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International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps

Dr. Jan Jochmaring

veröffentlicht am 10.03.2023

Abkürzung: ICIDH

Veraltet für: International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)

Die „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps“ (ICIDH) ist eine Klassifikation von Behinderungen aus dem Jahr 1980, die von der World Health Organization (WHO) entworfen und u.a. aufgrund ihrer defizitorientierten Sichtweise zur ICIDH-2 weiterentwickelt und später von der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) abgelöst wurde.

Überblick

  1. 1 Entstehungsgeschichte
  2. 2 Dimensionen der ICIDH
  3. 3 Kritik an der ICIDH
  4. 4 Konzeptionelle Weiterentwicklung zur ICIDH-2
  5. 5 Übergang zur ICF
  6. 6 Quellenangaben

1 Entstehungsgeschichte

Der Ursprung und die Etablierung der ICIDH (WHO 1980) befindet sich in einem zeitlichen Entwicklungskontext zwischen der Vorgängerin der ICD-10 und ihrer Nachfolgerin der ICF.

Die Diagnose-Klassifikationen der ICD-10 stellten Krankheiten in einem einachsigen monohierarchischen System dar. Ein ärztliches und gesundheitspolitisches Handeln beschränkte sich auf die Behandlung von Krankheiten. Die Folgen von Krankheiten, Störungen und Behinderungen wurden nicht mitberücksichtigt (DIMDI o.J.). Das Konzept reichte dementsprechend nicht mehr aus, um den Bedarf an Rehabilitation sowie individuelle Gesundheitszustände adäquat zu beschreiben (Schuntermann 2001).

Es bestand daher ein konkreter Handlungsbedarf die ICD-10 zu ergänzen und thematisch zu erweitern. Dahingehend gab es bereits in den frühen 1970er-Jahren Überlegungen der WHO, eine mehrachsige Klassifikation der Folgen von Krankheiten zu entwickeln (Becker und Greve 1995). Dabei sollte in deren Betrachtung zwischen der strukturellen Schädigung sowie der funktionalen Störung und den damit verbundenen sozialen Beeinträchtigungen differenziert werden. Zudem sollten die verschiedenen Aspekte in einer separaten, jedoch parallelisierten Klassifikation erfasst werden. Im Ergebnis wurde dann von der WHO die ICIDH (WHO 1980) als eine dreiachsige Klassifikation der Folgen von Krankheit konzeptualisiert (DIMDI o.J.; Schuntermann 2001).

2 Dimensionen der ICIDH

Die ICIDH besteht aus drei zentralen Dimensionen, die im englischsprachigen Originaltext gleichzeitig auch namensgebend sind: Impairment, Disability und Handicap (WHO 1980).

  1. Mit dem Begriff Impairment wird die Schädigung von biologischen und/oder psychischen Strukturen und Funktionen des menschlichen Organismus beschrieben. Hierbei handelt es sich um eine rein medizinische, defizitorientierte Perspektive im Sinne einer Diagnose oder Feststellung.
  2. Mit der zweiten Dimension Disability werden die Einschränkungen in den unterschiedlichen Funktionen beschrieben. Sie umfasst u.a. die Einschränkungen der menschlichen Physis, Psyche oder Kognition.
  3. Die dritte Dimension Handicap beschreibt hingegen die „Störung“ der sozialen Stellung oder Rolle der betreffenden Person und damit die (eingeschränkte) Fähigkeit zur Teilnahme und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. In der Konsequenz kann das Benachteiligungen auf der physischen oder psychosozialen Ebene bedeuten ebenso hinsichtlich der Ausübung familiärer, beruflicher, gesellschaftlicher sowie alters- und geschlechtsspezifischer Rollen. Im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Dimensionen wird bei dieser keine medizinische Perspektive eigenommen, sondern die sozialen „Resultate“ und Auswirkungen der Beeinträchtigung oder Krankheit fokussiert (Cloerkes 2007; Schuntermann 2001).

3 Kritik an der ICIDH

Im Jahr 1993 wurde von der WHO eine Revision der ICIDH beschlossen. Kernkritikpunkte an der bis dahin gültigen Klassifikation waren die tendenziell individuumszentrierte und klar defektorientierte Betrachtung (Hirschberg 2009; Cloerkes 2007; Schuntermann 2001). Beanstandet wurde vor allem die eindimensionale defizitorientierte Sichtweise, nach der einer Schädigung stets eine Fähigkeitsstörung folgt, die zu sozialer Beeinträchtigung führt. Eine Beschreibung positiver Erfahrungen und Aspekte war damit nicht möglich. Auch waren wichtige Komponenten im Prozess der sozialen Beeinträchtigung, nämlich äußere (Umwelt-)Faktoren und innere, auf die Person bezogene, nicht berücksichtigt. Ein Ziel war es, zur Beschreibung der Schädigungen zukünftig neueste wissenschaftliche Erkenntnisse in Bezug auf grundlegende biologische Mechanismen zu berücksichtigen.

Daher wurden im Zuge des Revisionsverfahren die ICIDH als Klassifikation einer „Folgen von Krankheit“ zu einer Klassifikation der „Komponenten von Gesundheit“ weiterentwickelt (Becker und Greve 1995; Schuntermann 2001).

4 Konzeptionelle Weiterentwicklung zur ICIDH-2

Das Revisionsverfahren führte im Ergebnis zu einer überarbeiteten Fassung – der ICIDH-2 (WHO 1999). Ätiologisch betrachtet wurde damit eine neutrale Perspektive eingenommen. Im Jahr 1997 wurde ein Beta-1-Draft der ICIDH-2, der alle Verbesserungsvorschläge integrierte, für systematische Feldversuche freigegeben. Deren Auswertung führte zum Beta-2-Draft, der ebenfalls international umfangreich getestet wurde (Schuntermann 2001). In der ICIDH-2 wurde die Kritik am Vorgänger berücksichtigt, der gesellschaftliche Kontext in Teilen mitberücksichtigt sowie die behindertensoziologischen bzw. rehabilitationssoziologischen Intentionen (Cloerkes 2007) stärker aufgriffen. Konkret betraf dies den gesellschaftlichen Kontext und Sozialraum, in dem Menschen mit Behinderung leben. Außerdem wurde die aktive selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderung als Ziel formuliert (Schuntermann 2001; WHO 1999).

5 Übergang zur ICF

Auf der Basis der Ergebnisse aus über 50 Staaten wurde im Jahr 2000 ein Prefinal-Draft der ICIDH-2 erarbeitet. Dieser wurde dann nach weiteren Anpassungen im Mai 2001 als Final-Draft der 45. Weltgesundheitsversammlung vorgelegt und nach mehrjährigem Entwicklungsprozess anschließend von der WHO als Nachfolgerin der ICIDH beschlossen. Dieses Ereignis stellt sozusagen die „Geburtsstunde“ der „International Classification of Functioning, Disability and Health – ICF“ dar (Hirschberg 2009; WHO 2001).

Die ICF gilt nicht nur für Menschen mit Behinderung, sondern ist universell anwendbar. Sie stellt einen Rahmen zur Verfügung, um die Gesundheitsdomänen (z.B. Sehen, Hören, Gehen, Lernen) und weitere gesundheitsrelevante Bereiche (z.B. Transport, Bildung, soziale Interaktionen) zu beschreiben. Mit der ICF verschiebt sich der Fokus von der Fähigkeitsstörung zur Aktivität und von der Beeinträchtigung zur sozialen Teilhabe. Mit der ICF wurde die Dimension Handicap obsolet, da der neue Oberbegriff Disability u.a. die drei Aspekte Individuum, Körper und Gesellschaft integriert. Außerdem werden mit der ICF die Kontextfaktoren und der Lebenshintergrund der Betroffenen einbezogen und in ihrer Bedeutung gestärkt (Cloerkes 2007). Diese sind für die Entstehung und Bewältigung gesundheitlicher Probleme bedeutsam. Die ICF ermöglicht es, positive und negative Funktions- und Strukturbilder (Organismus), Leistungsbilder (Aktivitäten) und Teilhabebilder (Partizipation) zu beschreiben (WHO 2001; Schuntermann 2001; Hirschberg 2009).

Auf dem Weg der Entwicklung hin zum Meilenstein der UN-Behindertenrechtskonvention (United Nations 2006) und der damit verbundenen deutlichen Erweiterung der Rechtsansprüche für Menschen mit Behinderung stellen die ICIDH, ICIDH-2 und ICF retrospektiv betrachtet wichtige Etappen dar.

6 Quellenangaben

Becker, Klaus-Peter und Jörn Greve, 1995. Die WHO-ICIDH – International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps. Diskussion zur Neuauflage der deutschen Fassung. In: Zeitschrift für Gesundheitswissenschaften. 3(4), S. 320–331. ISSN 0943-1853

Cloerkes, Günther, 2007. Soziologie der Behinderten. 3., neu bearb. und erw. Auflage. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. ISBN 978-3-8253-8334-3 [Rezension bei socialnet]

Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), [ohne Jahr]. ICF – Historie [online]. Köln: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte [Zugriff am: 11.11.2022]. Verfügbar unter: https://www.dimdi.de/dynamic/de/klassifikationen/icf/historie/

Hirschberg, Marianne, 2009. Behinderung im internationalen Diskurs: Die flexible Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation. Frankfurt/Main: Campus. ISBN 978-3-593-39027-7

Schuntermann, Michael F., 2001. ICIDH und Assessments. In: Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin [online]. 11(1), S. 28–36 [Zugriff am: 05.03.2023]. eISSN 1439-085X. Verfügbar unter: doi:10.1055/s-2001-11041

United Nations (UN), 2006. Convention on the Rights of Persons with Disabilities [online]. New York: United Nations [Zugriff am: 11.11.2022]. Verfügbar unter: http://www.un.org/disabilities/​documents/​convention/​convoptprot-e.pdf

World Health Organization (WHO), 1980. International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps [online]. Genf: World Health Organization [Zugriff am: 11.11.2022]. Verfügbar unter: https://apps.who.int/iris/bitstream/​handle/​10665/​41003/​9241541261_eng.pdf

World Health Organization (WHO), 1999. ICIDH-2: International Classification of Functioning and Disability: Beta-2 draft, Full Version. Genf: World Health Organization

World Health Organization (WHO), 2001. The International Classification of Functioning, Disability and Health [online]. Genf: World Health Organization [Zugriff am: 11.11.2022]. Verfügbar unter: http://www.who.int/classifications/icf/en/

Verfasst von
Dr. Jan Jochmaring
M.A.
Technische Universität Dortmund
Fakultät Rehabilitationswissenschaften
Fachgebiet Rehabilitationssoziologie
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Zitiervorschlag
Jochmaring, Jan, 2023. International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 10.03.2023 [Zugriff am: 28.03.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/7075

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