socialnet Logo

Inklusive Didaktik

Dr. Toni Simon, Dr. Laura Rödel

veröffentlicht am 06.04.2020

Bei inklusiver Didaktik geht es um die begründete Auswahl von Bildungsinhalten und die Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen unter Berücksichtigung der Heterogenität der Lernenden und dem Anspruch, Lern- und Bildungsprozesse durch Differenzierungsmaßnahmen möglichst barrierefrei zu gestalten.

Überblick

  1. 1 Begriff
  2. 2 Zum Wesen inklusiver Didaktik
  3. 3 Konzeptionen und Modelle inklusiver Didaktik
  4. 4 Quellenangaben
  5. 5 Literaturhinweise

1 Begriff

Die inklusive Didaktik kann nach Seitz (2006, o.S.) als „Weiterentwicklung vorliegender Ansätze integrativer Didaktik verstanden werden“. Ziemen (2017, S. 107) beschreibt sie als „Allgemeine Didaktik, die Gültigkeit für alle Kinder und Jugendliche unabhängig von ihren Fähigkeiten, Kompetenzen und Entwicklungsmöglichkeiten beansprucht“ und sich „auf die Gesamtorganisation des Lehrens und des Lernens“ sowie „auf Bildung, Erziehung, Dialog, Kommunikation und Kooperation“ bezieht. Weiterhin definiert Prengel (2015, S. 35) sie als „eine Didaktik der inneren Differenzierung, die sich unter der kontinuierlichen Beachtung auch der […] Beziehungsebene an den Lernausgangslagen jedes einzelnen Kindes bzw. Jugendlichen in der heterogenen Lerngruppe orientiert.“

2 Zum Wesen inklusiver Didaktik

Die Didaktik hat im Allgemeinen Lehr-Lern-Prozesse (im Fall von Schule in der Regel den Unterricht) zum Gegenstand und kann unterschieden werden in allgemeine Didaktik und Fachdidaktik. In beiden Fällen geht es um Fragen des Zusammenhangs von Lehr- und Lernprozessen und deren intentionale Organisation. Die Didaktik wird mitunter von der Methodik abgegrenzt und meint einem solchen engen Didaktikverständnis nach die Auseinandersetzung mit der Auswahl und Begründung von Inhalten und Zielen von Lehr-Lern-Prozessen. Die Methodik beschäftigt sich diesem Verständnis nach mit den Vorgehens-/​Verfahrensweisen der Umsetzung dieser Inhalte und Ziele. In themenbezogenen Diskussionen herrscht Konsens darüber, dass ein inklusiver Unterricht eine inklusive Didaktik benötigt. Da allerdings unterschiedliche Vorstellungen über das Wesen von Inklusion bzw. der inklusiven Pädagogik existieren, gibt es auch verschiedene Vorstellungen vom Wesen der inklusiven Didaktik.

Einem reflexiven Inklusionsverständnis folgend ist die „Berücksichtigung jeglicher Heterogenitätsdimensionen im Unterricht bei der Planung und Durchführung von Unterricht“ (Grosche 2015, S. 35) für die inklusive Didaktik von besonderer Bedeutung. Sie setzt einen „bewussten und reflektierten Umgang mit der Heterogenität des Lernens“ sowie mit „Entwicklungs- bzw. Sozialisationsbedingungen insgesamt“ voraus und muss „mit milieu-, kultur-, geschlechtssensibler Pädagogik verknüpft gedacht werden“ (Seitz 2011, S. 51). Dabei nehmen Lehrkräfte „nicht vermeintliche spezielle Bedarfe von ‚besonderen Kindern‘ in den Blick, sondern […] grundlegende Fragen von Lehr-/​Lernprozessen unter dem Fokus, die prinzipielle Verschiedenheit der Lerner_innen anzuerkennen“ (Korff 2015, S. 53). Um dies zu gewährleisten und allen Kindern und Jugendlichen potenziell individualisierte Lernwege und -zeiten zu ermöglichen, sind im Unterricht Strategien der Adaption bzw. Binnendifferenzierung notwendig, die seitens der Lehrkräfte mit einer entsprechenden adaptiven Lehrkompetenz aber auch mit der Beteiligung der SchülerInnen einhergehen. Da die inklusive Didaktik auf einem konstruktivistischen Lehr-Lern-Verständnis basiert, werden offene Unterrichtsformen, projektorientierte Lehr-Lern-Prozesse und Formen selbstbestimmten, explorativen und forschenden Lernens als besonders bedeutsam erachtet.

Inklusionsdidaktisches Handeln basiert auf Ergebnissen einer formativen didaktischen Diagnostik (Prengel 2016), die sich „von klassischer Diagnostik kritisch abgrenzt und differenzierte, lernförderliche Formen der Leistungsbewertung und Rückmeldung unterstützt“ (Geiling und Simon 2017, S. 103). Ferner ist eine inklusive Didaktik ko-konstruktiv, da inklusiver Unterricht multiprofessionell geplant, durchgeführt und reflektiert werden soll und den Lernenden als ExpertInnen ihres Lernens Möglichkeiten zur Partizipation einräumen sollte. Ein besonderes Spannungsfeld, das sich im inklusiven Unterricht ergibt und inklusionsdidaktisch zu reflektieren ist, ist das auf Inhalte, Ziele und Methoden bezogene Spannungsverhältnis von Individualisierung (z.B. durch Maßnahmen der Binnendifferenzierung) und Gemeinsamkeit (z.B. durch kooperatives Lernen oder die gemeinsame Gestaltung von Projekten).

3 Konzeptionen und Modelle inklusiver Didaktik

Eine allgemeine inklusive Didaktik kann als wichtige Grundlage für inklusive Fachdidaktiken angesehen werden. Entsprechend wirken sich die Diskussionen um erstere in den letzten Jahren immer stärker auf die fachdidaktischen Diskurse aus. Andererseits hat z.B. die empirische Studie zur inklusiven Sachunterrichtsdidaktik von Seitz (2005) die Diskussionen um eine allgemeine inklusive Didaktik massiv angeschoben. In einem ausführlichen Aufsatz hat Wocken (2016) allgemeine inklusionsdidaktische Konzeptionen bzw. Modelle zusammengefasst und kriteriengeleitet verglichen. Diese Übersicht liefert, obgleich fachdidaktische Ansätze und Modelle nicht konsequent berücksichtigt worden sind, eine umfangreiche Zusammenschau bestehender Modelle. Ein allgemeines inklusionsdidaktisches Modell, das den Anspruch hat, auch im Kontext unterschiedlicher Fachdidaktiken eingesetzt werden zu können, ist das u.a. durch die Prozessmerkmale Partizipation, Kommunikation, Kooperation und Reflexion geprägte „Didaktische Modell für inklusives Lehren und Lernen“ (kurz DiMiLL, siehe Frohn et al. 2019).

4 Quellenangaben

Frohn, Julia, Ellen Brodesser, Vera Moser, und Detlef Pech, Hrsg., 2019. Inklusives Lehren und Lernen [online]. Allgemein- und fachdidaktische Grundlagen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt [Zugriff am: 02.04.2020]. PDF e-Book. ISBN 978-3-7815-2289-3 [Rezension bei socialnet]. Verfügbar unter: https://www.pedocs.de/volltexte/2019/16759/pdf/Frohn_et_al_2019_Inklusives_Lehren_und_Lernen.pdf

Geiling, Ute und Toni Simon, 2017. Inklusion in der Grundschule. In: Kerstin Ziemen, Hrsg. Lexikon Inklusion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-525-70187-4 [Rezension bei socialnet]

Grosche, Michael, 2015. Was ist Inklusion? In: Poldi Kuhl, Petra Stanat, Birgit Lütje-Klose, Cornelia Gresch, Hans Anand Pant und Manfred Prenzel, Hrsg. Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Schulleistungserhebungen. Wiesbaden: Springer VS, S. 17–39. ISBN 978-3-658-06603-1

Korff, Natascha, 2015. Inklusiver Mathematikunterricht in der Primarstufe: Erfahrungen, Perspektiven und Herausforderungen. Baltmannsweiler: Schneider. ISBN 978-3-8340-1443-6

Prengel, Annedore, 2015. Inklusive Bildung: Grundlagen, Praxis, offene Fragen. In: Thomas Häcker und Maik Walm, Hrsg. Inklusion als Entwicklung: Konsequenzen für Schule und Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 27–46. ISBN 978-3-7815-2012-7

Prengel, Annedore, 2016. Didaktische Diagnostik als Element alltäglicher Lehrerarbeit – „Formatives Assessment im inklusiven Unterricht“. In: Bettina Amrhein, Hrsg. Diagnostik im Kontext inklusiver Bildung: Theorien, Ambivalenzen, Akteure, Konzepte. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 49–63. ISBN 978-3-7815-2078-3 [Rezension bei socialnet]

Seitz, Simone, 2005. Zeit für inklusiven Sachunterricht. Baltmannsweiler: Schneider. ISBN 978-3-89676-940-4

Seitz, Simone, 2006. Inklusive Didaktik: Die Frage nach dem ‚Kern der Sache‘. In: Zeitschrift für Inklusion Online [online]. 1(1) [Zugriff am: 02.04.2020]. ISSN 1862-5088. Verfügbar unter: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/​article/view/184/184

Seitz, Simone, 2011. Was Inklusion für die Qualifizierung von Lehrkräften bedeutet. Gewinn für LehrerInnen und SchülerInnen. In: Journal für Lehrerinnenbildung. 11(4), S. 50–54. ISSN 1681-7028

Wocken, Hans, 2016. Inklusive Didaktik: Versuch einer Standortbestimmung. In: Hans Wocken, Hrsg. Am Haus der inklusiven Schule: Anbauten – Anlagen – Haltestellen. Hamburg: Feldhaus Verlag, S. 81–248. ISBN 978-3-925408-50-2

Ziemen, Kerstin, 2017. Inklusive Didaktik. In: Kerstin Ziemen, Hrsg. Lexikon Inklusion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 107–109. ISBN 978-3-525-70187-4 [Rezension bei socialnet]

5 Literaturhinweise

Reich, Kersten, 2014. Inklusive Didaktik: Bausteine für eine inklusive Schule. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-25710-9 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Dr. Toni Simon
Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Arbeitsbereichs Sachunterricht am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Website
Mailformular

Dr. Laura Rödel
Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Zentralinstitut PSE (Professional School of Education), Humboldt-Universität zu Berlin
Website
Mailformular

Es gibt 8 Lexikonartikel von Toni Simon.
Es gibt 1 Lexikonartikel von Laura Rödel.

Zitiervorschlag anzeigen

Weitere Lexikonartikel

Recherche

zum Begriff Inklusive Didaktik

Rezensionen

Buchcover

Claudia A. Reinicke: Mit ADHS und Freude durch den Schulalltag. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023.
Rezension lesen   Buch bestellen

zu den socialnet Rezensionen

Urheberrecht
Dieser Lexikonartikel ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion des Lexikons für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.

Werden Sie Sponsor des socialnet Lexikons!

Profitieren Sie von hoher Sichtbarkeit in der Sozialwirtschaft, attraktiven Werberabatten und Imagegewinn durch CSR. Mit Ihrem Logo auf allen Lexikonseiten erreichen Sie monatlich rund 90.000 Fachkräfte und Entscheider:innen.
Mehr erfahren …