Jörissen, Luise
Manfred Berger
veröffentlicht am 07.02.2022
Luise Jörissen hat wesentlich zur Professionalisierung weiblich-sozialer (konfessionell gebundener) Berufsarbeit in Deutschland sowie in Südamerika beigetragen und damit auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Lebenslauf
- 3 Lebenswerk und Wirkungsgeschichte
- 4 Würdigung
- 5 Quellenangaben
- 6 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Immer noch gehört Luise Jörissen zu jenen Persönlichkeiten, die in der historischen Bildungs- und Biografieforschung bislang wenig Beachtung gefunden haben bzw. nicht adäquat gewürdigt wurden. Dabei war sie viele Jahrzehnte an führender Stelle innerhalb der deutschen und südamerikanischen (katholischen) Sozialarbeit tätig. Das besondere Interesse der tiefgläubigen und frauenbewegten Katholikin galt der professionellen Ausbildung für die soziale Frauenarbeit. Des Weiteren engagierte sie sich im Bereich der Jugendwohlfahrtspflege, der katholischen weiblichen Sozialarbeit (seinerzeit Wohlfahrtspflege genannt) allgemein. Ihr Wirken ist eng „mit dem Wiederaufbau der Jugend- und Gefährdetenfürsorge nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden“ (Krause-Lang 1998, S. 281). Als überzeugte Katholikin betrachtete sie ihren sozial-caritativen Einsatz in erster Linie als Seelsorge, als Fürsorge am Menschen.
2 Lebenslauf
2.1 Kindheit, Jugend, Studium
Louise (laut Geburtsurkunde mit ou) Helene Maria Hubertine war das älteste von vier Kindern des Geschäftsinhabers Franz Maria Hubert Apollinaris Jörissen (1868–1932) und dessen Ehefrau Constantina Helene Hubertine Maria Louise (genannt Ella), geb. Heucken (1876–1950). Das Ehepaar Jörissen unterhielt ein gastfreundliches Haus, zu dessen regelmäßigen sonntäglichen Gesprächsrunden Ärzte, Juristen, Politiker, Unternehmer und Theologen gehörten. Sowohl die katholische Frömmigkeit, als auch die weltoffene und tolerante Haltung der Eltern hatten sich auf die Erziehung der Kinder ausgewirkt, wie der Lebensweg der ältesten Tochter bezeugt:
„Die Selbstverständlichkeit, mit der sich Luise Jörissen später fremdartigen Kulturen und Menschen zu nähern vermochte, war sicherlich grundgelegt in einer typischen Charaktereigenschaft ihrer Familie, der Enge und Unbeweglichkeit wesensfremd waren […] Luise Jörissen hat später immer gern darauf hingewiesen, daß sie ein rheinisches Temperament besäße und ihr Frohsinn und Unternehmungsgeist in die Wiege gelegt worden seien“ (Reichel 1992, S. 230 ff.).
Da die Firma des Vaters in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet, übersiedelte die Familie 1908 nach Berlin. Hier übernahm das Familienoberhaupt eine Anstellung in einem großen Industrieunternehmen. Weil den Eltern in der protestantisch geprägten Millionenstadt eine katholische Schulbildung ihrer ältesten Tochter nicht gesichert erschien, schickten sie diese nach Aachen zurück, um dort die von den Ursulinen geleitete Studienanstalt St. Ursula zu absolvieren. Nach fünf Jahren erfolgte ein erneuter Umzug der Familie Jörissen, diesmal nach Köln. In der rheinischen Domstadt arbeitete der Vater als Syndikus und Organisator des Hausbesitzer-Vereins (Haus- und Gutsbesitzer Verein Köln). Die inzwischen Sechzehnjährige Luise kehrte in den Schoß der Familie zurück. Sie besuchte die „Kaiserin Augusta Schule“ und legte dort 1916 die Reifeprüfung ab. An letztgenannter Bildungsinstitution unterrichtete keine geringere als Helene Weber (1881–1962) – eine zu der Zeit bekannte katholische Frauenrechtlerin und Politikerin –, die ihre Schülerinnen für die ehrenamtliche Arbeit am Kölner Hauptbahnhof während des Ersten Weltkrieges ermunterte, insbesondere zur Betreuung von Truppen- und Lazarettzügen. „Ab sofort“ resümierte Luise Jörissen rückblickend, „wurde ich herangezogen, um jede zweite Nacht bei der Verpflegung durchreisender Gruppen im Kölner Hauptbahnhof zu helfen. Als der Aufmarsch nach einigen Wochen beendet war, wurde eine großzügige Fürsorge für Familien, besonders für kinderreiche von eigezogenen Soldaten, eingeleitet“ (Jörissen 1991, S. 19).
Nachfolgend immatrikulierte sich Luise Jörissen an der Universität Münster für die Fächer Mathematik und Naturwissenschaften, wechselte aber bereits nach dem ersten Semester an die „Ludwig-Maximilians-Universität“ in München. In der bayerischen Residenzstadt engagierte sie sich in der „Vereinigung der katholischen Studentinnen“ sowie in der Jugendsektion des „Katholischen Deutschen Frauenbundes“ (KDFB). Im dritten Semester begegnete die Studentin Ellen Ammann (1870–1932), Gründerin mehrerer sozial-caritativer Einrichtungen und Vorsitzende des KDFBs in Bayern, die auf einer Veranstaltung einen Vortrag über sozial-caritative Frauenarbeit hielt. Daraufhin wechselte Luise Jörissen ihre Studienrichtung und belegte Vorlesungen und Seminare in Philosophie, Sozialpolitik und Nationalökonomie, um gesellschaftliche und politische Zusammenhänge besser verstehen und verändern zu können. Im Dezember 1920 beendete sie ihr Studium mit der Promotion zum Dr. oec. über das Thema „Über die Säkularisation der altbayerischen Prälatenklöster. Ihre finanziellen Gründe und Ergebnisse“ (Jörissen 1920).
2.2 Geistlicher und beruflicher Lebensweg
Nach dem Studium nahm Luise Jörissen für knapp zwei Jahre eine gut dotierte Stellung in der Sozialabteilung eines größeren Münchener Industrieunternehmens an, und baute dort eine Betriebsfürsorge auf. Den Konzern verließ sie, weil ihr Großstadtseelsorger Carl Sonnenschein (1876–1929) ihr einen Studienaufenthalt in Rom ermöglichte. Ab 1923 arbeitete sie in der Jugend- und Gefährdetenfürsorge beim Diözesancaritasverband in Köln. Zwei Jahre später übernahm sie die stellvertretende Leitung der Münchener „Sozial-caritativen Frauenschule“, an welcher katholische Mädchen, Frauen und Ordensschwestern für alle Bereiche der Wohlfahrtspflege/​Sozialarbeit – berufliche wie ehrenamtliche – ausgebildet wurden. Sehr bald schloss sie sich der Lebens- und Glaubensgemeinschaft um Marianne Johannes (1900–1993) an, die sich an der Regel des Hl. Benedikt orientierte und die Angehörenden weiterhin ihre weltlichen Berufe ausübten. Im Jahre 1927 erteilte Kardinal Michael von Faulhaber (1869–1952), Erzbischof von München und Freising, die Erlaubnis zur Vita communis. Ein Jahr später legte Luise Jörissen im Kloster Ettal ihre Profess ab und nahm den Namen Schwester Lioba an und lebte fortan in ihren Münchener Zeiten zusammen mit 30 bis 35 weiteren Schwestern, von denen jede ihrem Beruf nachging, in einem gemeinsamen Haus. Zeitlebens schöpfte Luise Jörissen aus der Kommunität Venio „die Kraft, die sie für ihren Beruf brauchte. Auch die Jahre, die sie nicht in München verbrachte, blieb ein enger Kontakt bestehen“ (Sozialdienst katholischer Frauen 1989, o. S.).
Im Jahre 1929 folgte Luise Jörissen einem Ruf der „Union Catholique Internationale de Service Social“ (UCISS) nach Chile, um in Santiago de Chile eine Sozialschule zu errichten, die bis heute „in die dortige katholische Universität integriert […] ist“ (Sozialdienst katholischer Frauen 1989, o. S.). Sie setzte sich für die „Förderung der weiblichen Bildung“ ein, damit die durch „Recht und Sitte gegebene Abhängigkeit [der chilenischen Frau] vom Manne […] ein[…] moralisches Gegengewicht erhält“ (Jörissen 1932, S. 260). Nach vier Jahren kehrte sie nach Deutschland zurück und arbeitete für zwei Jahre im Diözesancaritasverband in Köln. Anschließend war sie maßgebend an den Gründungsvorbereitungen einer Sozialschule in Madrid beteiligt. Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs vereitelte jedoch im Juli 1936 die Durchführung des Projekts. Zu ihrer geistlichen Gemeinschaft zurückgekehrt, widmete sich Luise Jörissen psychologischen und pädagogischen Studien. 1937 wurde sie zum zweiten Mal nach Lateinamerika berufen, diesmal nach Lima. Dort zeichnete sie für den Auf- und Ausbau der „Escula de Servicio Social de la Peru“ verantwortlich. Nach fünf erfolg- und arbeitsreichen Jahren musste die hochgeachtete Schulleiterin das Land verlassen, da Peru 1942 die diplomatischen Beziehungen mit Nazi-Deutschland abbrach. In die Heimat zurückgekehrt, übernahm sie in Dortmund Aufgaben in der Zentrale des „Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder“ (KFV). Zudem unterrichte sie an der 1917 gegründeten vereinseigenen und sich seinerzeit „Westfälische Frauenschule für Volkspflege“ nennenden, unter Leitung von Anna Zillken (1898–1966), u.a. das Fach Volkspflege (das Wort Wohlfahrtspflege war verboten).
Nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur kehrte Luise Jörissen nach München zurück und übernahm die Leitung der bayerischen Landesstelle des KFVs, die sich in der Zeit der Nazi-Diktatur ihre Funktionsfähigkeit hatte erhalten können. Als sie 1971 in den verdienten Ruhestand trat, hatte der konfessionell gebundene Fürsorgeverein in Bayern 21 Ortsgruppen (heute Ortsvereine) und Kontaktstellen (z.B. in Amberg, Ingolstadt, Garmisch-Partenkirchen, Freising, Starnberg und Schweinfurt) ins Leben gerufen. Bis zu ihrem Tod fühlte sich Luise Jörissen mit „ihrem“ KFV, der 1968 in „Sozialdienst katholischer Frauen“ umbenannt wurde und sich seit 2010 „Sozialdienst katholischer Frauen Landesverband Bayern e.V.“ nennt, verbunden (Berger 1998, S. 424 ff.; Berger 2003, S. Sp. 710 ff.).
Luise Jörissen war Mitglied verschiedener Fachausschüsse des „Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge“, dessen Hauptausschuss sie von 1953 bis 1979 angehörte. Des Weiteren war sie 1947 am Wiederaufbau des 1916 in Leben gerufenen „Vereins katholischer deutscher Sozialbeamtinnen“ zum „Berufsverband Katholischer Fürsorgerinnen“ beteiligt (heute „Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V.“). 1949 wurde sie zur ersten Landesvorsitzenden für Bayern gewählt. Von 1948 bis 1956 gehörte sie dem Zentralvorstand des „Katholischen Deutschen Frauenbundes“ an und hatte den Vorsitz der „Sozial-ethischen Kommission“ innerhalb des Landesverbandes Bayern inne. Aktiv arbeite sie in Arbeitsgemeinschaften der Katholikentage der Jahre 1948 (Mainz), 1950 (Passau), 1958 (Berlin) und 1962 (Hannover) mit.
3 Lebenswerk und Wirkungsgeschichte
3.1 In der Zeit vor 1945
3.1.1 Ihr Wirken in Köln und München
Als Luise Jörissen 1923 für knappe zwei Jahre beim Diözesancaritasverband in Köln arbeitete, war eine ihrer Aufgaben die Reorganisation der dortigen katholischen Bahnhofsmission, die zu den größten seit 1898 arbeitenden Stationen im Deutschen Reich gehörte. Angesichts der stark gestiegenen Zahlen jugendlicher Vagabundierer, die sich rund um den Kölner Hauptbahnhof herumtrieben und Opfer von „Jungmännerfängern“ wurden, bemühte sie sich um den Aufbau einer Fürsorge speziell für männliche Jugendliche, um diesen in ihrer „geistig-sittlichen Not und Gefahr“ beizustehen. Diesbezüglich arbeitete sie eng mit dem am 11. September 1912 in Essen gegründeten „Katholischen Männerfürsorgeverein“ (heute „Sozialdienst Katholischer Männer“) zusammen. Sie unterstützte den Auf- und Ausbau von Obdachlosenasylen, deren Aufgabe war (und noch immer ist), Auffangstation für in Not geratene und gefährdete Menschen zu sein. Ein weiteres Augenmerk der Bahnhofmission galt den ankommenden jungen unbedarften Mädchen, um diese vor „Mädchenhändlern“ zu bewahren und sie bei der Stellensuche zu unterstützen (Nikles 1994, S. 135 ff.).
In ihrer sich anschließenden vierjährigen Zeit als Leiterin der Münchener „Sozialen und caritativen Frauenschule“ legte Luise Jörissen, der Tradition der Bildungsstätte folgend, besonderen Wert auf die Ausbildung der Schülerinnen für „rein fürsorgerisch-caritative“ Organisationen: „Jugendfürsorgeverbände, Fürsorgevereine für Mädchen, Frauen und Kinder, Caritasverband; daneben solche, die mehr kulturell arbeiten: die Hauptstelle katholischer sozialer Vereine, der beispielsweise die Jugendvereine, Handlungsgehilfinnenvereine usw. angegliedert sind, endlich den Katholischen Frauenbund mit seinen Kreissekretariaten, Jugendsekretariat usw.“ (Jörissen 1926a, S. 18). Ein Novum war seinerzeit, dass die neue Schulleiterin die Fürsorgerinnen-/​Sozialbeamtinnenausbildung (a.a.O., S. 6 ff.) „durch die Betonung der pastoralen Komponente“ (Krause-Lang 1998, S. 281) erweiterte. Mit Einverständnis des Bischöflichen Ordinariats schloss sie die bereits seit langem durchgeführten laienkatechetischen Kurse des KDFB mit der Frauenschule zusammen. Damit schuf sie einen Beruf, der später als Katechetin (Religionspädagog*in) in eine hauptamtliche Tätigkeit im kirchlichen Bereich mündete. Das Hauptaufgabengebiet der Seelsorgshelferin bestand neben der „Vorbereitung zum Sakramentenempfang“ u.a. darin „dem Seelsorger kostbare Zeit zu sparen […] Darunter ist alles zu verstehen, was Aneiferung lauer Christen, Rückgewinnung abseitsstehender, Aufklärung verhetzter Glaubensbrüder bedeutet […] Von Hemmung der Sektenpropaganda, Sorge um ungetaufte Kinder und einer Fülle anderer Gelegenheiten seelischer Hilfe, die der Priester aus mannigfachen Gründen zunächst nicht ausüben könnte, ist dabei noch gar nicht gesprochen“ (Jörissen 1926b, S. 90). Die Seminaristinnen konnten gleichzeitig die Ausbildung zur Fürsorgerin/​Sozialbeamtin sowie Seelsorgshelferin absolvieren (Holtmann 2017, S. 207). Diese neue ehrenamtliche Tätigkeit beinhaltete u.a., dass die Praktika je zur Hälfte im fürsorgerischen-caritativen Dienst und in der Seelsorgehilfe abgeleistet wurden. Zusätzlich initiierte die Schulleiterin Abendkurse, in denen berufstätige und verheiratete Frauen für ehrenamtliche katechetische und seelsorgerische Hilfsarbeit geschult wurden. Luise Jörissen schrieb über den ersten geplanten Schulungskurs für Laienhelferinnen in der Seelsorge:
„Er umfasst die Hauptfächer Religion, Seelsorgshilfe, kirchliches Recht, besonders Eherecht, Laienkatechese, Latein. Der Unterricht wird auf einer besonders starken berufsethischen Einstellung aufgebaut, die für alle sozialcaritativen Berufe, vor allem aber für eine in so enger Anlehnung an kirchliche Stellen auszuübende Tätigkeit die unerläßliche Grundlage darstellt. Die Stunden werden von bedeutenden Fachleuten erteilt. Sie finden in den Abendstunden statt, um einem größeren Kreis von Frauen die Teilnahme zu ermöglichen. Dabei ist nicht nur an solche gedacht, die eine vollamtliche Verwendung als Seelsorgshelferin anstreben, sondern auch an die vielen, die in anderen Berufen stehen und darin bleiben müssen, die sich aber sowohl nach innerer Fortbildung, wie auch gerade nach einer nebenberuflichen Hilfstätigkeit im Dienste der Kirche sehnen, um der Seele ein Eigengewicht gegen die Veräußerlichung weltlich-mechanischer Alltagsarbeit zu geben“ (Jörissen 1926b, S. 91).
3.1.2 Ihr Wirken in Südamerika
Als Luise Jörissen 1929 in Santiago de Chile die Verantwortung für die dortige Sozialschule übernommen hatte, erarbeitete sie sogleich einen Lehrplan, der sich an den sozialen Problemen des Landes orientierte (Jörissen 1932, S. 260 ff.). Der von der Schulleiterin erstellte Lehrplan umfasste sozialhygienische, medizinische, juristische und gesellschaftsrelevante Themen. Besonderer Wert wurde auf praktische Erfahrungen der auszubildenden jungen Mädchen und Frauen, die überwiegend der gehobenen Schicht angehörten, gelegt. Die Schülerinnen lernten im Umgang mit staatlichen und kirchlichen Behörden, Kindertageseinrichtungen (Kindergarten, Hort), Kranken- und Armenhäusern etc. die sozialen Zusammenhänge und Möglichkeiten ihres Landes kennen. Sie erfuhren in der Theorie und erlebten in der Praxis, wie „sehr Analphabetentum, soziale Entwurzelung, Trunksucht und körperliche Gebrechen die Menschen in eine hoffnungslose Lage versetzten, aus der sie sich mit eigener Kraft nicht befreien konnten“ (Reichel 1992, S. 243). In einem Beitrag unter der Überschrift „Mädchenhandel“, welcher 1931 in der Zeitschrift „Mädchenschutz“ erschien, thematisierte die Schulleiterin die katastrophalen Verhältnisse eines blühenden Mädchenhandels von jungen europäischen Auswanderinnen in den südlichen Teil des amerikanischen Doppelkontinents. Dabei beklagte sie zum einen den fehlenden Rechtsschutz für die Einwanderinnen, wozu auch viele Deutsche gehörten, dadurch, dass die Auflagen des Völkerbundes für die einzelnen Landesregierungen lediglich auf dem Papier stünden, zum anderen, dass es an einer Frauenbewegung fehle. Mit dem Transfer der Erfahrungen von Frauen aus Europa müsse in Chile Pionierarbeit geleistet werden (Jörissen 1931, S. 55 ff.).
Anfang des Jahres 1937 übersiedelte Luise Jörissen nach Peru. Die christlich wie sozial und pädagogisch interessierte Gattin des Staatspräsidenten Óscar Raimundo Benavides (1876–1945), Francisca Benavides (1886–1973), hatte sie darum gebeten, in Lima eine katholische soziale Frauenschule aufzubauen.
Wie in Chile gestalteten sich die Anfangsjahre in der peruanischen Hauptstadt äußerst problematisch. Rassenprobleme und Standesunterschiede verhinderten einen reibungslosen Aufbau dieser noch heute bestehenden Ausbildungsstätte. Als beispielsweise die Schulleiterin darauf bestand, „auch Studierwillige aus der Provinz an der Schule aufzunehmen, wandte man ein, daß sie ‚Indias‘ seien und Quechua sprächen. Man hielt es für unmöglich, sie mit Mädchen aus Lima zu unterrichten. Luise Jörissen konnte diese Einengung ihrer Schule auf bestimmte Kreise nicht hinnehmen. Sie setzte ihre Vorstellungen durch und stellte eine Lehrkraft für Quechua ein, damit die jungen, spanisch sprechenden Damen diese Sprache der Indios erlernten“ (Reichel 1992, S. 245). Besonders wichtig war ihr, das Bewusstsein der Schülerinnen, die überwiegend aus den angesehensten Familien Limas kamen, für eine ganz persönliche Verantwortung der bestehenden illoyalen Verhältnisse zu schärfen, um menschliches Leid und Elend zu beseitigen, doch mindestens mildern zu helfen. Die Schulleiterin baute ein Netzwerk Sozialer Arbeit auf, indem sie die unterschiedlichsten Institutionen zur Zusammenarbeit mit ihrer Ausbildungsstätte heranzog: Kindergärten und -horte, Kranken-, Armen- und Waisenhäuser, ebenso Industrieunternehmen, Zucker- wie Baumwollfarmen u.a.m. Die Vorstellung einer Kooperation im sozialen Bereich, eine Verantwortung für das gesellschaftliche Wohl in seiner Gesamtheit zu tragen, war den Peruanerinnen und Peruanern unbekannt. Für sie galt Eigennutz vor Gemeinnutz. Vor allem die Armen waren „sich selbst überlassen. Bei der Pflege und Erziehung der Kinder, Unterbringung der Kranken, Klärung der manchmal verworrenen Familienverhältnisse (die Ehen besaßen häufig keinerlei Rechtsstatus, weder kirchlich noch staatlich), Verbesserung der Wohnverhältnisse und Gesundheitsfürsorge mußte [ihnen] umgehende Hilfe zu teil werden“ (a.a.O., S. 246). Geradezu sensationell war es, als die ersten ausgebildeten Fürsorgerinnen die Frauenschule verließen und professionelle Hilfe in den verschiedensten Feldern der Wohlfahrtspflege leisteten, sich um streunende Kinder und Jugendliche, kranke, alte obdachlose und drogenabhängige Menschen kümmerten, sich für die Verbesserung der Wohnverhältnisse und der Hygiene einsetzten, Familien betreuten, die sich nicht um die Pflege, Bildung und Erziehung ihrer Kinder sorgten u.v.a.m.
3.2 In der Zeit nach 1945
Die Wiederherstellung einer funktionierenden Struktur der bayerischen Landesstelle des KFVs musste schnell vonstattengehen, denn die Not, vor allem in den zerstörten Städten, war enorm groß. Über das Tätigkeitsgebiet des konfessionell gebundenen Fürsorgevereins konstatierte die Landesvorsitzende:
„Die Fürsorge, die er ausübt, hat sich aber je länger je mehr auf vorbeugende, heilende und nachgehende Betreuung sittlich und erzieherisch gefährdeter oder bereits geschädigter Kinder und Heranwachsender eingestellt. Daraus ergibt sich von selbst auch die Hilfe für Erwachsene, seien es die Mütter oder Verwandte der Schützlinge oder alleinstehende Frauen, die mit dem Leben nicht zurechtkommen. Ziel [des KFVs] ist, katholische Frauen und selbstverständlich auch Männer für die persönliche fürsorgerische Betreuung katholischer Kinder und Jugendlicher zu gewinnen. Seine tätigen Mitglieder setzen sich aus freier Initiative ein, um eine konkrete Gefährdung der Jugend rechtzeitig zu erkennen und möglichst durch unmittelbare Fühlungnahme aufzufangen, ebenso aber auch, um für gestrauchelte oder abgeglittene Menschen einen Rückweg zu finden“ (Jörissen 1954, S. 676 f.).
Die Anfangszeit von Luise Jörissen als Landesleiterin des KFVs war geprägt von vielen Reisen durch ganz Bayern. Es mussten bestehende Ortsgruppen besucht bzw. neue aufgebaut, ehrenamtliche wie festangestellte Mitarbeiterinnen rekrutiert werden. Noch 1954 schrieb sie: „Es fehlen Arbeiter, Arbeiterinnen für eine Ernte, die manchmal nur deshalb nicht einzubringen ist, weil sie fehlen“ (Jörissen 1954, S. 679). Zudem waren die zerstörten Heime für gefährdete Mädchen und ihre unehelich geborenen Kinder aufzubauen. Es mussten Kontakte angebahnt werden mit Flüchtlingen und Vertriebenen, heimatlosen, unbeaufsichtigten und streunenden Kindern und Jugendlichen, mit jungen Mädchen im Umkreis von ausländischen Truppenansammlungen („Dirnenunwesen“), unverheirateten Müttern und deren Kindern (oft mit ausgedehnten Vaterschaftsprozessen verbunden), auswanderungswilligen Bräuten von amerikanischen Soldaten, Straffälligen, Geschlechtskranken, Obdachlosen, vergewaltigten Frauen/Mädchen u.a.m. Zudem mussten Verhandlungen mit den unterschiedlichsten Militärbehörden und Kommunen geführt werden, um notwendige Unterstützungen und finanzielle Mitteln zu erhalten. Die von Luise Jörissen angestellte Anna Gräfin von Brühl (1912–2000), Fürsorgerin beim KFV in Augsburg, stellte beispielsweise fest, dass in der weiblichen Jugendstrafanstalt Rothenfeld bei Starnberg und im Frauengefängnis Aichach viele der Inhaftierten in Garmisch-Partenkirchen verhaftet worden waren. Einige der jungen Frauen waren von schwarzen oder weißen amerikanischen Soldaten schwanger. Diese meist aus anderen Gegenden Deutschlands stammenden und oft von Truppenplatz zu Truppenplatz wechselnden jungen Frauen wurden von erholungssuchenden amerikanischen Soldaten, die in einem sog. „recreation-center“ logierten, mitgebracht und wenig später vor Ort in Stich gelassen. Nicht an die Soldaten, sondern an die mittellos Sitzengelassenen ergingen Strafanzeigen wegen Einmiet- oder Zechbetrugs. Viele der Mädchen machten sich auch der Gewerbeunzucht (Prostitution) straffbar. Gräfin Brühl und Luise Jörissen versuchten die unerträglichen Zustände anzugehen und geeignete Mitarbeiterinnen zu finden, um den verlassenen „Ami-Flittchen“, wie die jungen Frauen von den Einheimischen nicht nur hinter vorgehaltener Hand beschimpft wurden, zu helfen. Mit ihrem Vorhaben stießen die beiden Fürsorgerinnen nicht gerade auf Zustimmung im Kurort, denn man verdiente sehr gut an der Vermietung von Zimmern an die Besatzungssoldaten und ihre jungen Begleiterinnen (10–30 Mark pro Nacht). Die „hohe Zahl heimlicher Dirnen“ stellte, neben der amtsbekannten Prostitution, insbesondere mangels einer ärztlichen Überwachung, eine große „Infektionsquelle für venerische Krankheiten“ (Jörissen 1957, S. 2) dar. Um die heimlichen sowie amtsbekannten Prostituierten zu „retten“, sie sozusagen auf den „rechten Weg“ zu bringen, bedürfe es „vorbeugender Maßnahmen“, d.h. der „persönlichen Fürsorge“: „Erschwerend ist da der Umstand, daß die Mädchen z. Teil im Bereich der ausländischen Verwaltung leben. Mit dieser ist also auch Fühlung zu nehmen, um eine Verbindung zu den Mädchen herstellen zu können. Dort ist fast nur eine ganz persönliche Fürsorge möglich, in dem man die einzelnen Personen durch die Besuche kennen lernt und durch das Leben in der gleichen Umgebung Gelegenheit gewinnt, ihre Gefährdung, Not und Hilfsbedürftigkeit zu erfahren. Die Versuche umfassen die Einrichtung von Clubs oder clubartigen Veranstaltungen für Angestellte und Arbeiterinnen am Truppenplatz, Heime der Offenen Tür, einzelne gesellige oder bildende Zusammenkünfte oder Freizeiten, Beratungs- und Hilfsstellen und Sprechstunden für Anliegen aller Art, z.B. Sozialversicherung, die oft im Argen liegt, usw. […] Bei all den genannten Gelegenheiten sind viele der Mädchen und Frauen ansprechbar und zunächst bereit, Hilfe und Ratschläge anzunehmen und ihr Leben umzustellen […] Man muß versuchen, ihre tatsächlich bestehende Not aufzufangen, z.B. manches zu retten und zu ordnen, was sie zurücklassen mußten: menschliche Beziehungen, Wohnung, Eigentum“ (a.a.O., S. 10 f.). Die fürsorgerische und erzieherische Hilfe für diesen gefährdeten Menschenkreis sollte vorwiegend religiös orientiert sein, da die religiöse Verantwortung um die Erfahrung weiß, dass viele der Gewerbeunzucht nachgehenden Mädchen „tatsächlich zur Umkehr gebracht werden, die der Prostitution und ihren zersetzenden Folgen für Leib und Seele verfallen scheinen. Dies ermutigt zur Verwirklichung der sittlichen Pflicht, wegen der Würde als Mensch und Gott ebenbildliches Geschöpf auch jenen sorgend und helfend nachzugehen, für die gesunde gesellschaftliche Beziehungen unmöglich geworden zu sein scheinen – dies um so mehr, als nicht wenige dieser verirrten Frauen eine bemerkenswerte religiöse Anprechbarkeit besitzen“ (Jörissen 1964, S. 343).
4 Würdigung
Luise Jörissens berufliche Aktivitäten sind stets in Zusammenhang mit ihrem tiefen christlichen Glauben zu sehen und zu verstehen. Neben dem Auf- und Ausbau von Sozialen Frauenschulen in Südamerika ist ihr sozial-caritatives Wirken insbesondere mit der weiblichen Jugend- und Gefährdetenfürsorge (Prostitution) verbunden. Durch ihr Engagement in verschiedenen sozialen Organisationen, hatte sie die gesamte Soziale Arbeit in Deutschland mitgeprägt und setzte für die damalige Zeit wegweisende Impulse. Treffend konstatierte Monika Pankoke-Schenk, Luise Jörissens Nachfolgerin im „Sozialdienst katholischer Frauen“:
„Mit ihrer ganzen Kraft stand sie viele Jahrzehnte an leitender Stelle der deutschen und internationalen Sozialarbeit. Ihre Hauptsorge galt dabei der Jugendbildung, der Ausbildung von jungen Frauen für die Sozialarbeit und dem Bereich der Jugendhilfe“ (Sozialdienst katholischer Frauen 1989, o. S.).
Für ihre soziale Pionierarbeit erhielt Luise Jörissen hohe Auszeichnungen: 1926 und 1928 das Caritasabzeichen, 1939 den peruanischen Verdienstorden Cruz Roja Peruana und 1942 den peruanischen Ehrenorden Cruz Roja Peruana, 1962 das bundesrepublikanische Verdienstkreuz am Bande, 1967 den Päpstlichen Orden Pro Ecclesia et Pontifice, den ihr Kardinal Julius Döpfner (1913–1976) überreichte, 1967 den großen peruanischen Verdienstorden Al Mèrito, 1977 den Silbernen Brotteller, die höchste Auszeichnung des Deutschen Caritasverbandes und 1981 die Agnes-Neuhaus-Plakette, mit der der Sozialdienst katholischer Frauen langjährige und verdiente Mitarbeiterinnen ehrt (Berger 1997, S. 429).
5 Quellenangaben
Berger, Manfred, 1997. Erinnerung an Luise Jörissen zum 100. Geburtstag. In: Unsere Jugend. 48, S. 309. ISSN 0342-5258
Berger, Manfred, 1998. Luise Jörissen – eine bedeutende Frau der deutschen und internationalen Sozialarbeit. In: Deutscher Caritasverband, Hrsg. Caritas '98. Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes. Freiburg/Brsg.: Deutscher Caritasverband, S. 424–429. ISSN 0069-0570
Berger, Manfred, 2003. Jörissen Louise Helene Maria Hubertine. In: Traugott Bautz, Hrsg. Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. XXI. Nordhausen: Trautgott Bautz, Sp. 710–718. ISBN 978-3-88309-110-5
Holtmann, Gundula, 2017. Ellen Ammann – eine intellektuelle Biographie: ein Beitrag zur Geschichte der Sozialen Arbeit im Kontext der katholischen Frauenbewegung und des ‚Katholischen Deutschen Frauenbundes‘ zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Würzburg: Ergon. ISBN 978-3-95650-270-5
Jörissen, Luise, 1920. Über die Säkularisation der altbayerischen Prälatenklöster: Ihre finanziellen Gründe und Ergebnisse [Dissertation]. München: LMU München
Jörissen, Luise 1926a. Zum Beruf der Sozialbeamtin. In: Bayerisches Frauenland. 8, S. 6–7, S. 11–12, S. 18–19
Jörissen, Luise, 1926b. Verwendung der Frau in der Seelsorgehilfe. In: Bayerisches Frauenland. 8, S. 90–91
Jörissen, Luise, 1931. Mädchenhandel. In: Mädchenschutz. 9, S. 55–59
Jörissen, Luise, 1932. Die Tapferkeit der chilenischen Frau. In: Christliche Frau. 28, S. 260–264. ISSN 0009-5788
Jörissen, Luise, 1954. Begegnung mit gefährdeter Jugend. In: Katholische Frauenbildung. 55, S. 676–679. ISSN 0343-4613
Jörissen, Luise, 1957. Die Lage der Prostitution in Deutschland. Köln-Klettenberg: Volkswartbund
Jörissen, Luise, 1964. Hilfe für gefährdete Frauen. In: Ernst Bornemann und Gustav von Mann-Tiechler, Hrsg. Handbuch der Sozialerziehung in drei Bänden. Band 3: Praxis der Sozialerziehung bei gestörten Beziehungen. Freiburg: Herder, S. 339–345
Jörissen, Luise, 1991. Als Oberlehrerin in Köln. In: Elisabeth Prégardier und Anne Mohr, Hrsg. Ernte eines Lebens: Helene Weber (1881–1962). Essen: Plöger, S. 13–21. ISBN 978-3-924574-62-8
Krause-Lang, Martha, 1998. Jörissen, Luise. In: Hugo Maier, Hrsg. Who is who der Sozialen Arbeit. Freiburg/Br.: Lambertus, S. 280–281. ISBN 978-3-7841-1036-3
Nikles, Bruno W. 1994. Soziale Hilfe am Bahnhof: Zur Geschichte der Bahnhofsmission in Deutschland (1894–1960). Freiburg/Brsg.: Lambertus. ISBN 978-3-7841-0738-7
Reichel, Saskia, 1992. Luise Jörissen 1897–1987. In: Elisabeth Fischer-Holtz, Hrsg. Anruf und Antwort: Bedeutende Frauen aus dem Raum der Euregio Maas-Rhein: Lebensbilder in drei Bänden. Aachen: Einhard, S. 229–256. ISBN 978-3-920284-60-6
Sozialdienst katholischer Frauen, Hrsg., 1989. „Er führte mich hinaus in die Weite…“: Gedenkschrift für Dr. Luise Jörissen (1897–1987). München: Selbstverlag
6 Informationen im Internet
- Geschichte: Und so fing alles an … Sozialdienst katholischer Frauen Landesverband Bayern e.V.
- Luise Jörissen: Pionierin der deutschen und internationalen Sozialen Arbeit (1897–1987) Internetportal Rheinische Geschichte
Verfasst von
Manfred Berger
Mitbegründer (1993) und Leiter des „Ida-Seele-Archivs zur Erforschung der Geschichte des Kindergartens“
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Zitiervorschlag
Berger, Manfred,
2022.
Jörissen, Luise [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 07.02.2022 [Zugriff am: 11.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29145
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Joerissen-Luise
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