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Inklusive Pädagogik

Dr. Toni Simon

veröffentlicht am 11.05.2020

Synonym: Inklusionspädagogik

Inklusive Pädagogik ist ein allgemeinpädagogischer Ansatz, der auf dem Prinzip der Anerkennung von Heterogenität in Bildungs- und Erziehungszusammenhängen basiert und sich unter Berücksichtigung vielfältiger Differenzlagen und ihrer möglichen Verschränkungen gegen Marginalisierungen und Diskriminierungen wendet.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Kontroversen und Tendenzen
  3. 3 Inklusions- und Integrationspädagogik
  4. 4 Inklusive Pädagogik und egalitäre Differenz
  5. 5 Quellenangaben
  6. 6 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Der Begriff inklusive Pädagogik (oder auch Inklusionspädagogik) wird in erziehungswissenschaftlichen Diskursen des deutschsprachigen Raums seit Beginn der 2000er-Jahre zunehmend, allerdings seit seiner Einführung unterschiedlich verwendet und bis heute teilweise kontrovers diskutiert. Nach Biewer bezieht sich die inklusive Pädagogik auf „Theorien zur Bildung, Erziehung und Entwicklung, die Etikettierungen und Klassifizierungen ablehnen, ihren Ausgang von den Rechten vulnerabler und marginalisierter Menschen nehmen, für deren Partizipation in allen Lebensbereichen plädieren und auf eine strukturelle Veränderung der regulären Institutionen zielen, um der Verschiedenheit der Voraussetzungen und Bedürfnisse aller Nutzer/​innen gerecht zu werden“ (Biewer 2010 zit. in Biewer und Schütz 2016, S. 125).

2 Kontroversen und Tendenzen

Die Vorstellungen bzw. Beschreibungen des Wesens der inklusiven Pädagogik bzw. Inklusionspädagogik unterscheiden sich in erziehungswissenschaftlichen, verbandlichen und bildungspolitischen Diskursen je nach zugrundeliegendem Inklusionsverständnis mehr oder weniger deutlich. Ursächlich dafür ist, dass es (inter)national kein einheitliches Inklusionsverständnis gibt (Sander 2004; Cramer und Harant 2014). Insbesondere in deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Diskursen hat sich in den letzten Jahren die Unterscheidung eines sogenannten „engen“ und „breiten“ Inklusionsverständnisses etabliert. Das „enge“ Inklusionsverständnis fokussiert weitgehend sonderpädagogische Fragen und Kategorien. Entsprechend wird die inklusive Pädagogik in Diskurssträngen, die sich diesem Verständnis anschließen, oftmals als Ansatz zur Förderung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit akkreditiertem sonderpädagogischen Förderbedarf respektive einer Behinderung/​Beeinträchtigung verstanden. Für das „breite“ Inklusionsverständnis (auch „reflexives“ Inklusionsverständnis genannt, Budde und Hummrich 2013) ist kennzeichnend, dass ihm folgend – unter dem Anspruch der Wahrung einer intersektionalen Perspektive (Walgenbach und Pfahl 2017), also der Beachtung vielfältiger Differenzlagen (z.B. Geschlecht, Alter, Migrationshintergrund, soziale Lage) und ihrer möglichen Verschränkungen – die umfassende Verhinderung von Prozessen der Marginalisierung, Stigmatisierung und Diskriminierung, der Selektion, Segregation und Exklusion angestrebt wird. Dies impliziert Fragen des barrierefreien Zugangs zu Erziehung und Bildung sowie teilweise weitreichende Reformen von tradierten Strukturen, Kulturen und Praktiken. Aus dieser Perspektive ist Inklusion eine Querschnittsaufgabe der Erziehungswissenschaften und die inklusive Pädagogik ein interdisziplinäres bzw. multiprofessionelles Arbeitsfeld.

3 Inklusions- und Integrationspädagogik

Die nähere Bestimmung der inklusiven Pädagogik erfolgt nicht selten über den Versuch, sie von der zeitgeschichtlich vorangegangenen integrativen Pädagogik resp. Integrationspädagogik abzugrenzen (z.B. Hinz 2002). Teilweise wird die inklusive Pädagogik dabei als Weiterentwicklung oder verbesserte Variante der Integrationspädagogik beschrieben (z.B. Sander 2004). Die Abgrenzung von Integrations- und Inklusionspädagogik ist insofern problematisch, als dass auch die Integrationspädagogik „ein Spektrum unterschiedlicher Positionen mit Konsequenzen verschiedener Tragweite“ (Simon und Geiling 2016, S. 199) hervorgebracht hat. Das heißt, das Integrationsverständnis einiger IntegrationsforscherInnen (z.B. von Annedore Prengel, Helga Deppe-Wolfinger, Georg Feuser, Helmut Reiser oder Alfred Sander) glich bereits in den 1980er-/​1990er Jahren durchaus dem heutigen „breiten“ bzw. „reflexiven“ Inklusionsverständnis. „Umgekehrt gleichen einige gegenwärtige Inklusions-Konzepte einem konservativen Integrationsverständnis“ (ebd.).

Innerhalb der Stränge der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Integrations- und Inklusionsforschung, die sich an einem „breiten“ respektive „reflexiven“ Verständnis von Inklusion orientieren, besteht Konsens darüber, dass die inklusive Pädagogik eine menschenrechtsbasierte Pädagogik ist, die sich auf alle Lebensphasen und pädagogischen Handlungsfelder bezieht. Sie hat potenziell weitreichende Folgen für pädagogische Systeme und ihre AkteurInnen (exemplarisch die Abschaffung dauerhaft segregierender Settings wie z.B. Sonderkindergärten oder Sonderschulen oder die Überwindung der Prinzipien der Homogenisierung und Selektion), wenn die mit ihr verbundenen Ansprüche der Verhinderung von Marginalisierung, Stigmatisierung und Diskriminierung, der Homogenisierung, Segregation und Selektion sowie der Barrierefreiheit umfassend realisiert werden sollen. Die konsequente Wahrung von Menschenrechten in pädagogischen Kontexten als Aspekt der inklusiven Pädagogik (Bielefeldt 2012, Biermann und Pfahl 2017) impliziert u.a. auch die Wahrung von Partizipationsrechten und die des Rechts auf Gesundheit resp. Wohlbefinden aller AkteurInnen. Insofern ist die inklusive Pädagogik u.a. mit Fragen der Demokratisierung (diverse Beiträge in Kruschel 2017) oder auch der Gesundheitsförderung verbunden.

4 Inklusive Pädagogik und egalitäre Differenz

Ähnlich wie Biewer beschreibt Feuser die inklusive Pädagogik als „eine Pädagogik, die es ermöglichen soll, dass Kinder und Jugendliche [und Erwachsene] unterschiedlichster sozialer Herkunft, mit unterschiedlichen Lernausgangslagen, Sozialisations- und Entwicklungsverläufen, solche mit und ohne Beeinträchtigungen/​Behinderungen und Migrationshintergrund, ohne Zugangsbeschränkung, Selektion, Ausgrenzung und Segregierung in Gemeinschaft miteinander lernen und ihre je spezifischen Entwicklungspotenziale entfalten können“ (Feuser 2017, S. 132). Eine zentrale Denkfigur der Praxis einer solchen inklusiven Pädagogik ist die der egalitären Differenz (Prengel 1993). Die Theorie der egalitären Differenz bezieht sich auf den anerkennenden Umgang mit Gleichheit und Verschiedenheit im Kontext heterogener bzw. nicht homogenisierter (Lern)Gruppen und ist grundlegend für die von Annedore Prengel konzipierte Pädagogik der Vielfalt. Egalitäre Differenz bedeutet, dass alle Menschen hinsichtlich ihrer Grundrechte als gleich, allerdings gleichsam in ihrer Individualität und Verschiedenheit anzuerkennen sind. Nach Prengel führt Differenz ohne Gleichheit zu Hierarchien und Gleichheit ohne Differenz zur Gleichmachung und Normierung. Während beispielsweise alle Menschen ein Recht auf Bildung haben, bedeutet dies nicht, dass Bildung für alle gleich zu organisieren sei. Die Praxis der inklusiven Pädagogik und der egalitären Differenz konkretisiert sich auf teils spezifische Weise in konkreten pädagogischen Handlungsfeldern, wie z.B. Kindertagesstätten, Schulen (siehe inklusive Schule) oder Hochschulen, sowie stets fallspezifisch, d.h. am einzelnen Individuum orientiert.

5 Quellenangaben

Bielefeldt, Heiner, 2012. Inklusion als Menschenrechtsprinzip: Perspektiven der UN-Behindertenrechtskonvention. In: Vera Moser und Detlef Horster Hrsg. Ethik der Behindertenpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer, S. 149–166. ISBN 978-3-17-021298-5 [Rezension bei socialnet]

Biermann, Julia und Lisa Pfahl, 2016. Menschenrechtliche Zugänge und inklusive Bildung. In: Ingeborg Hedderich, Judith Hollenweger, Gottfried Biewer und Reinhard Markowetz Hrsg. Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt UTB, S. 199–207. ISBN 978-3-8252-8643-9 [Rezension bei socialnet]

Biewer, Gottfried und Sandra Schütz, 2016. Inklusion. In: Ingeborg Hedderich, Judith Hollenweger, Gottfried Biewer und Reinhard Markowetz, Hrsg. Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt UTB, S. 123–126. ISBN 978-3-8252-8643-9 [Rezension bei socialnet]

Budde, Jürgen und Merle Hummrich, 2013. Reflexive Inklusion. In: Zeitschrift für Inklusion Online [online]. (4) [Zugriff am: 31.07.2019]. ISSN 1862-5088. Verfügbar unter: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/​article/view/193

Cramer, Colin und Martin Harant, 2014. Inklusion: Interdisziplinäre Kritik und Perspektiven von Begriff und Gegenstand. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft. 17(4), S. 639–659.ISSN 1434-663X

Feuser, Georg, 2017. Inklusive Pädagogik. In: Kerstin Ziemen, Hrsg. Lexikon Inklusion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 132–134. ISBN 978-3-525-70187-4 [Rezension bei socialnet]

Hinz, Andreas, 2002. Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung? In: Zeitschrift für Heilpädagogik. 53(9), S. 354–361. ISSN 0513-9066

Kruschel, Robert, Hrsg., 2017. Menschenrechtsbasierte Bildung: Inklusive und Demokratische Lern- und Erfahrungswelten im Fokus. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-2149-0 [Rezension bei socialnet]

Prengel, Annedore, 1993. Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen: Leske + Budrich. ISBN 978-3-663-14850-0

Sander, Alfred, 2004. Inklusive Pädagogik verwirklichen – Zur Begründung des Themas. In: Irmtraud Schnell und Alfred Sander, Hrsg. Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 11–22. ISBN 978-3-7815-1317-4

Simon, Toni und Ute Geiling, 2016. Diagnostik zur Unterstützung schulischer Inklusion – Ansprüche und Widersprüche auf der Suche nach angemessenen Handlungspraktiken. In: Ursula Böing und Andreas Köpfer, Hrsg. Be-Hinderung der Teilhabe: Soziale, politische und institutionelle Herausforderungen inklusiver Bildungsräume. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 199–208. ISBN 978-3-7815-2124-7 [Rezension bei socialnet]

Walgenbach, Katharina und Lisa Pfahl, 2017. Intersektionalität. In: Thorsten Bohl, Jürgen Budde und Markus Rieger-Ladich, Hrsg. Umgang mit Heterogenität in Schule und Unterricht: Grundlagentheoretische Beiträge, empirische Befunde und didaktische Reflexionen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt UTB, S. 141–158. ISBN 978-3-8252-4755-3 [Rezension bei socialnet]

6 Literaturhinweise

Boban, Ines und Andreas Hinz, Hrsg., 2017. Inklusive Bildungsprozesse gestalten: Nachdenken über Horizonte, Spannungsfelder und Schritte. Seelze: Kallmeyer. ISBN 978-3-7727-1136-7 [Rezension bei socialnet]

Ottersbach, Markus, Andrea Platte und Lisa Rosen, Hrsg., 2016. Soziale Ungleichheiten als Herausforderung für inklusive Bildung. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-13493-8

Wagner, Petra, Hrsg., 2017. Handbuch Inklusion: Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. 4. Gesamtauflage. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-451-37637-5 [Rezension bei socialnet]

Ziemen, Kerstin, Hrsg., 2017. Lexikon Inklusion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-525-70187-4 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Dr. Toni Simon
Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Arbeitsbereichs Sachunterricht am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Buchcover

Brigitte Schumann: Streitschrift Inklusion. Debus Pädagogik Verlag (Schwalbach/Ts.) 2018.
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