitalisierung (Eikelmann et al. 2005), hat sich nicht erfüllt. Ein Leben oder die Rückkehr in die Gemeinde, unterstützt von Diensten, führt nicht automatisch zur Integration, Inklusion oder vollen Zugehörigkeit zur „Normalgesellschaft“ (s.u.).

3 Inklusion und Exklusion

Verschiedene Autor:innen sprechen sich dafür aus, die theoretischen Hintergründe und Zugänge zum Thema „Inklusion“ mit den Konzepten der Exklusion zu verknüpfen. Mit Exklusion stehe ein Paradigma zur Verfügung, das Fortschritte und eine Weiterentwicklung der Unterstützungssysteme nicht nur anhand individueller Symptome und umfassender Behandlungs- und Unterstützungsangebote bewertet, sondern systematische Untersuchungen über Inklusion in sozialen Aktivitäten und Teilsystemen im gesamtgesellschaftlichen Kontext einfordert (Eikelmann et al. 2005).

Richter (2019) nennt vier verschiedene Ansätze, die mit dem Begriff der Exklusion in Verbindung stehen. In der soziologischen Tradition beschreibt Exklusion die Lebenssituation marginalisierter und diskriminierter Personengruppen. Wichtige Dimensionen, die über die gesellschaftliche Zugehörigkeit entscheiden, sind der Zugang zu Arbeit, insbesondere zu Erwerbsarbeit, Bürgerrechten und die Einbindung in verlässliche Nahbeziehungen (Kronauer 2014). Kronauer wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, wie Inklusion in einer Prekarisierungsgesellschaft zu verstehen ist und gelingen kann. „Solange Schulen, Arbeitsmarkt, Beschäftigungsverhältnisse, soziale Sicherungssysteme so ausgestaltet sind, dass sie Menschen, unabhängig davon, ob sie als behindert gelten oder nicht, immer wieder systematisch in ihren gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten begrenzen, greift die Forderung […] zu kurz. Die Inklusion in exkludierende Institutionen und Verhältnisse kann das Ziel nicht sein.“ (a.a.O., S. 15)

Stattdessen müssen die Institutionen kritisch bewertet und überprüft werden, inwieweit sie selbst zur Inklusion oder Exklusion bestimmter Gruppen beitragen. Uwe Becker (2015) spricht davon, dass die visionäre Sprengkraft von Inklusion die sozialen Verhältnisse im Kern betrifft.

Als zweiter Ansatz wird die Konzeptualisierung von Behinderung oder Beeinträchtigung genannt, bei denen das medizinische Modell, welches die Problematik vor allem bei der betroffenen Person ausmachte, von einem sozialen Modell von Behinderung, wie in der UN-BRK, abgelöst bzw. ergänzt wurde. Dass die UN-BRK von vielen Menschen mit psychischer Erkrankung oder seelischer Beeinträchtigung begrüßt wurde, hängt auch damit zusammen, dass hier die Wechselwirkungen von Beeinträchtigung und einstellungs- sowie umweltbedingten Barrieren als ausschlaggebend für Teilhabemöglichkeiten und -chancen gesehen und gewertet werden. Und auch der menschenrechtsbasierte Ansatz der UN-BRK sowie deren Forderung nach gleichberechtigtem Zugang aller Menschen zu Ressourcen und Rechten bei Bildung, Arbeit, Einkommen, Sozialbeziehungen, Gesundheit, Recht, Politik und Kultur bestätigte psychiatrie-erfahrene Aktivist:innen in ihrer Position, nach der die soziale und ökonomische Situation von psychiatrie-erfahrenen Menschen in der Sozial- und Gesundheitspolitik viel zu wenig thematisiert wird und somit „unbehandelt“ bleibt.

Die dritte relevante theoretische Perspektive nach Richter ist der Capability Approach, mit dem Befähigungs- und Verwirklichungschancen in den Mittelpunkt rücken, die jedem Menschen zustehen. Neben der Tatsache, dass äußere Bedingungen so zu gestalten sind, dass sie die Verwirklichung eines würdevollen Lebens mit realen Wahlmöglichkeiten unterstützen, wird auch die Befähigung der Person in den Blick genommen. Speck und Steinhart (2018) greifen in ihrer Studie „Abgehängt und chancenlos? Teilhabechancen und -risiken von Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen“ auf den Capability Approach zurück, um nicht nur Daten zur Lebenslage der Personengruppe zu erhalten, sondern um darüber hinaus deren konkrete Gestaltungsmöglichkeiten zu erheben. Es geht um die subjektiven Handlungsspielräume, die sich aus den zur Verfügung stehenden Ressourcen ergeben. Nach Speck (2018) ergeben sich hieraus Ansatzpunkte für die sozialpsychiatrische Praxis, wie Teilhabechancen dieser Personengruppe tatsächlich erhöht werden können. Neben der Stärkung individueller Potenziale und Ressourcen (a.a.O., S. 18 f.) durch Interventionen auf der Ebene des Individuums braucht es fallunspezifische Leistungen zur Beeinflussung und Sensibilisierung der sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie die Begleitung bei individuellen Transformationsleistungen und Entscheidungsprozessen durch Beratung, sei es durch Peer-Beratung oder andere Berater:innen.

Den vierten Ansatz subsumiert Richter unter den Begriffen „Anpassungsdruck und Wahlfreiheit“. Hier wird den Fragen nachgegangen, inwieweit sich Menschen mit psychischen Erkrankungen den sozialen Verhältnissen anzupassen haben bzw. inwieweit beispielsweise Inklusion in den Arbeitsmarkt zur Norm erklärt wird. Ein Teil der Kritik am Inklusionsdiskurs entzündet sich daran, dass diese als Totalstrategie die Subjektivität von Menschen mit Beeinträchtigung und ihren Eigensinn missachte. Es bestehe die Gefahr, dass der bisher räumlich praktizierte Einschluss von Menschen mit schwerer Beeinträchtigung zu einem Einschluss in die gesellschaftliche Anpassung wird (Konrad 2019).

Viele Menschen mit schwerer psychischer Beeinträchtigung erleben ihre Umwelt als abweisend und diskriminierend. Die vorliegenden Daten unterstreichen, wie sehr die Personengruppe von massiver Exklusion betroffen ist. In der Schweiz haben über 70 % der Betroffenen keine Arbeit, 60 % nehmen nie an sozialen und kulturellen Aktivitäten teil, mehr als 50 % haben keine Partner:innen, über 45 % leben an oder unter der Armutsgrenze, mehr als ein Drittel fühlt sich oft oder sehr oft einsam und 15 % haben keine Person, mit der sie vertrauensvoll reden können (Richter und Hoffmann 2017). Für die Bundesrepublik zeichnen vorliegende Ergebnisse ein ähnliches Bild. In einem Vergleich der Allgemeinbevölkerung mit befragten Menschen mit psychischer Erkrankung, die Eingliederungshilfeleistungen in Anspruch nehmen, zeigten sich über alle Dimensionen – soziales Netz, Bildung, Freizeit und Arbeit – deutliche bis erhebliche Teilhabeeinschränkungen (Daum 2018). Diese Erfahrungen von Ausgrenzung und Diskriminierung tragen sicherlich mit dazu bei, dass sich viele Menschen mit psychischer Beeinträchtigung nicht vorstellen können, sich z.B. unter den herrschenden Bedingungen in den ersten Arbeitsmarkt inkludieren zu lassen und dort Anerkennung zu finden. Mal abgesehen davon, dass sie oft gar nicht dazu ermutigt oder ihnen die Möglichkeiten hierfür eröffnet werden. Manche entscheiden sich möglicherweise auch ganz bewusst, dieser Arbeitswelt den Rücken zu kehren. Allerdings leben sie dann fast immer am Rande des Existenzminimums. Viele haben dauerhaft keine sinnvollen Betätigungsmöglichkeiten.

Diese Dilemmata hängen auch damit zusammen, dass die zunehmende soziale und ökonomische Ungleichheit, die massiven Ausgrenzungstendenzen in unserem Bildungssystem und der Arbeitswelt sowie die Abgrenzungsbedürfnisse in unserer Gesellschaft zu wenig in Bezug auf ihre Konsequenzen für Inklusionsanstrengungen thematisiert werden. Denn auch das bedeutet Inklusion: Niemand wird an einer angeblichen „Normgesellschaft“ gemessen. Normal ist vielmehr die Vielfalt, das Vorhandensein von Unterschieden. Die einzelne Person soll nicht mehr gezwungen sein, nicht erreichbare Normen zu erfüllen.

4 Inklusion als Ziel und Mittel psychiatrischer Interventionen

Trotz der aufgezeigten exkludierenden Bedingungen des Arbeitsmarktes und anderer gesellschaftlicher Teilsysteme zeigen Studien, dass sich viele schwer psychisch erkrankte Menschen „Normalität“ wünschen; wie z.B. einen normalen Arbeitsplatz, möglichst gleichzeitig mit einer direkten Unterstützung vor Ort.

Unterstützung im Alltag bzw. im realen Lebensalltag wird im Bereich der beruflichen Rehabilitation unter Ansätze des Supported Employment (SE) subsumiert. Im Gegensatz zu Stufenmodellen oder -konzepten, bei denen eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erst nach einer stufenweisen Qualifizierung z.B. in der Ergotherapie, in Trainingsmaßnahmen oder Zuverdienstfirmen angestrebt wird, erhalten Betroffene beim Supported Employment ohne längere Vorbereitungen früh eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, wo Jobcoaches sie durch spezialisierte Dienste unterstützen (Gühne und Riedel-Heller 2021).

Eine vielfach untersuchte Form des SE liegt mit dem „Individual Placement and Support“ (IPS) vor, der individualisierten Platzierung und Unterstützung. Wichtige Kernprinzipien sind nach Drake et al. (2012) u.a.:

  1. Eine dauerhafte und bezahlte Beschäftigung in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes.
  2. Voraussetzung ist der Wunsch der Teilnehmenden nach einer Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Niemand wird aus Gründen der Rehabilitationsfähigkeit oder der Erkrankungsform oder -schwere ausgeschlossen.
  3. Die Beschäftigung ist an den Präferenzen der Teilnehmenden ausgerichtet.
  4. Die Suche nach Beschäftigung erfolgt rasch (in der Regel innerhalb von 30 Tagen).
  5. Medizinische und arbeitsrehabilitative Dienste werden eng miteinander verzahnt. Ein Jobcoach gehört gleichzeitig verschiedenen Teams an.
  6. Die Unterstützung am Arbeitsplatz erfolgt unbefristet und orientiert sich an den individuellen Bedarfen.

Auf diese Weise erhalten Menschen mit psychischen Erkrankungen und hohem Unterstützungsbedarf tatsächliche Wahlmöglichkeiten, die sie in ihrer Selbstbestimmung stärken. In den letzten Jahren haben Studien die hohe Wirksamkeit von Supported Employment immer wieder belegt (Frederick und VanderWeele 2019).

Auch bei den Unterstützungsleistungen im Bereich Wohnen findet sich das Paradigma des „Stufenkonzeptes“ wieder. Angebote reichen vom Wohnheim, über Wohngemeinschaften und betreutem Einzelwohnen bis hin zum unabhängigen Wohnen. Im Unterschied zu den vorliegenden Ergebnissen in Bezug auf die höhere Wirksamkeit der unterstützten Beschäftigung gegenüber „Stufenmodellen“ ist die Evidenz bei der Unterstützung beim Wohnen nicht so eindeutig.

Richter kommt zu folgendem Fazit:

„Der aktuelle Forschungsstand legt somit nahe, dass Inklusion dann erfolgreich sein kann, wenn das reale Leben nicht nur als Anlass für Trainingsmaßnahmen genommen wird, sondern das Training im realen Leben stattfindet. Die primäre Aufgabe von Professionellen besteht gemäß dem Konzept der unterstützen Inklusion in der Begleitung und Beratung, also in der Anwendung von Coachingtechniken. […] Ein vermutlich wesentlicher Wirkfaktor werden dabei die gerade angesprochenen Präferenzen der betroffenen Personen sein, die zweifelsfrei die Motivation maßgeblich stützen […]. [D]ie betroffene Person wählt ihren Lebensentwurf sowie die damit verbundenen sozialen Rollen und Funktionen mit professioneller Unterstützung aus. Anschließend wird versucht, diesen Lebensentwurf umzusetzen, und schlussendlich besteht die größte Herausforderung im Erhalt der erworbenen Fertigkeiten und sozialen Rollen.“ (Richter 2019, S. 98)

Gleichzeitig lässt sich für Deutschland festhalten, dass Konzepte der Unterstützung im „wirklichen“ Leben und deren Umsetzung wenig realisiert werden. Ob dies allein am „Beharrungsvermögen“ der Sonderwelten liegt (Richter 2019) oder inwieweit ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren eine Rolle spielt, wie z.B. spezifische Einrichtungsinteressen, Logiken der Leistungsgewährung und Finanzierung, professionelle Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster sowie Erwartungen und Bedürfnisse von Betroffenen, kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.

5 Weiterführende Überlegungen zu einer inklusiven Praxis

Weiter oben wurde dargelegt, dass Inklusion mehr ist als Moderation, Begleitung und Unterstützung für die Einzelnen. Sozialraum und Gesellschaft müssen sich ebenfalls verändern und bisherige Erfahrungen unterstreichen; dies geschieht offenbar nicht automatisch, wenn Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen in der eigenen Nachbarschaft leben.

Wie in unserer Gesellschaft Zugehörigkeit für ausgegrenzte und schwer psychisch erkrankte Menschen entstehen kann und wie eine Ethik des Respekts und der (Für-)Sorge zu gestalten ist, ohne Menschen in ihrer Selbstbestimmung und ihrem Erleben eigener Selbstwirksamkeit zu behindern, sind Themen, die das Konzept der Gastfreundschaft oder des Kwartiermaken von Doortje Kal (2006) aufgreift. Es geht darum, die Gesellschaft sozialer und gastfreundlicher zu machen, da – wie Kal betont – Partizipation und Inklusion erst dann eine echte Chance haben, wenn innerhalb der Gesellschaft tatsächlich der Raum und eine Willkommenskultur für Menschen mit Beeinträchtigungen oder Einschränkungen geschaffen werden. Hierbei kommt dem Begriff des Widerstreits eine wichtige Bedeutung zu. „In der Begegnung von Menschen mit so sehr voneinander unterschiedlichen Erfahrungen stoßen radikal voneinander abweichende Lebensweisen, Lebensentwürfe, Möglichkeiten, Begabungen, Grenzen, Geschwindigkeiten aufeinander. Der Weg zu einer authentischen wechselseitigen Zugehörigkeit führt notwendig durch Widerstreit. Nur die Öffnung des Blicks auf psychisch erkrankte Menschen, die sich abweichend verhalten, die irgendwie anders sind, die anecken, kann aus der gesellschaftlichen Leerstelle, an der psychisch erkrankte und behinderte Menschen ohne Zugehörigkeit auf der Stelle treten, eine gesellschaftliche Lehrstelle für alle machen.“ (Bremer 2020, S. 45 f.)

Der menschenrechtliche Ansatz der UN-BRK und die Überlegungen von Kwartiermaken sind die Leitgedanken eines Handlungskonzeptes für eine inklusive Praxis, das Modellprojekten der Diakonie zugrunde gelegt wurde (Ratzke et al. 2020). Dabei ging es darum, wie Mitarbeitende aus psychiatrischen Diensten und Einrichtungen zusammen mit Betroffenen und Angehörigen in ihrem professionellen Tun zur Inklusion beitragen können. Wesentliche Prinzipien sind ein konsequent trialogischer bzw. partizipativer Ansatz, ein Sich-Öffnen gegenüber dem Sozialraum und ein stärkeres Einbeziehen zivilgesellschaftlicher Akteure und regionaler Netzwerke. Das Handlungskonzept umfasst bekannte theoretische Grundlagen, Konzepte, praktische Ansätze und Methoden aus der Sozialpsychiatrie, der Behindertenhilfe sowie der Gemeinwesenarbeit und Quartiersentwicklung, die auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen: der individuellen, der sozialräumlichen, der organisatorischen sowie der politischen Ebene. Gemeinsam ist allen Vorgehensweisen, dass sie das selbstverständliche Einbeziehen von Menschen mit seelischer Beeinträchtigung in die soziale Umgebung ermöglichen bzw. fördern und deren Potenziale und Begabung wahrnehmen und stärken.

6 Quellenangaben

Becker, Uwe, 2015. Die Inklusionslüge: Behinderung im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: transcript. ISBN 978-3-8394-3056-9

Bremer, Fritz, 2020. Erste Umsetzungsschritte von Kwartiermaken in Deutschland. In: Katharina Ratzke, Wolfgang Bayer und Svenja Bunt, Hrsg. Inklusion für die gemeindepsychiatrische Praxis: Erfahrungen aus einem Modellprojekt. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 45–51. ISBN 978-3-88414-692-7 [Rezension bei socialnet]

Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB), Hrsg., 2022. Kerbe: Forum für soziale Psychiatrie. 2022(2). ISSN 0724-5165

Bunt, Svenja, 2020. Inklusion – wie, was und warum? In: Katharina Ratzke, Wolfgang Bayer und Svenja Bunt, Hrsg. Inklusion für die gemeindepsychiatrische Praxis: Erfahrungen aus einem Modellprojekt. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 13–21. ISBN 978-3-88414-692-7 [Rezension bei socialnet]

Castel, Robert, 1979. Die psychiatrische Ordnung: Das Goldene Zeitalter des Irrenwesens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28051-5

Daum, Marcel, 2018. Teilhabechancen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. In: Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V., Andreas Speck und Ingmar Steinhart, Hrsg. Abgehängt und chancenlos? Teilhabechancen und -risiken von Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 55–64. ISBN 978-3-88414-682-8 [Rezension bei socialnet]

Drake, Robert E., Gary R. Bond und Deborah R. Becker, 2012. IPS supported employment: An evidence-based approach to supported employment. New York: Oxford University Press. ISBN 978-0-19-973401-6

Eikelmann, Bernhard, T. Reker und Dirk Richter, 2005. Zur sozialen Exklusion psychisch Kranker: Kritische Bilanz und Ausblick der Gemeindepsychiatrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie. 73(11), S. 664–673. ISSN 0720-4299

Frederick, Donald E. und Tyler J. VanderWeele, 2019. Supported employment: Meta-analysis and review of randomized controlled trials of individual placement and support. In: PloS one. 14(2). ISSN 1932-6203

Gühne, Uta und Steffi G. Riedel-Heller, 2021. Erst platzieren, dann qualifizieren [online]. Wie sich die Integration psychisch kranker Menschen in Beschäftigung verbessern lässt. Nürnberg: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit, 06. Dezember 2021 [Zugriff am: 13.02.2022]. Verfügbar unter

Kal, Doortje, 2006. Gastfreundschaft: das niederländische Konzept Kwartiermaken. Köln: Psychiatrie Verlag. ISBN 978-3-96605-137-8

Kronauer, Martin, 2014. Inklusion in der Prekarisierungsgesellschaft: eine Illusion. In: Die Kerbe. 2014(2), S. 15–17. ISSN 0724-5165

Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V., Andreas Speck und Ingmar Steinhart, Hrsg., 2018. Abgehängt und chancenlos? Teilhabechancen und -risiken von Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen. Köln: Psychiatrie Verlag. ISBN 978-3-88414-682-8 [Rezension bei socialnet]

Michael, Konrad, 2019. Kritik der Inklusion [online]. Am Ende eine(r) Illusion. Köln: Psychiatrie Verlag, 25.04.2019 [Zugriff am: 13.02.2022]. Verfügbar unter: https://www.psychiatrie.de/buecher/​gesellschaftsozialpsychiatrie/​winkler-inklusion.html

Ratzke, Katharina, Wolfgang Bayer und Svenja Bunt, Hrsg., 2020. Inklusion für die gemeindepsychiatrische Praxis: Erfahrungen aus einem Modellprojekt. Köln: Psychiatrie Verlag. ISBN

Richter, Dirk, 2019. Soziale Inklusion und Recovery. In: Gianfranco Zuaboni, Christian Burr, Michael Schulz und Andréa Winter, Hrsg. Recovery und psychische Gesundheit: Grundlagen und Praxisprojekte. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 88–101. ISBN 978-3-96605-015-9

Richter, Dirk und Holger Hoffmann, 2017. Social exclusion of people with severe mental illness in Switzerland: Results from the Swiss Health Survey. In: Epidemiology and Psychiatric Sciences. 28(4), S. 427–435. ISSN 2045-7960

Speck, Andreas, 2018. Von der Teilhabe zur Befähigung. In: Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V., Andreas Speck und Ingmar Steinhart, Hrsg. Abgehängt und chancenlos? Teilhabechancen und -risiken von Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen. Köln: Psychiatrie Verlag, S. 10–32. ISBN 978-3-88414-682-8 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Dr. Katharina Ratzke
Arbeitsfeld Sozialpsychiatrie und Suchthilfe
Zentrum Gesundheit, Rehabilitation und Pflege
Diakonie Deutschland
Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V. Berlin
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Zitiervorschlag
Ratzke, Katharina, 2022. Inklusion (Psychiatrie) [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 25.02.2022 [Zugriff am: 11.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29023

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