Kinder- und Jugendhospizarbeit
Peter Wirtz
veröffentlicht am 06.08.2024
Der Begriff „Kinder- und Jugendhospizarbeit“ bezeichnet im engeren Sinne die psychosoziale Unterstützung von jungen Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung sowie ihrer Familien. Im weiteren Sinne kann er auch Formen der palliativen Pflege einschließen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Inhaltliche Prinzipien
- 3 Geschichte
- 4 Arbeitsfelder
- 5 Pädiatrische Palliativversorgung
- 6 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Einrichtungen der Kinder- und Jugendhospizarbeit unterstützen junge Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung und ihre Familien. Als „lebensverkürzend“ gelten alle ärztlich diagnostizierten Erkrankungen, die nach dem aktuellen Stand der Medizin mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Versterben der erkrankten Person im Kindes- oder Jugendalter führen. Fast alle Erkrankungen verlaufen progredient und sind mit körperlichen und oft auch geistigen Beeinträchtigungen verbunden.
Die Möglichkeit einer psychosozialen Unterstützung beginnt mit dem Zeitpunkt der ärztlichen Diagnose. Dies kann bereits pränatal erfolgen und endet in der Regel mit Vollendung des 27. Lebensjahres, wobei viele Träger auch darüber hinaus die Unterstützung auf Wunsch der Betroffenen fortsetzen. Die Angebote der Unterstützung richten sich nicht nur an die jungen Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung selbst, sondern auch an Eltern, Geschwister und weitere Familienmitglieder. Auch über den Tod des jungen Menschen hinaus kann eine Begleitung der Familie erfolgen.
2 Inhaltliche Prinzipien
Der Idee der Kinder- und Jugendhospizarbeit liegen Überzeugungen zugrunde, die konstitutiv auch für die praktische Arbeit ihrer Träger sind.
2.1 Menschenwürde
Oberstes Prinzip aller Tätigkeit kinderhospizlich wirkender Einrichtungen ist die Sorge um die Bewahrung der Menschenwürde der oft noch minderjährigen Erkrankten. Menschenwürde drückt sich auch im Hinblick auf Minderjährige darin aus, so weit wie möglich über die Belange des eigenen Lebens entscheiden zu können und so wenig fremdbestimmt wie möglich zu leben. Dies gilt gerade hinsichtlich der Gestaltung des eigenen Lebens im Angesicht des bevorstehenden Sterbens sowie der mit der Erkrankung verbundenen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen.
2.2 Verständnis von Sterben und Tod
Sterben und Tod sind natürliche Phasen des menschlichen Lebens wie Kindheit oder Jugendalter. Sie stellen keine Ausnahmesituation dar und betreffen jeden Menschen gleichermaßen. Jedem Menschen steht es zu, ein eigenes Verständnis von Sterben und Tod – einschließlich der Erwartungen einer postthanatalen Existenz, also einem Sein nach dem Tod – zu entwickeln. Allen subjektiven weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen begegnet die Kinder- und Jugendhospizarbeit neutral und respektvoll und beschränkt sich in ihrer Fachlichkeit auf ein realistisches und an den Gegebenheiten der Diesseitigkeit orientiertes Todesverständnis.
2.3 Selbsthilfe
Die Angebote der Kinder- und Jugendhospizarbeit zielen darauf, die Selbsthilfekompetenz der betroffenen jungen Menschen und ihrer Familien zu unterstützen. Sie sind als Formen der Begleitung, nicht der Betreuung zu betrachten. Selbsthilfe wird als Ausdruck eines selbstbestimmten Lebens verstanden, das erst mit dem Tod endet. Die praktischen Angebote der Kinder- und Jugendhospizarbeit richten sich nach den durch die Betroffenen bekundeten Bedürfnisse und verbieten jede wie auch immer gut gemeinte äußere Zuschreibung.
2.4 Familie
Für die meisten jungen Menschen ist die Familie der primäre Lebensraum. Sie bietet dem erkrankten jungen Menschen den Schutz und die Unterstützung, derer er bedarf, um würdevoll leben zu können. Eltern gelten in der Kinder- und Jugendhospizarbeit als wichtigste „Fachleute“ für die Belange des eigenen Kindes. Dem Willen der Eltern kommt deshalb immer große Bedeutung zu.
2.5 Haltung
Ein entscheidender Ansatz aller Kinder- und Jugendhospizarbeit liegt in der zentralen Bedeutung der inneren Haltung aller Handelnden. In Hinblick auf Sterben, Tod und Trauer besitzt Fachlichkeit eine geringe Bedeutung, da die existenzielle Lebenssituation immer singulär ist und jede Form der Verallgemeinerung ausschließt. Entscheidend ist für ehren- oder hauptamtlich Tätige deshalb nicht das Erlernen von Techniken (z.B. der Gesprächsführung), sondern die Erarbeitung einer inneren Offenheit für das jeweilige Gegenüber, wie sie u.a. im Begriff der „Achtsamkeit“ ihren Ausdruck findet. Fachlichkeit zeigt sich hier gerade im Bewusstsein des eigenen Nichtwissens und der gleichzeitigen Anerkennung der Fachlichkeit der Betroffenen.
2.6 Wahrhaftigkeit
Kinder- und Jugendhospizarbeit ist dem Prinzip der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Die Bedeutung von Erkrankung, Sterben und Tod wird stets offen benannt. Auch der erkrankte junge Mensch hat – unter Berücksichtigung seiner entwicklungsgemäßen Möglichkeiten – ein Recht darauf, über seinen Gesundheitszustand informiert zu werden. Umgekehrt darf niemand Betroffenen die Wahrheit aufzwingen, wenn diese dies ablehnen.
2.7 Normalität
Für die betroffenen Familien ist es wichtig, ihr Leben so normal wie möglich zu gestalten. Hierzu gehören die schulische und gesellschaftliche Inklusion der erkrankten jungen Menschen ebenso wie die Anerkennung von Trauerphasen. Kinder- und Jugendhospizarbeit sieht Trauer als eine normale menschliche Reaktion in Verlustsituationen und wendet sich gegen jede Pathologisierung. Sie unterstützt die Familien dabei, so normal wie möglich zu leben.
2.8 Ehrenamtlichkeit
Die Begleitung der erkrankten jungen Menschen und ihrer Familien erfolgt in der Regel durch das Ehrenamt. Angesichts der existenziellen Situation wird die Begegnung von Mensch zu Mensch, nicht das Gegenüber einer „Amtsperson“, als angemessene Form der Begegnung verstanden. Ehrenamtlich tätige erhalten keine „Ausbildung“, sondern eine qualifizierte Befähigung, die vor allem der gemeinsamen Erarbeitung einer der Lebenssituation der Betroffenen angemessenen Haltung besteht.
3 Geschichte
Die Entwicklung der Kinder- und Jugendhospizarbeit beginnt in den frühen 1980er-Jahren in England.
- 1982
- Gründung des ersten Kinderhospizes „Helen House“ in Oxford
- 1990
- Beginn der Kinderhospizarbeit in Deutschland durch Gründung des „Kindeshospizvereins“ (heute „Deutscher Kinderhospizverein e.V.“) am 10. Februar in Olpe.
- 1998
- Gründung des ersten deutschen Kinderhospizes „Balthasar“ in Olpe
- 1999
- Eröffnung des ersten ambulanten Kinderhospizdienstes in Kirchheim/Teck
- 2002
- Gründung des „Bundesverband Kinderhospiz“ als erste Dachorganisation
- 2005
- Gründung der „Deutschen Kinderhospizakademie“ in Olpe
Erstes „Deutsches Kinderhospizforum“ (größte Fachtagung für Kinder- und Jugendhospizarbeit in Europa) - 2006
- Erste bundesweite Feier des „Tages der Kinderhospizarbeit“ am 10. Februar zur Erinnerung an die Gründung der Kinderhospizarbeit in Deutschland; seither jährliche Durchführung
- 2009
- Eröffnung des ersten Jugendhospizes in Olpe
- 2013
- Der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband e.V. legt im Rahmen der Qualitätssicherung zwölf „Grundsätze zur Kinder- und Jugendhospizarbeit in Deutschland“ fest.
Das Wort „lebensverkürzend“ wird in den Duden aufgenommen.
4 Arbeitsfelder
4.1 Stationäre Kinder- und Jugendhospizarbeit
Ein Kinderhospiz bietet betroffenen jungen Menschen und ihren Familien die Möglichkeit eines ein- bis mehrwöchigen Aufenthalts. Dieser dient in erster Linie dazu, Zeit zu finden, sich jenseits der Belastungen des Alltags mit den Fragen von Erkrankung, Sterben, Tod und Trauer auseinanderzusetzen. Das Kinderhospiz bietet dabei alltägliche Versorgung, fachlich versierte Pflege sowie die Möglichkeiten zu Dialog und Beratung.
4.2 Ambulante Kinder- und Jugendhospizarbeit
Ein ambulanter Kinder- und Jugendhospizdienst unterstützt den erkrankten jungen Menschen und seine Familie innerhalb ihres häuslichen Umfeldes. Er bietet Familien die Möglichkeit zur Vernetzung mit anderen Betroffenen, die Begleitung durch ehrenamtlich Tätige sowie fachliche Beratung durch hauptamtliches Personal.
4.3 Bildungsarbeit
Kinderhospizakademien sowie vereinzelt Selbsthilfegruppen bieten ein- oder mehrtätige, teils auch mehrwöchige Bildungsveranstaltungen für junge Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung, Eltern, Geschwister und weitere Menschen aus dem Lebensumfeld der betroffenen Familien, ehren- und hauptamtlich Mitarbeitende der Kinder- und Jugendhospizarbeit, pädagogische Fachkräfte oder Interessierte zu Themen der Kinder- und Jugendhospizarbeit an.
4.4 Öffentlichkeitsarbeit
Die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhospizarbeit informieren regelmäßig und gezielt die Öffentlichkeit sowohl durch Beiträge in den traditionellen Medien (Printmedien, Rundfunk, Fernsehen) als auch durch Präsenz in den sozialen Medien.
Zentrale Anliegen der Öffentlichkeitsarbeit sind
- die Darstellung der Lebensbedingungen betroffener Familien mit dem Ziel, Solidarität mit ihnen zu fördern,
- zur Enttabuisierung von Sterben, Tod und Trauer beizutragen und ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, in dem sich Betroffene angenommen fühlen,
- über die Arbeit der Träger zu berichten auch mit dem Ziel, ideelle und finanzielle Unterstützung zu gewinnen und Menschen für ein ehrenamtliches Engagement zu motivieren.
4.5 Beratung
Beratungsangebote der Kinder- und Jugendhospizarbeit richten sich vor allem an Betroffene mit dem Ziel, ihnen Informationen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation zu geben. Dies kann Hinweise auf Vernetzungmöglichkeiten mit anderen Betroffenen oder Möglichkeiten palliativer Versorgung ebenso umfassen wie Hinweise zur Erlangung finanzieller Zuschüsse.
5 Pädiatrische Palliativversorgung
Über die engere Form der auf Begleitung ausgelegten sozialen Angebote hinaus lassen sich im weiteren Sinne auch Formen der Palliativpflege und Palliativmedizin der Kinder- und Jugendhospizarbeit zuordnen. Beide können sowohl in ambulanter Form als Unterstützung der Familie im häuslichen Umfeld als auch in stationärer Form in Kinder- und Jugendhospizen oder Kliniken erfolgen. Auch sie sind, anders als die Palliativversorgung Erwachsener, vor allem auf längerfristige pflegerische und medizinische Lebensbegleitung angelegt und nicht nur auf die akute Sterbephase ausgerichtet.
6 Literaturhinweise
Getz, Marion, 2015. Leben dazwischen. Familien mit unheilbar kranken und schwerstbehinderten Kindern in unserer Gesellschaft. Ein Aufruf zu Handeln. Norderstedt: Books on Demand. ISBN 978-3-7347-9495-7
Globisch, Marcel und Thorsten Hillmann, Hrsg., 2022. Handbuch der Kinder- und Jugendhospizarbeit. Grundlagen und Praxis. Ambulant, Stationär, Bildung. Esslingen: der hospiz verlag. ISBN 978-3-946527-46-6
Jennessen, Sven, Astrid Bungenstock und Eileen Schwarzenberg, 2011. Kinderhospizarbeit: Konzepte, Erkenntnisse, Perspektiven. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. ISBN 978-3-17-027838-7
Weber, Kornelia und Peter Wirtz, 2019. Krankheit, Tod und Trauer in der Schule. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-63071-1
Wirtz, Peter, 2023. Haltung zeigen. In: Deutscher Kinderhospizverein e.V., Hrsg. Würde sichern, Haltung zeigen. Esslingen: der hospiz verlag, S. 74–87. ISBN 978-3-946527-50-3
Verfasst von
Peter Wirtz
M.A.
Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschicht. Von 1985 bis 2008 Lehrtätigkeit in der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung. Von 2008 bis 2021 Mitarbeit im Deutschen Kinderhospizverein, über 10 Jahre Leitung der Deutschen Kinderhospizakademie. Seit 2021 freiberufliche Tätigkeit als Autor und Fachreferent.
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