Insoweit erfahrene Fachkraft (Kinderschutz)
Markus Wegenke
veröffentlicht am 22.08.2023
Der Begriff „insoweit erfahrene Fachkraft“ bezeichnet eine Fachkraft, die im Rahmen eines Kinderschutzverfahrens Beratung und Unterstützung für fallverantwortliche Personen und/oder Institutionen anbietet.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Zum rechtlichen Rahmen
- 3 Zum Begriff
- 4 Zum Auftrag
- 5 Zum Wirkungskreis
- 6 Zur Zertifizierung
- 7 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Bei der insoweit erfahrenen Fachkraft handelt es sich um einen Qualitätsstandard im Kinderschutz, nicht aber um ein eigenständiges Berufsbild. Ein Beratungsanspruch bzw. eine Beratungsverpflichtung besteht für Personen, die nicht primäre Akteure des staatlichen Wächteramtes sind. Diese primäre Wächterfunktion nehmen Jugendamt und Familiengericht ein. Um auch weitere Akteure in die Lage zu versetzen, bestmöglich auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung zu reagieren, kommt der IEF eine wichtige Bedeutung zu (Kepert et al. 2021, S. 156).
Die öffentlichen Träger der Jugendhilfe sind verpflichtet, das Beratungsangebot vorzuhalten. Die freien Träger der Jugendhilfe können eigene insoweit erfahrene Fachkräfte vorhalten. Wer im Einzelfall als insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird, ist in den Vereinbarungen zwischen öffentlichen und freien Trägern bzw. Einrichtungen zu regeln. Art und Umfang der Beratung orientiert sich am Einzelfall und kann methodisch vielfältig erfolgen. Ebenso kann es notwendig sein, im Rahmen eines Kinderschutzverfahrens mehrfach Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft einzuholen. Die Aufgaben der insoweit erfahrenen Fachkraft sind dabei nur beratend für die fallverantwortliche Fachkraft. Die insoweit erfahrene Fachkraft selbst übernimmt keine Fallverantwortung für den jeweiligen Kinderschutzfall. Eine Zertifizierung als „Kinderschutzfachkraft“ alleine macht noch keine insoweit erfahrene Fachkraft aus.
2 Zum rechtlichen Rahmen
Der Begriff „insoweit erfahrene Fachkraft“ findet sich in:
- § 8a Abs. 4 SGB VIII (Schutzauftrag für Einrichtungen von Trägern und Diensten, die Leistungen nach dem SGB VIII erbringen)
- § 8a Abs. 5 SGB VIII (Schutzauftrag für Kindertagespflegepersonen)
- § 8b SGB VIII (Beratungsanspruch für Personen, die beruflich Kontakt mit Kindern und Jugendlichen haben)
- § 4 KKG (Schutzauftrag durch Berufsgeheimnisträger:innen i.S.d. § 4 KKG [Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz])
Im SGB VIII finden sich nur sehr begrenzt Informationen zum Anforderungsprofil an die insoweit erfahrene Fachkraft. Im Wesentlichen überlässt es der Gesetzgeber den Vereinbarungen zwischen öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe, wer als IEF berät. Die einzige Anforderung im SGB VIII an die IEF ist seit 10.06.2021, dass sie „den spezifischen Schutzbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung Rechnung tragen muss“ (§ 8a Abs. 4 SGB VIII).
Der Rechtsanspruch bzw. die Verpflichtung auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft besteht gegenüber dem öffentlichen Träger der Jugendhilfe. Die freien Träger der Jugendhilfe können eigene IEF benennen, die trägerintern für Beratung und Begleitung zur Verfügung stehen.
Nicht mit dem Auftrag der IEF vereinbar ist eine direkte Information an Fachkräfte des Sozialen Dienstes des Jugendamtes, als vermeintliche IEF. Der Soziale Dienst kann sich nicht auf eine Fachberatung beschränken, da sein eigener Schutzauftrag nach § 8a Abs. 1 SGB VIII ausgelöst würde (Meysen 2022, § 8a Rn 72). Die IEF kann daher in anderen Organisationseinheiten des Jugendamtes platziert werden, nicht aber in den Sozialen Diensten des Jugendamtes, sofern die Beratung auf Basis von personenbezogenen Daten erfolgt. Bei einer Anonymisierung oder Pseudonymisierung der Daten ist auch eine anderweitige Verortung denkbar.
3 Zum Begriff
Der Begriff „insoweit erfahrene Fachkraft“ bezieht sich auf den Aspekt, dass die IEF in Bezug auf das Einschätzen von Gefährdungsrisiken (= Gefährdungseinschätzung) erfahren sein muss (Bringewat 2022, § 8a Rn 103). Die IEF muss im konkreten Einzelfall, für die jeweilige Gefährdungslage und den individuellen Hilfekontext entsprechend beraten können. Zudem benötigt die Person fundierte Kenntnisse im Bereich Kinderschutz und den dazugehörigen Arbeitsprozessen und Rechtsgrundlagen. So können je nach Situation beispielsweise spezielle Erfahrungen in den Bereichen:
- Kinder und Jugendliche von psychisch kranken Eltern,
- Kinder und Jugendliche von an Suchtmittel erkrankten Eltern,
- Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung,
- Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen,
- Frühe Hilfen
gefordert sein.
„Erfahren“ bedeutet, dass die Person nicht nur die theoretischen Kenntnisse, sondern auch die entsprechenden Praxiserfahrungen im Bereich Kinderschutz mitbringt.
„Fachkraft“ bedeutet i.S.d. § 72 SGB VIII i.V.m. § 8a SGB VIII oder § 8b SGB VIII sowie § 4 KKG, dass die Person eine abgeschlossene Ausbildung im sozialen, psychologischen, juristischen, medizinischen usw. Bereich hat und sich persönlich für die Aufgabe eignet.
Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es unzulässig wäre, nur eine Person für alle Situationen und jeden Einzelfall als „insoweit erfahren“ vorzuhalten. Eine „Zertifizierung“ ist nicht erforderlich, um als insoweit erfahrene Fachkraft beraten zu können (Bringewat 2022, § 8a Rn 103) (siehe Punkt 6).
4 Zum Auftrag
Der Auftrag der insoweit erfahrenen Fachkraft besteht in einer fachlichen Begleitung und Beratung einer Person und/oder Institution, die einen Kinderschutzfall hat. Dabei geht die Verantwortung für den Kinderschutzfall nicht auf die IEF über, sondern die Fallverantwortung obliegt weiterhin der jeweiligen Person in der Institution (z.B. Erzieher:in in der KiTa). Die IEF hat den Auftrag, den Prozess des Kinderschutzverfahrens fachlich zu begleiten und durch Kenntnisse aus dem methodischen Bereich, dem juristischen Bereich und praktischen Erfahrungen eine bestmögliche Qualität für den Prozess der Gefährdungseinschätzung zu ermöglichen.
Dies kann methodisch vielfältig geschehen, z.B. in Form von Fachexpertise, Moderation, Fachberatung, Fallreflexion, Teamberatung, Vorbereitung von Elterngesprächen (Fachstelle Kinderschutz im Land Brandenburg 2019). Eine Grenze der Beratung durch die IEF sollte es sein, dass sie selbst keinen Kontakt zu dem betroffenen Kind und/oder Familiensystem hat, um eine neutrale Beratung zu ermöglichen. Die Art und Weise wie eine insoweit erfahrene Fachkraft ihrem Auftrag nachkommt, orientiert sich dabei am Einzelfall. Es kann auch notwendig sein, dass eine IEF im Rahmen eines Kinderschutzverfahrens mehrfach für eine Beratung hinzugezogen wird. Rechtlich ist nicht vorgeschrieben, wie die Beratung umgesetzt wird. Dies kann als Beratung vor Ort in der Einrichtung erfolgen, telefonisch, am Arbeitsort der IEF, etc. Sinnvoll erscheinen Konzepte, bei denen eine IEF einer Institution persönlich bekannt ist. Es ist nicht die Verantwortung der IEF, von sich aus eine Beratung zu initiieren. Vielmehr muss/kann (siehe Punkt 5) die fallverantwortliche Person von sich aus proaktiv eine IEF in die Gefährdungseinschätzung einbeziehen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, dass das Beratungsangebot der IEF niedrigschwellig und transparent identifizierbar ist. Hilfreich für die IEF ist eine möglichst breite Methodenkompetenz. Kritisch zu betrachten ist eine Reduktion auf nur einzelne Methoden (z.B. kollegiale Beratung nach dem „Heilsbronner Modell“; Religionspädagogisches Zentrum Heilsbronn o.J.), die für jeden Einzelfall zur Anwendung kommen soll.
5 Zum Wirkungskreis
Der Gesetzgeber unterteilt die Adressat:innen der IEF in zwei Gruppen:
- Zur Beratung verpflichtete Personen:
- Für Fachkräfte bei den Trägern von Einrichtungen und Diensten des SGB VIII gem. § 8a Abs. 4 SGB VIII besteht eine Verpflichtung zur Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft im Rahmen der Gefährdungseinschätzung. Beispiel: Erzieher:in in Kindertageseinrichtungen von Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, Sozialpädagogische Familienhilfe von Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, etc.
- Ebenso besteht die Verpflichtung für Kindertagespflegepersonen gem. § 8a Abs. 5 SGB VIII.
- Zur Beratung befugte Personen:
- Personen, die beruflich Kontakt mit Kindern und Jugendlichen haben, (aber nicht im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten, für die der § 8a Abs. 4 SGB VIII gilt), z.B. hauptamtliche Trainer:innen im Sportverein, hauptamtliche Betreuer:innen von Ferienfreizeiten, Schulkindbetreuung, etc. Eine Grenze liegt bei ehrenamtlichen Personen, diese zählen nicht zum Wirkungskreis des § 8b SGB VIII.
- Für die in § 4 KKG genannten Berufsgeheimnisträger:innen gilt gleichermaßen eine Befugnis zur Hinzuziehung einer insoweit erfahrenen Fachkraft, jedoch keine Verpflichtung.
6 Zur Zertifizierung
Seit der Einführung der insoweit erfahrenen Fachkraft in das SGB VIII im Jahr 2005, hat sich ein breiter Markt von Anbieter:innen entwickelt, die Weiterbildungen bzw. Qualifikationskurse zur insoweit erfahrenen Fachkraft anbieten. Dabei ist zu beachten, dass eine „Zertifizierung“ keine Voraussetzung für die Arbeit als insoweit erfahrene Fachkraft ist (Meysen 2022, § 8a Rn 67). Eine Zertifizierung im Rahmen eines Weiterbildungscurriculums ist alleine auch noch keine hinreichende Voraussetzung für die Tätigkeit als insoweit erfahrene Fachkraft, insbesondere wenn der entsprechenden Person die notwendige Praxiserfahrung fehlt. Der Pool von Anbieter:innen auf dem Gebiet der Weiterbildungen für insoweit erfahrene Fachkräfte ist breit gefächert, weil es an rechtlichen Vorgaben zur Qualifikation der insoweit erfahrenen Fachkraft fast vollständig fehlt. Jede:r Anbieter:in kann Inhalte und Umfang nach eigenen Vorstellungen und Ideen festlegen. Eine Fortbildung zur insoweit erfahrenen Fachkraft kann dennoch sinnvoll sein, wenn zwar die Fachkompetenz und Praxiserfahrung besteht, aber die konkreten rechtlichen und methodischen Möglichkeiten zu einer fundierten Beratung und Begleitung im Kinderschutz erlernt und vertieft werden sollen.
7 Quellenangaben
Bringewat, Peter, 2022. SGB VIII § 8a Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. In: Peter-Christian Kunkel, Jan Kepert und Andreas Kurt Pattar, Hrsg. Sozialgesetzbuch VIII: Kinder- und Jugendhilfe. 8. Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-6358-0
Fachstelle Kinderschutz im Land Brandenburg, 2019. Die insoweit erfahrene Fachkraft: … keine Beschreibung eines Berufsbildes, sondern ein verbindliches Element der Qualitätssicherung und -entwicklung in der Kinderschutzarbeit! [online]. Bernburg: Start – gemeinnützige Beratungsgesellschaft mbH, 01.08.2019 [Zugriff am: 13.08.2023]. Verfügbar unter: https://www.fachstelle-kinderschutz.de/files/​01_Fachstelle_Kinderschutz/​Publikationen/​Fachartikel/die%20insoweit%20erfahrene%20Fachkraft%20Aug.%202019.pdf
Kepert, Jan, Andreas Dexheimer, Jörg. M. Fegert, Michael Macsenaere, Susanne Kepert und Monika Feist-Ortmanns, 2021. Praxishandbuch Kinderschutz für Fachkräfte und insoweit erfahrene Fachkräfte: Der Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII – Rechtliche, psychologische und pädagogische Aspekte. Köln: Reguvis Fachmedien GmbH. ISBN 978-3-8462-1105-2 [Rezension bei socialnet]
Meysen, Thomas, Johannes Münder und Thomas Trenczek, Hrsg., 2022. Frankfurter Kommentar SGB VIII: Kinder- und Jugendhilfe. 9., vollständig überarbeitete Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-7192-9 [Rezension bei socialnet]
Religionspädagogisches Zentrum Heilsbronn [ohne Jahr]. Heilsbronner Modell zur kollegialen Beratung [online]. Heilsbronn: Religionspädagogisches Zentrum der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern [Zugriff am: 13.08.2023]. Verfügbar unter: https://www.rpz-heilsbronn.de/arbeitsbereiche/​berufsbegleitung/​kollegiale-beratung/​heilsbronner-modell-zur-kollegialen-beratung/
Verfasst von
Markus Wegenke
Sozialarbeiter und gemeinsam mit Prof. Dr. Jan Kepert Inhaber des Freiburger Zentrums für Kinder- und Jugendhilfe
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Markus Wegenke.
Zitiervorschlag
Wegenke, Markus,
2023.
Insoweit erfahrene Fachkraft (Kinderschutz) [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 22.08.2023 [Zugriff am: 24.09.2023].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29178
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Insoweit-erfahrene-Fachkraft-Kinderschutz
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