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Inselbegabung

Prof. Dr. Georg Theunissen

veröffentlicht am 16.07.2020

Synonym: Savant-Syndrom

Eine Inselbegabung ist ein seltenes, außergewöhnliches Phänomen, das in Kombination mit Entwicklungsbesonderheiten wie Autismus oder kognitiven Beeinträchtigungen, aber auch bei durchschnittlicher und vor allem sehr hoher Intelligenz jenseits einer Behinderung auftreten kann, sich in Verbindung mit einem spezifischen Erinnerungsvermögen durch besondere Talente, Fähigkeiten oder Fertigkeiten auf einem speziellen Gebiet auszeichnet und sich vom allgemeinen Erscheinungsbild eines „neurotypischen“ Menschen abhebt.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Geschichtliches
  3. 3 Begriffsbestimmung
  4. 4 Prävalenz
  5. 5 Ursachen
  6. 6 Inselbegabungen im Lichte von Kreativität
  7. 7 Konsequenzen für die Praxis
  8. 8 Quellenangaben
  9. 9 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Nach einem kurzen Blick in die Geschichte wird der Begriff der Inselbegabung auf der Grundlage einschlägiger Forschungsstudien präzisiert. Anschließend werden Erkenntnisse in Bezug auf die gesellschaftliche Verbreitung einer Inselbegabung zitiert, bevor auf Ursachen dieser außergewöhnlichen Erscheinung eingegangen wird. Reflexionen im Hinblick auf ihre Würdigung sowie auf Unterstützungsmöglichkeiten der betroffenen Personen runden den Beitrag ab.

2 Geschichtliches

Bereits vor etwa 200 Jahren stoßen wir auf Berichte über Personen, die als „Rechenkünstler“ (human calculator), Musiker oder Maler mit außergewöhnlichen Fähigkeiten imponierten, zugleich jedoch in ihrer Sprache, Denkfähigkeit und selbstbestimmten Lebensführung stark beeinträchtigt waren (dazu Treffert 1989; Theunissen und Schubert 2010). Das betraf zum Beispiel den Berner Künstler Gottfried Mind (1768-1814), dessen Begabung sich „ganz einseitig auf das Behalten von Formen und Farben“ (Koelsch 1924, zit. n. Theunissen und Schubert 2010, S. 43) bezog, was er durch realitätsgetreue, bis ins winzigste Detail fein ausgearbeitete, naturalistische Zeichnungen von Lebewesen wie vor allem Katzen, Bären, Kaninchen, Pferde und Kinder zum Ausdruck brachte. Aufgrund dieser herausragenden Fähigkeit war Mind schon zu seinen Lebzeiten als „Der Katzen-Raphael“ berühmt geworden.

Gottfried Mind galt als ein „Idiot Savant“. Dieser Begriff stammt wohl vom Psychiater John Langdon Down (dazu Treffert 1989, S. 3 f.), der damit zwei Beobachtungen zusammenbringen wollte: zum einen waren bei den betroffenen Personen kognitive Beeinträchtigungen festgestellt worden, die damals üblicherweise unter dem Begriff der „Idiotie“ subsumiert wurden; zum anderen imponierten die Betroffenen zugleich mit eng umschriebenen, außergewöhnlichen Fähigkeiten, die weder einer „Idiotie“ noch einer „neurotypischen“ Aktivität entsprachen, sondern eher etwas „Geniales“ zum Ausdruck brachten. Dafür nutzte Langdon Down den französischen Begriff „Savant“, der mit einer „gelehrten Person“ assoziiert wird. Wenngleich er mit der Bezeichnung „Idiot Savant“ keine Diskriminierung betroffener Personen beabsichtigte, wurde in der Folgezeit der Begriff jedoch eher negativ assoziiert. Dies veranlasste Anfang der 1980er-Jahre den Savant-Forscher Darold Treffert (1989) die inzwischen umstrittene Bezeichnung „Idiot Savant“ durch den Begriff des „Savant-Syndroms“ zu ersetzen. Hierfür wird im deutschsprachigen Raum die Parallelbezeichnung „Inselbegabung“ benutzt.

3 Begriffsbestimmung

Neben der Vermeidung der Diskriminierung war für Treffert ebenso die Erkenntnis bedeutsam, dass längst nicht alle Savants eine unterdurchschnittliche Intelligenz hatten. So wird bis heute davon ausgegangen, dass etwa 70 % aller Menschen mit einem Savant-Syndrom einen Intelligenzquotienten unter 70 haben. Demgegenüber gibt es aber auch Savants mit einem überdurchschnittlich hohen Intelligenzwert von über 140. „Deshalb bleibt festzustellen, dass der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Savant-Syndrom bis zum heutigen Tag nicht sicher hergestellt werden kann und ein geringer IQ keine Bedingung für die Diagnose eines Savant-Syndroms darstellt“ (Treffert 2015, S. 310).

Vor diesem Hintergrund können in Anlehnung an Treffert (1999; 2008a; 2009; 2015) drei Formen an Inselbegabungen unterschieden werden. Es sollte jedoch hierbei keine scharfe Grenzziehung erfolgen, da es vor allem bei autistischen Menschen schwierig ist, zwischen den verschiedenen Formen an Savant-Fähigkeiten zu differenzieren.

  1. Die am häufigsten auftretende Inselbegabung, die eine moderate Form darstellt, bezieht sich auf besondere Teilleistungsfähigkeiten oder -fertigkeiten (splinter skills). Diese sind nicht selten bei Personen aus dem Autismus-Spektrum zu beobachten und vor allem in Anbetracht unterdurchschnittlicher Intelligenz bemerkenswert. Ebenso können sie als eine „savantähnliche Begabung“ (Sacks 2011, S. 198) mitunter bei (linksseitigen) Hirnverletzungen, Schlaganfällen oder frontotemporaler Demenz auftreten. In der Regel handelt es sich um Leistungen, die mit einem spezifischen Interesse und oft mit einem damit verbundenen, ausgezeichneten Gedächtnis verknüpft sind, im Kontext behinderungsspezifischer Beeinträchtigungen isoliert hervortreten und zumeist nicht in Lebenszusammenhänge sinnvoll eingebettet sind, so zum Beispiel die Fähigkeit, Geschichtsereignisse datenmäßig aufzusagen, ohne die damit verknüpften Geschehnisse zu verstehen; Fußballstatistiken aufzulisten, ohne ein Fußballspiel zu kennen; sich Bahnfahrpläne zu merken, aber ohne fremde Hilfe keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen zu können; mit einer Hand ein Kartenspiel zu mischen, aber kein Kartenspiel zu beherrschen; ein „enzyklopädisches“ Wissen über einen Filmstar, unterschiedliche Sägen oder Automarken; Mosaikmuster oder vielteilige Puzzle gegenüber nicht behinderten (neurotypischen) Personen in wesentlich kürzerer Zeit zu legen. Zudem wird die Hyperlexie-Fähigkeit kommunikations- und kognitiv beeinträchtigter Kinder aus dem Autismus-Spektrum, schon im Alter mit zwei oder drei Jahren Buchstaben oder Wörter zu legen, zu schreiben oder zu decodieren, ohne dabei den Sinn des Textes zu verstehen, als eine savantähnliche Begabung diskutiert (Theunissen 2020b).
  2. Die zweite Form der Inselbegabung ist eine weniger beobachtbare, qualitativ stärker ausgeprägte Variante, die sogenannte talentierte Savants (talented savants) typisiert. Hierbei handelt es sich zumeist um intellektuell beeinträchtigte oder autistische Personen, die vor allem mit hervorragenden Gedächtnisleistungen und musikalischen, bildnerischen oder mathematischen Fähigkeiten und Fertigkeiten oder einem mechanischem Geschick imponieren, zum Beispiel eine einmal gehörte Melodie exakt nachsummen, ein einmal gesehenes Bild aus dem Gedächtnis heraus perfekt visualisieren, aus dem Gedächtnis heraus eine Straßenkarte präzise entwerfen, komplizierte Rechenaufgaben aus dem Gedächtnis lösen oder ohne Vorkenntnisse ein Uhrwerk innerhalb weniger Minuten reparieren und zum Laufen bringen. Derlei Fähigkeiten beschränken sich zumeist – wie bei Gottfried Mind – auf ein spezielles Gebiet und treten ebenso wie die Teilleistungsfähigkeiten vor dem Hintergrund allgemeiner intellektueller Beeinträchtigungen oder autistischer Verhaltensweisen deutlich hervor.
  3. Die dritte Form der Inselbegabung ist ausgesprochen selten zu beobachten und bezieht sich auf sogenannte Wunderkinder (Winner 2003), Ausnahmetalente oder „geniale“ Savants (prodigious savants). Ihnen werden einzigartige, spektakuläre Fähigkeiten und Fertigkeiten nachgesagt, so zum Beispiel das Auswendiglernen von 12.000 Büchern; das Sprechen von 20 Sprachen und das Erlernen einer neuen Sprache innerhalb einer Woche; die autodidaktische Aneignung des Klavierspielens an nur einem Tag im frühkindlichen Alter und das Nachspielen jeder Melodie nach einmaligem Hören; das dreitägige Zeichnen des exakten Luftbildes der Innenstädte von London, Paris oder Rom auf einem fünf Meter langen, großen Papierbogen nach einem einzigen 45-minütigen Flug über die entsprechenden Großstadt; das Zeichnen von Tieren in einer perfekten Plastizität, was schon im Alter von drei Jahren beobachtet wird, den Rahmen der üblichen Kinderzeichnungen sprengt und eine Genialität zum Ausdruck bringt, die üblicherweise nur bei Bildwerken von akademisch ausgebildeten, professionellen Künstler*innen zutage tritt; ein Rechnen so genau und schnell wie ein Computer; 22.514 Stellen der Kreiszahl Pi auswendig kennen; das Lösen von Rechenaufgaben mit über 26stelligen Zahlen in nur 45 Sekunden; das Multiplizieren von fünfstelligen Zahlen im Kopf. Zugleich haben jedoch die betroffenen Personen nicht selten Schwierigkeiten, sich sprachlich zu verständigen, sich in der Außenwelt zu orientieren oder sich selbst zu versorgen, beispielsweise sich ein Essen zuzubereiten oder eine Schleife zu binden.

Ein intellektuell beeinträchtigter „Rechenkünstler“, über den schon als Ausnahmetalent im 18. Jahrhundert berichtet wurde (dazu Treffert 1989, S. 55 f.), ist Thomas Fuller (1710-1790). Wurde er gefragt, „wie viele Sekunden ein Mann gelebt hat, der 70 Jahre, 17 Tage und 12 Stunden alt gewesen war, gab er innerhalb von 90 Sekunden die richtige Antwort von 2210500800“ (Treffert 2009, S. 1351).

Ein anderer, derzeit berühmter „genialer Savant“ ist der Zeichner Stephen Wiltshire (dazu Theunissen und Schubert 2010, S. 62 ff.), der – so der Neurologe Oliver Sacks – über ein „unglaubliches visuelles Gedächtnis [verfügt], das in der Lage zu sein scheint, in wenigen Sekunden die kompliziertesten Gebäude und Stadtlandschaften aufzunehmen und sie mit allen Einzelheiten zu speichern“ (2000, S. 279).

4 Prävalenz

Zuverlässige Untersuchungen zur Häufigkeit von Savants sowie zur Prävalenz von Savant-Fähigkeiten liegen bis heute nicht vor.

Auf der Grundlage aktueller Forschungsstudien und Erkenntnisse in Bezug auf Autismus (Baron-Cohen et al. 2009; Courchesne et al. 2015; Mottron 2011; 2017; Theunissen 2020a) dürfen wir annehmen, dass die große Mehrheit aller Menschen mit einer Inselbegabung dem Autismus-Spektrum zugehörig ist, dass etwa die Hälfte aller autistischen Menschen über Teilleistungsfähigkeiten oder -fertigkeiten verfügt und dass zudem mindestens 10 % aller Autisten oder Autistinnen außergewöhnliche Fähigkeiten im Sinne talentierter Savants zeigen. Nur etwa 100 Personen wird hingegen die dritte Ausprägung des Savant-Syndroms attestiert, wobei auch hierbei der Anteil an autistischen Personen am größten ist.

Bei anderen Behinderungsformen, wie bei Intelligenzbeeinträchtigungen oder bei Hirnschädigungen, treten Inselbegabungen wesentlich seltener als bei Autismus auf (Treffert 2015, S. 308). Etwa 0,06 Prozent aller Personen, denen eine intellektuelle Entwicklungsbeeinträchtigung (sog. geistige Behinderung) nachgesagt wird, erreichen Schätzungen zufolge „in einer speziellen Fähigkeit ein ungewöhnlich hohes Niveau, das weit über der durchschnittlichen Leistung nichtbehinderter Menschen liegt“ (Hermelin 2002, S. 19.).

Alles in allem sind somit nicht alle Personen mit einer Inselbegabung autistisch; und nicht alle Menschen aus dem Autismus-Spektrum sind Savants.

Bis heute wird eine Inselbegabung vier- bis sechsmal häufiger bei Jungen oder Männern beobachtet als bei Mädchen oder Frauen. Ein ähnliches Geschlechterverhältnis besteht beim Autismus. Diesbezüglich wird diskutiert, ob autistische Merkmale bei Mädchen oder Frauen möglicherweise noch zu selten erkannt werden. Darüber hinaus werden als Erklärung für den höheren Anteil an männlichen Savants eine neurotoxische Wirkung durch einen hohen fötalen Testosteronspiegel (Treffert 2015, S. 310) sowie ein damit verknüpftes „extrem männliches Gehirn“ (Baron-Cohen 2015) in Erwägung gezogen.

5 Ursachen

Bis heute sind Ursachen und Entstehungsbedingungen der Inselbegabungen ungeklärt. Nach wie vor gibt es keine Theorie, die alle Inselbegabungen erklären kann. So lassen sich zum Beispiel prominente Ansätze aus der Autismusforschung wie die Annahme des „extrem männlichen Gehirns“ (Baron-Cohen 2015), die Theorie der „erweiterten wahrnehmungsbezogenen Funktionsfähigkeit“ (Mottron 2015) oder die Theorie der „intensiv erlebten Welt“ (Markram et al. 2007) (dazu Theunissen 2020a) nicht unvermittelt auf nicht-autistische Personen mit Inselbegabungen übertragen, und ebenso sind spezifische Theorien, die in der Savantforschung diskutiert werden, beispielsweise die an späterer Stelle erwähnte Annahme eines „eidetischen Gedächtnisses“ (Treffert 1989), nicht in der Lage, „den Facettenreichtum des Savant-Phänomens abzubilden“ (Bölte, Uhlig und Poustka 2002, S. 293).

Grundsätzlich gelten Inselbegabungen in erster Linie als genetisch bedingt (Treffert 2008b), sie können aber auch in der Kindheit oder im Erwachsenenalter (z.B. durch Hirnverletzungen) erst entstehen. Nicht selten werden sie mit einer größer ausgebildeten und dominanten rechten Gehirnhälfte in Verbindung gebracht, wenngleich selbst bei einer funktionellen Spezialisierung stets das Zusammenspiel beider Hirnhemisphären beachtet werden muss (Treffert 1989, S. 154 ff., 195; 1999).

Möglicherweise wird schon durch bestimmte Stimuli während der Schwangerschaft (z.B. klassische Musik) ein „vorgeburtliches Lernen“ befördert, wodurch eine Hemisphärenspezialisierung mit außergewöhnlichen Fähigkeiten gebahnt wird. Darüber hinaus wird vermutet, dass neben einer Unterversorgung der linken Hirnhemisphäre mit dem Neurotransmitter Serotonin der erhöhte Testosteronspiegel während der Embryonalentwicklung linkshirnige Wachstumsverzögerungen und neuronale Funktionsschwächen zur Folge hat.

Vor dem Hintergrund dieser Hirnentwicklung scheinen vor allem Personen mit Inselbegabungen auf künstlerischem Gebiet über eine „ungefilterte Art der Informationsverarbeitung“ zu verfügen, die selbst bei einem niedrigen IQ als ein ausgezeichnetes „Bildgedächtnis“ zutage tritt, das die Betroffenen unabhängig von ihrem Intelligenzniveaus direkt mit motorischem Geschick (z.B. bei Zeichnungen) umzusetzen wissen (Hermelin 2002, S. 168 ff.; O’Connor und Hermelin 1987; Treffert 1989, S. 87 f.; Theunissen und Schubert 2010, S. 52 f.).

In Ergänzung zu der Annahme, dass es angesichts einer Schädigung der linken Hirnhälfte zu einer (Über-)Kompensation durch die rechte Hemisphäre kommt (Sacks 1995, S. 249; 2000, S. 272, 294, 313; 2011, S. 197), vermutet Treffert (2015, S. 311) auch „eine Schädigung übergeordneter, für die Kognition oder das semantische Gedächtnis zuständiger, Schaltkreise […], welche durch ein gesteigertes Kompensationsvermögen niederer, primitiverer, für automatisierte Fertigkeiten bzw. das prozedurale Gedächtnis zuständiger Schaltkreise ausgeglichen wird“.

6 Inselbegabungen im Lichte von Kreativität

Interessant ist die Frage, ob diese (rechtshirnigen) neuronalen Kompensationsleistungen von Savants „kreative“ Fähigkeiten befördern (dazu Theunissen und Schubert 2010, S. 55 f.). Einige Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass „die meisten Savants nicht wirklich kreativ“ sind (Ramachandran und Blakeslee 2002, S. 319), indem sie weder für sich selbst, noch für die Gesellschaft etwas Neues oder Bedeutungsvolles schaffen würden. Diese These ist jedoch umstritten und von autistischen Savants widerlegt worden (dazu Tammet 2010, S. 192 f.; Theunissen 2020a, S. 91 ff.). 

Anstelle von Kreativität wird Personen mit Inselbegabungen häufig ein „eidetisches Gedächtnis“ nachgesagt (Treffert 1989, S. 132 ff.), das sich auf die Fähigkeit erstreckt, Bilder oder Szenen, auf die nur ein flüchtiger Blick geworfen wird, für einen längeren Zeitraum (mehrere Tage oder Monate) in allen Details im Gedächtnis zu behalten und bei einem bildnerischen Gestaltungsprozess anschaulich zu vergegenwärtigen und abzurufen. Allerdings sollte diesbezüglich reflektiert werden, dass sich ein „eidetischer Künstler“ im Unterschied zu vielen Savants „kaum je auf ein einzelnes Thema oder Objekt beschränken [würde]; im Gegenteil, er würde sein Erinnerungsvermögen ausbeuten und in einer ungeheuren Vielfalt von Themen und Objekten zur Schau stellen“ (Sacks 2000, S. 219).

Ein in dem Zusammenhang viel diskutierter Aspekt bezieht sich auf ein Savant-Künstler*innen nachgesagtes „fotografisches Gedächtnis“, indem sie mit „fotografischer Genauigkeit“, quasi wie ein „lebender Fotokopierer“ nur „unpersönliche Bilder“ produzieren würden (dazu Sacks 1995, S. 282; 2000, S. 218 ff.; 287; auch Treffert 1989, S. 95). Tatsächlich kann auf den ersten Blick ein solcher Eindruck entstehen (Treffert 1989, S. 259), dennoch sind nicht wenige dieser Savant-Künstler*innen sehr wohl in der Lage, sich auch „künstlerische Freiheiten“ (Hermelin 2002, S. 181) zu nehmen und eigenen Vorstellungen und Gefühlen in ihren Bildern Ausdruck zu verleihen (Sacks 1995, S. 282 ff., 291 f., 298; 2000, S. 311, 323; Theunissen und Schubert 2010). Hierbei handle es sich zwar nicht um eine Kreativität, die sich durch ein hohes Maß an Fantasie und emotional geprägter Intuition auszeichnet, jedoch um eine „kreative Intelligenz“ (Sacks 1995, S. 254), die auf der Basis einer hoch entwickelten Wahrnehmungsleistung darin bestehe, uns eine „Gabe, etwas zu leisten,“ vor Augen zu führen, „was wenigen von uns vergönnt ist – eine bedeutsame Darstellung und Erschließung der Welt“ (Sacks 2000, S. 337).

Damit haben wir eine besondere Stärke aufgegriffen, die den künstlerisch-gestalterischen Bereich betrifft und am zweithäufigsten als Inselbegabung zutage tritt. Am häufigsten treten Savant-Fähigkeiten und Fertigkeiten auf dem Gebiet der Musik auf. An dritter Stelle begegnen wir den verschiedenen Formen der Kalkulie (z.B. Kalenderberechnungen) und den anderen außergewöhnlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Rechnen (z.B. Arithmetik), „wobei es durchaus auffällig ist, dass die betreffenden Menschen in der Lage sind, mehrstellige Primzahlen zu berechnen, ihnen aber das Lösen einfachster mathematischer Aufgaben nicht gelingt“ (Treffert 2015, S. 309.).

Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl an weiteren Savant-Fähigkeiten, die in der Regel immer mit besonders gut ausgeprägten Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen einhergehen und sich beispielsweise auf ein herausragendes räumliches Vorstellungsvermögen oder auf das Phänomen der Synästhesie (dazu Sacks 2011, S. 208 ff.) beziehen – „einer Querverschaltung der Sinnesmodalitäten im Gehirn, die meistens dazu führt, dass der Betreffende die Buchstaben des Alphabets und Zahlen in verschiedenen Farben sieht“ (Tammet 2010, S. 89). Auch diese synästhetische Fähigkeit „prädisponiert den Einzelnen für besonders fantasievolle und originelle Gedanken und Ideen“ (ebd., S. 178), weshalb sie ein kreatives Phänomen darstellt.

7 Konsequenzen für die Praxis

Oliver Sacks (1995; 2000) gebührt das Verdienst, vor dem Hintergrund solcher Befunde Personen mit Inselbegabungen nicht nur im Lichte ihrer außergewöhnlichen Leistungen, sondern in ihrem gesamten Menschsein zu würdigen und wertzuschätzen. Mit dieser zutiefst humanen, „ganzheitlichen“ Sicht wendet er sich zugleich gegen Gepflogenheiten, autistische oder intellektuell beeinträchtigte Savants aufgrund ihrer Entwicklungsdiskrepanzen oder spezifischen Verhaltensprobleme als „klinische Fälle“ zu pathologisieren. Dies ist gleichfalls die Stimme aus dem Lager der betroffenen Personen und Menschen aus dem Autismus-Spektrum (Theunissen 2020a), die nicht als „krank“ oder „psychisch gestört“ abgestempelt werden wollen.

In der Tat sollten wir Wert auf die Erkenntnis legen, dass es fruchtbarer ist, Savants mit ihren Spezialinteressen und Fähigkeiten Raum zur Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Teilhabe zu ermöglichen, als ihnen ihre Schwächen oder Probleme vor Augen zu führen und eine an den Defiziten ausgerichtete funktionsorientierte Verhaltenstherapie, heil- oder sonderpädagogische Förderung zu verordnen. Solche Interventionen bergen nämlich die Gefahr, das kreative Potenzial und die außergewöhnlichen Fähigkeiten oder Fertigkeiten der Betroffenen zu beeinträchtigen oder gar einzudämmen (Theunissen und Schubert 2010, S. 92; Treffert 2009, S. 1355). Nachweislich schädlich sei es, wenn zum Beispiel „anstelle mit Savants […] an ihnen gearbeitet“ (Treffert 1989, S. 267) wird. Stattdessen ist eine empathisch-verstehende Teilnahme der Fachkräfte ebenso unabdingbar wie die Unterstützung der speziellen Interessen, Fähigkeiten und Stärken (training the talent). Von hier aus lassen sich zugleich günstige Voraussetzungen (Selbstvertrauen, Motivation, Lernbereitschaft) für eine funktionsorientierte Förderung schaffen, bei der die speziellen Stärken oder Begabungen als Vehikel für die Aneignung lebenspraktisch „nützlicher“ oder anderer Fähigkeiten zur Gewinnung von mehr Autonomie fungieren können (ebd., S. 1355). Dieser Ansatz hat sich in der Praxis bewährt.

8 Quellenangaben

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Baron-Cohen, Simon, Emma Ashwin, Chris Ashwin, Teresa Tavassoli und Bhismadev Chakrabarti, 2009. Talent in autism: hyper-systemizing, hyper-attention to detail and sensory hypersensitivity. In: Phil. Trans. R. Soc. B. [online]. 364(1522), S. 1377–1383 [Zugriff am: 14.07.2020]. Verfügbar unter: doi:10.1098/rstb.2008.0337

Bölte, Sven, Nora Uhlig und Fritz Poustka, 2002. Das Savant-Syndrom: Eine Übersicht. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie. 31, S. 291–297. ISSN 1661-4747

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Hermelin, Beate, 2002. Rätselhafte Begabungen: Eine Entdeckungsreise in die faszinierende Welt außergewöhnlicher Autisten. Stuttgart: Klett. ISBN 978-3-608-94346-7

Markram, Henry, Tania Rinaldi und Kamila Markram, 2007. The Intense World Syndrome – an alternative hypothesis for autism. In: Frontiers in Neuroscience [online]. 1, S. 77–96 [Zugriff am: 05.01.2012]. Verfügbar unter: doi: 10.3389/neuro.01.1.1.006.2007

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Mottron, Laurent, 2015. Enhanced Perceptual Functioning (EPF). In: Georg Theunissen, Wolfram Kulig, Vico Leuchte und Henriette Paetz, Hrsg. Handlexikon Autismus-Spektrum. Stuttgart: Kohlhammer, S. 119–122. ISBN 978-3-17-023431-4 [Rezension bei socialnet]

Mottron, Laurent, 2017. Should we change targets and methods of early intervention in autism, in favor of a strengths-based education? In: Eur Child Adolesc Psychiatry [online]. 26, S. 815–825 [Zugriff am: 12.05.2018]. Verfügbar unter: DOI 10.1007/s00787-017-0955-5

O’Connor, Neal und Beate Hermelin, 1987. Visual and graphic abilities of the idiot savant artist. In: Psychological Medicine. 17(1), S. 79–90. ISSN 0033-2917

Ramachandran, Vilaynur S. und Sandra Blakeslee, 2002. Die Blinde Frau, die sehen kann. Reinbek: Rowohlt. ISBN 978-3-499-61381-4

Sacks, Oliver, 1995. Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Reinbek: Rowohlt. ISBN 978-3-499-18780-3

Sacks, Oliver, 2000. Eine Anthropologin auf dem Mars. Reinbek: Rowohlt ISBN 978-3-499-60242-9

Sacks, Oliver, 2011. Der einarmige Pianist: Über Musik und das Gehirn. Reinbek: Rowohlt. ISBN 978-3-499-62425-4

Tammet, Daniel, 2010. Wolkenspringer: Von einem genialen Autisten lernen. München: Piper. ISBN 978-3-492-25783-1

Theunissen, Georg, Hrsg. 2020a. Autismus verstehen. 2. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-037906-0

Theunissen, Georg, 2020b. Autismus und Hyperlexie. In: Zeitschrift für Heilpädagogik. 71(1), S. 13 – 23. ISSN 0513-9066

Theunissen, Georg und Michael Schubert, 2010. Starke Kunst von Autisten und Savants: Über außergewöhnliche Bildwerke, Kunsttherapie und Kunstunterricht. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-7841-1985-4 [Rezension bei socialnet]

Treffert, Darold, A., 2009. The savant syndrome: an extraordinary condition. A synopsis: past, present, future. In: Phil. Trans. R. Soc. B. [online]. 364(1522), S. 1351–1357 [Zugriff am: 14.07.2020]. Verfügbar unter: doi:10.1098/rstb.2008.0326

Treffert, Darold. A., 1989. Extraordinary People: Understanding “Idiot Savants”. New York: Harper & Row. ISBN 978-0-06-015945-0

Treffert, Darold. A., 1999. Savant Syndrome: Recent Research, Results and Ressources [online]. [Zugriff am: 08.01.2009]. Verfügbar unter: http://www.wisconsinmedicalsociety.org/savant_syndrome/​savant_article/​savant_update_99 (veraltet)

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Treffert, Darold. A., 2015. Savants und Savant-Syndrom – eine außergewöhnliche Erscheinung. In: Georg Theunissen, Wolfram Kulig, Vico Leuchte und Henriette Paetz, Hrsg. Handlexikon Autismus-Spektrum. Stuttgart: Kohlhammer, S. 308–313. ISBN 978-3-17-023431-4 [Rezension bei socialnet]

Winner, Ellen, 2003. Hochbegabte, Wunderkinder und „Savants“. In: Spektrum der Wissenschaft. 4, S. 42–47. ISSN 0945-9537

9 Literaturhinweise

Theunissen, Georg und Michael Schubert, 2010. Starke Kunst von Autisten und Savants: Über außergewöhnliche Bildwerke, Kunsttherapie und Kunstunterricht. Freiburg: Lambertus. ISBN 978-3-7841-1985-4 [Rezension bei socialnet]
Diese Schrift greift das Thema der Inselbegabungen am Beispiel autistischer Künstler*innen auf.

Treffert, Darold. A., 1989. Extraordinary People: Understanding “Idiot Savants”. New York: Harper & Row. ISBN 978-0-06-015945-0
Diese Schrift ist für Leser*innen interessant, die sich über die Geschichte der Entdeckung von Savants sowie über Anfänge der Savant-Forschung informieren möchten.

Treffert, Darold. A., 2015. Savants und Savant-Syndrom – eine außergewöhnliche Erscheinung. In: Georg Theunissen, Wolfram Kulig, Vico Leuchte und Henriette Paetz, Hrsg. Handlexikon Autismus-Spektrum. Stuttgart: Kohlhammer, S. 308–313. ISBN 978-3-17-023431-4 [Rezension bei socialnet]
Dieser Text bietet einen aktuellen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Savant-Forschung.

Winner, Ellen, 2003. Hochbegabte, Wunderkinder und „Savants“. In: Spektrum der Wissenschaft. 4, S. 42–47. ISSN 0945-9537
Ergänzend zu D. Trefferts Handbuchartikel ermöglicht E. Willers Beitrag einen zugänglichen Einstieg ins Thema.

Verfasst von
Prof. Dr. Georg Theunissen
Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (i. R.)
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Zitiervorschlag
Theunissen, Georg, 2020. Inselbegabung [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 16.07.2020 [Zugriff am: 31.05.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/28261

Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Inselbegabung

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