Kindliche Sexualität
Beate Martin
veröffentlicht am 27.01.2025
Kindliche Sexualität umfasst Ausdrucksformen, die aus der Perspektive Erwachsener als sexuell interpretiert werden können, jedoch in ihrer Bedeutung differenziert betrachtet werden müssen. Kinder erleben Lustempfinden als Körper- und Sinneserfahrung und nicht als sexuelles Begehren wie Erwachsene, obgleich sie lustvolle Gefühle kennen, die mit körperlicher An- und Entspannung verbunden sein können. Das, was Erwachsene als sexuell bezeichnen, hat etwas mit einem Wissens- und Erfahrungsvorsprung, Definitionsmacht und bewusst gesteuerten Handlungen zu tun.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Kindliche Sexualität im öffentlichen Fokus
- 3 Sexualwissenschaftliche Betrachtungsweisen
- 4 Enge und weite Definition von Sexualität
- 5 Erwachsenen- versus kindliche Sexualität
- 6 Sexuelle Bildung im Kindesalter
- 7 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Sexualität ist ein menschliches Bedürfnis. Sie äußert sich in dem Wunsch nach körperlich-seelischer Lust und Wohlbefinden sowie dessen Befriedigung. Sexualität ist auf kein bestimmtes Lebensalter begrenzt. Kinder sind von Geburt an bzw. sogar pränatal sexuelle Wesen, doch ihre Sexualität unterscheidet sich in zentralen Punkten von Erwachsenensexualität. Kindliche Sexualität hat mit Körperwahrnehmung, Körpererkundung und vielen multisinnlichen Erfahrungen zu tun. Das, was Erwachsene mit dem Begriff der Sexualität im Erleben oder in der Fantasie verbinden bzw. dazu assoziieren, unterscheidet sich grundlegend von kindlichem Erleben. In diesem Zusammenhang werden in der Literatur homologe und heterologe Modelle beschrieben.
Kinder kennen keine Trennung von Zärtlichkeit, Sinnlichkeit und Sexualität. Kindliche Sexualität zeigt sich in vielen Facetten, ist nicht zielgerichtet, nicht an Partnerschaft orientiert, ihre Lustsuche ist egozentrisch. Unabhängig vom Alter werden Erfahrungen gemacht, denen bewusst oder unbewusst eine Bedeutung beigemessen wird und die Einflüsse auf die Sexualentwicklung haben. Das Gleiche gilt für die gesammelten Erfahrungen im nicht sexuellen Bereich.
Kindliche Sexualität bzw. das, was allgemein mit allen Differenzierungsaspekten darunter verstanden wird, steht auch stets in einem Spannungsfeld zwischen Individuum, Institution und Gesellschaft. Auch werden die unterschiedlichen Aspekte aus der Perspektive des aktuellen Zeitgeschehens und u.U. neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen (wie den Forschungsergebnissen aus der Neurophysiologie) interpretiert.
Die Einschätzung einer Situation, in der Kinder essenzielle Körpererfahrungen allein, mit anderen Kindern oder Erwachsenen machen, hängt immer von der individuellen, situativen Betrachtungsweise und Einordnung der beobachtenden Person ab. Kinder sind, je jünger umso mehr, auf die Fürsorge und den Schutz der Erwachsenen angewiesen, sowohl bei der Versorgung, der Bedürfnisbefriedigung als auch bei Grenzüberschreitungen. Sexuelle Bildung muss sich dementsprechend nicht nur an Kinder, sondern auch an Eltern, Erziehungs- bzw. Bezugspersonen und pädagogische Fachkräfte richten. Sie ist gleichsam wie die Sexualentwicklung ein lebenslanger Prozess.
2 Kindliche Sexualität im öffentlichen Fokus
Das Thema kindliche Sexualität und die Frage danach, wie sexuell „kindliche Sexualität“ ist, wird im gesellschaftlichen und in sozial-sexualwissenschaftlichen Diskursen aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und führt immer wieder zu Kontroversen. Dass Kinder bereits sexuelle Wesen sind, wird nicht mehr grundsätzlich infrage gestellt. Uneinigkeit besteht aber nach wie vor darin, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, insbesondere für Erziehungs- und Bildungsprozesse.
Die Sichtweise auf kindliche, sexuell konnotierte Ausdrucksformen hat sich in den letzten Jahrzehnten stetig verändert, aber nicht automatisch weiterentwickelt, sondern es sind auch immer wieder Rückschritte zu beobachten. In den Lebensräumen von Kindern gibt es beispielsweise immer weniger Möglichkeiten, sich in erwachsenenfreien Zonen unbeobachtet zu bewegen bzw. sich selbst als auch den Körper zu entdecken. Schmidt (2012) schreibt dazu: „Die Kindersexualität ist heute – wie die Jugendsexualität (Schmidt 1993) – familiarisiert, in die Familie einbezogen, von der Familie eingerahmt. Das verändert das sexuelle Erleben… “ (Schmidt 2012, S. 65).
Alle Menschen benötigen, um sich weiterzuentwickeln, sowohl soziale Kontakte als auch Rückzugsmöglichkeiten. Insbesondere das Sexuelle benötigt den Schutz einer Intimsphäre. Persönlichkeitsentwicklung wird sowohl von biologischen, kulturellen, sozialen als auch individuellen, biografischen Erfahrungen beeinflusst. Ebenso wird das Thema im Zeitgeschehen bisweilen politisch benutzt, um bestimmte Institutionen oder sexuelle Bildung in ihrer Sinnhaftigkeit infrage zu stellen. Kindliche Sexualität steht stets im Spannungsfeld zwischen Individuum, Gesellschaft und Institutionen (wie Kitas, Schulen oder Familie).

Das Kind als Individuum hat Bedürfnisse und Wünsche, z.B. nach Zärtlichkeit, Körperkontakt oder des sich Wohlfühlens mit dem eigenen Körper und in Beziehung mit anderen Kindern oder Erwachsenen.
Die Gesellschaft gibt den Zeitgeist vor, setzt Regeln und Normen. Diese sind u.U. einem stetigen Wechsel unterworfen. Was im Sexuellen „normal und erlaubt“ ist, wird in der Regel durch die Mehrheitsgesellschaft definiert.
Die Institutionen haben den Auftrag, ein Kind möglichst körper- und sexualfreundlich zu begleiten und zu fördern, auch im Sinne eines Bildungsauftrags bei gleichzeitigem Schutzauftrag. Dieses geht häufig nicht ohne Widersprüche, Ambivalenzen und Verunsicherungen.
Alle drei Dimensionen haben Einfluss auf den Umgang mit kindlicher Sexualität sowie auf Handlungskompetenzen und Bildungsprozesse.
3 Sexualwissenschaftliche Betrachtungsweisen
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Sexualität von Kindern erstmalig zu einem Forschungsgegenstand. Auslöser waren u.a. die Theorien von Sigmund Freud, die den Begriff der „infantilen Sexualität“ geprägt haben. Unter „kindlicher Sexualität“ wird die sexuelle Entwicklung eines Menschen von der Geburt bis zum Erreichen der Pubertät bezeichnet. Hierbei muss in der Betrachtung berücksichtigt werden, dass es in der kindlichen Entwicklung gravierende Unterschiede in den verschiedenen Alters- und Entwicklungsstufen gibt, die teilweise individuellen sowie biologischen als auch gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen unterliegen.
3.1 Fokus Sexualentwicklung
In der klassischen Psychoanalyse spielt das Konzept der Sexualentwicklung eine wesentliche Rolle. Es geht davon aus, dass die psychische Entwicklung erheblich durch die Sexualität beeinflusst wird und umgekehrt.
Die Beschreibungen der Sexualentwicklung können durch Theoriebildung verstanden werden, die Anteile entwicklungspsychologischer, philosophischer, (sozial-)pädagogischer, anthropologischer und biologischer Aspekte beinhalten. Ein Blick in die deutsche sozialwissenschaftliche Forschung bestätigt, dass es nach wie vor wenig gesicherte Erkenntnisse und viele Leerstellen zum Thema „kindliche Sexualität“ gibt. Gleichsam unterrepräsentiert ist das Thema in der Erziehungswissenschaft sowie in Studien- und Ausbildungsgängen.
3.2 Das homologe und heterologe Modell
Bis in die heutige Zeit stehen zwei sich unterscheidende Konzepte zur kindlichen Sexualität gegenüber. Schmidt bezeichnet sie als das homologe (Moll) und das heterologe (Freud) Modell (Schmidt 2012, S. 62).
Das homologe Modell geht von strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Kinder- und Erwachsenensexualität aus. In diesen Konzepten werden die quantitativen Unterschiede hervorgehoben und die Gemeinsamkeiten betont. Kindliche Sexualität wird hier als Vorform späterer Erwachsenensexualität betrachtet.
Vor allem in der Psychoanalyse wird die heterologe Sicht favorisiert. Hier werden die strukturellen und qualitativen Unterschiede bei Erwachsenen und Kindern in den Blick genommen (Schmidt 2012, S. 62 ff.).
Während die homologe Sicht eher das Verhalten und die Ausdrucksformen kindlicher Sexualität betrachtet, versucht das heterologe Modell die inneren Prozesse und Bedeutungsmuster zwischen Kindern und Erwachsenen zu unterscheiden.
„Homologiker tendieren dazu, in sexuellen Reaktionen und Akten zu denken, nicht in Bedeutungen oder Beziehungen. Und indem sie die kindliche Sexualität der Erwachsenensexualität analogisieren, übersehen sie gelegentlich, dass gleichförmige Handlungen noch lange nicht dasselbe bedeuten, weil Kinder noch nicht die sexuellen Skripte und Bedeutungszuschreibungen der Erwachsenen haben. Das Manipulieren der Genitalien, selbst wenn es zu Erregung und Orgasmus führt, ist beim Kind immer etwas anderes als die Masturbation des Erwachsenen mit erotischen Phantasien, erotischen Szenen und Geschichten. Die heterologe Position hingegen kann man, Volkmar Sigusch paraphrasierend, so kennzeichnen: Das Kind begehrt, aber nicht wie der Erwachsene – und nicht den Erwachsenen“ (Schmidt 2012, S. 64).
Zusammenfassend kann man skizzieren, dass beide Modelle bereits (Klein-)Kindern alle sexuellen Phänomene z.B. sexuelle Neugierde, Erregung, genitale Stimulation oder körperliche Reaktionsweisen u.a. Atembeschleunigung wie bei Erwachsenen zuordnen (Schmidt 2012, S. 63), aber jeweils andere Theorien bilden und unterschiedliche Rückschlüsse daraus ziehen.
3.3 Microdots, Love-Maps und sexuelle Skripte
Andere Konzepte wie die des Psychoanalytikers Robert Stoller beschreiben ein Geflecht verdichteter, früher biografischer Erfahrungen, die wie ein Drehbuch sexuelles Verlangen, sexuelle Fantasien und sexuelles Verhalten organisieren und ihnen eine unbewusste Bedeutung verleihen und als Microdots bezeichnet werden (zitiert nach Schmidt 2012, S. 68). Ein damit verwandtes Konzept sind die „Love-Maps“ des Sexualforschers John Money und das Konzept der „sexuellen Skripte“ der Soziologen Gagnon und Simon (zitiert nach Schmidt 2012, S. 68).
Alle drei Konzepte gehen davon aus, dass Effekte aus der frühkindlichen sexuellen Sozialisation wie Wünsche, Sehnsüchte oder Ängste, die eine unbewusste Bedeutung erlangt haben, insbesondere in der Pubertät durch die Ausschüttung der Sexualhormone, mit sexuellen Affekten und Motiven ausgestattet werden und ihre sexuelle Gestalt annehmen. Während Microdots sich immer auf frühe unbewusste Erfahrungen beziehen, gehen die sexuellen Skripte und Love Maps davon aus, dass diese durch spätere Erfahrungen modifiziert und verändert werden können (Schmidt 2012, S. 68 ff.).
3.4 Erfahrungen im nicht-sexuellen Bereich haben Einfluss
Schmidt stellt darüber hinaus eine andere Verknüpfung zum Zusammenhang von psychosexueller Entwicklung und „des Sexuell Werdens“ auf.
„Sexualität ist, erstens, ein Bedürfnis, ein Verlangen, und in ihr schlägt sich die individuelle Geschichte eines Menschen mit Bedürfnissen und Wünschen nieder (auch mit oralen und analen Wünschen), seine gesamte Bedürfniserfahrung von früh an. Sexualität machen wir zweitens, mit dem Körper und den Sinnen, und in ihr spiegeln sich unsere Erfahrungen mit unserem Körper und unserer Sinnlichkeit wider, die wir von früh an machen. Drittens vollzieht sich Sexualität – real oder in der Fantasie – in Beziehungen zu anderen Menschen, und in ihr schlägt sich die individuelle Beziehungsgeschichte eines Menschen nieder, seine Erfahrungen mit Beziehungen von früh an. Und viertens machen wir Sexualität als Mann oder Frau, auch dann, wenn wir schwul oder lesbisch sind, und in ihr schlägt sich die individuelle Geschichte als Mädchen oder Junge, als Frau oder Mann nieder, die Erfahrungen eines Menschen mit seiner Männlichkeit oder Weiblichkeit“ (Schmidt 2012, S. 67).
Schmidt beschreibt somit vier biografisch bedeutende Erfahrungsbereiche, die in der frühen Kindheit und Sozialisation alltäglich und im nicht sexuellen Bereich verortet sind und die sowohl die Persönlichkeitsentwicklung als auch die sexuelle Entwicklung stark beeinflussen. Schmidt skizziert damit die biografischen Erfahrungen, die individuelle Wahrnehmung und die intrapsychische Verarbeitung zusammen mit den geäußerten Bedürfnissen und deren Befriedigung sowie die Erfahrungen mit Bezugspersonen, dem eigenen Körper und der eigenen Geschlechtlichkeit (ebd.).
4 Enge und weite Definition von Sexualität
Auch über den Begriff Sexualität bestehen unterschiedliche Definitionen. Während sich einige Autor:innen allein auf den Lustaspekt konzentrieren, benutzen andere einen erweiterten Sexualitätsbegriff. Uwe Sielert (2005, S. 49 f.) spricht z.B. von vier Sinnaspekten des Sexuellen: den Identitäts-, Lust-, Beziehungs- und Fruchtbarkeitsaspekt, denen sowohl bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen individuell, aber auch altersentsprechend eine andere Bedeutung zugeschrieben wird. Im Bereich der kindlichen Sexualität könnte man diese Sinnaspekte wie folgt umschreiben:
- Identitätsaspekt: Kinder sind geschlechtliche und sexuelle Wesen. Mit zunehmendem Alter entwickeln sie ihre eigene Persönlichkeit und fordern ihre Bedürfnisse ein. Sie bilden ihre Ich-Identität unter Einbeziehung von körperlichen, emotionalen und sozialen Erfahrungen.
- Lustaspekt: Kinder sind egozentrisch. Sie streben danach – zunächst unbewusst –, sich stets Wohlfühlgefühle zu verschaffen. Der Lustaspekt beschreibt auch eine Kraft und Zufriedenheit spendende Energie. In der psychosexuellen Entwicklung wird diese z.B. durch orale Befriedigung wie beim Daumenlutschen beschrieben.
- Beziehungsaspekt: Kinder benötigen verlässliche Beziehungen, die sie körperlich leben und spüren müssen – je jünger sie sind, desto mehr. Diese sind aber mit den Beziehungs- und Partnerschaftswünschen von Jugendlichen oder Erwachsenen nicht gleichzusetzen.
- Fruchtbarkeitsaspekt: Dieser Aspekt beschränkt sich nicht nur auf Zeugung und Schwangerschaft, sondern Sielert (2005) beschreibt ihn als Lebensenergie, die dementsprechend auch Kindern zugeordnet werden kann.
5 Erwachsenen- versus kindliche Sexualität
Sexualität ist ein menschliches Bedürfnis. Allerdings kann sich dieses Bedürfnis in seiner Gestaltungs- und Ausdrucksform sehr unterschiedlich darstellen. Es äußert sich u.a. in dem Wunsch nach Nähe, Zärtlichkeit, Lust, Erregung und körperlicher, emotionaler Befriedigung. Sexualität kann als eine Form von Lebensenergie (Sielert 2005, S. 41 f.) bezeichnet werden, die auf kein bestimmtes Lebensalter begrenzt ist.
Im Verlauf der psychosexuellen Entwicklung kommt Teilbereichen des Sexuellen unterschiedliche Bedeutung zu. In den ersten Lebensjahren steht der Wunsch nach körperlicher Nähe, Zärtlichkeit und Geborgenheit im Vordergrund. Die Welt wird vor allem körperlich erkundet und begriffen. Durch die vermehrte Ausschüttung der Sexualhormone in der Pubertät verändern sich sowohl die sexuellen Bedürfnisse als auch die damit verbundenen Ausdrucksformen. Es findet eine grundlegende Verschiebung von kindlichen Bedürfnissen statt, z.B. von der Erkundung des eigenen Körpers, der Neugier an anderen Körpern von Kindern im „Hier und Jetzt“ hin zu einer sich entwickelnden Erwachsenensexualität. Das Lustempfinden hat eine gänzlich andere kognitive Einbettung, bezieht sich nicht nur auf den Moment des Erlebens, sondern ist mit anderen Erfahrungen und Denkmustern verknüpft. Sexualität ist sicherlich nicht das Wichtigste im Leben eines Menschen, aber sie zählt zu den Kernbereichen der Persönlichkeit.
„Menschliche Sexualität hat einen biologischen Anteil, sie wird mitbestimmt durch den Sexualtrieb, dessen Hauptaspekte die Geschlechtskraft (Potenz) und das geschlechtliche Verlangen (Libido) sind. Männliche und weibliche Geschlechtshormone wirken auf die Sexualität ein, sexuelle Erregungen führen zu körperlichen Spannungsgefühlen […]“ (Kleinschmidt, Martin und Seibel 1994, S. 11; Hervorhebung durch B.M.).
Um kindliche Sexualität zu verstehen und gut begleiten zu können, ist ein Perspektivenwechsel notwendig. Erwachsenensexualität ist bewusst gesteuert und zielgerichtet. Erwachsene verfügen über das Wissen und die Erfahrung, dass sie sich auf sexuelle Interaktionen einlassen. Sie wählen ihre Sexualpartner:innen aus, sind in der Lage, Folgen zu bedenken, kennen Regeln und Grenzen, die im Umgang mit anderen erwartet werden, auch wenn diese nicht immer eingehalten werden. Menschliches Sexualverhalten ist im Erleben, Fühlen und Denken vielfältig und nicht vorherbestimmt. „Sexualität ist weder ausschließlich ‚natürlich‘ noch ausschließlich ‚genormt‘“ (Kleinschmidt, Martin und Seibel 1994, S. 11).
Welche sexuellen Aspekte individuell in den verschiedenen Lebensphasen von Bedeutung sind, wie Sexualität gelebt und erfahren wird, hängt von unterschiedlichen Bedürfnissen, Sehnsüchten und Wünschen ab. Avodah Offit (1979), eine Sexualtherapeutin und Psychoanalytikerin, beschreibt dieses mit ihrer Definition von Sexualität besonders treffend:
„Sexualität ist, was wir daraus machen: eine teure oder billige Ware, Mittel der Fortpflanzung, Abwehr der Einsamkeit, eine Kommunikationsform, […] ein Sport, Liebe, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse, das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, ein Ausdruck der Zuneigung (mütterlicher, väterlicher, brüderlicher oder schlicht menschlicher Verbundenheit), eine Art der Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, […] eine Art, menschliches Neuland zu erkunden, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Krankheit oder Gesundheit, oder einfach eine sinnliche Erfahrung“ (Offit 1979, S. 16).
Auch sie geht in ihrer Arbeit mit Klient:innen zu sexuellen Störungen davon aus, dass der Erwerb von Erfahrungen im nicht sexuellen Bereich (z.B. Urvertrauen und Körperkontakt) einen großen Einfluss auf das Sexualverhalten hat. Sie betont in ihren Ausführungen, dass sexuelles Empfinden und Verhalten einzigartig seien, vergleichbar mit einem Fingerabdruck. Sie beschreibt, dass Sexualität und Erotik mit dem Charakter eines Menschen verbunden sind sowie mit dem, was sich dieser im Laufe seiner Lebensgeschichte an Erfahrungen angeeignet hat. Das „Sexuelle“ hängt aber auch mit den Einstellungen zu sich selbst und anderen, den unbewussten und bewussten Überzeugungen und dem Glauben zusammen. So schließt sie sich im Kern, wenn auch aus einer anderen Perspektive, in ihren Ausführungen der Theorie von Gunter Schmidt an.
Je nachdem, welche Definition oder Aspekte von Sexualität zugrunde gelegt werden, finden sich etliche Parallelen zwischen kindlicher und Erwachsenensexualität. Kindliche Ausdrucksformen von Sexualität sind spontan, spielerisch, durch Neugier und Erkundungsinteresse geprägt und nicht auf zukünftige Handlungen orientiert. Je jünger die Kinder sind, desto mehr nehmen sie die Erfahrungen körperlich und mit allen Sinnen wahr (Martin 2003).
Im Kindesalter werden vor allem durchs Spielen mit sich und/oder anderen, sowohl mit Kindern als auch mit Erwachsenen, Handlungsmuster erworben. Aber auch alltägliche Erfahrungen insbesondere in Bezug auf Körper- und Sinnlichkeitserleben, Körperwahrnehmung, Zugang zu Wissenszuwachs sowie verlässliche Beziehungen prägen die Entwicklung. Äußere Einflussfaktoren sind Vorbilder bzw. Identifikationspersonen, Erfahrungen und Erlebnisse im nahen und weiteren Umfeld, Moral, Kultur, Medien sowie die erfahrene oder nicht erfahrene Sexualerziehung (Martin 2003).
Im Kindesalter findet im Laufe der psychosexuellen Entwicklung eine wesentliche Weichenstellung für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung statt, die auch Einfluss auf das spätere Sexual- und Beziehungsleben hat. Es werden die Grundlagen für die sexuelle Identität gebildet. Auch wenn viele Parallelen in der psychosexuellen Entwicklung bei Kindern im gleichen Alter zu beobachten sind, ist es wichtig zu bedenken, dass es keine Geradlinigkeit in der Entwicklung gibt und jede Ausdrucksform individuell und situativ einzuordnen ist. Sexualität im Sinne einer erweiterten Definition (s.o.) ist ein grundlegendes Bedürfnis und hat einen positiven Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit. In jeder Altersstufe sind neue Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Kinder stellen dann ganz unterschiedlich spezifische Fragen zu körper- und sexualitätsbezogenen Themen.
Auch hier trägt altersangemessene sexuelle Bildung zur Unterstützung bei. Kinder benötigen sowohl sachliche Informationen als auch eine Orientierung, wo diese einzuordnen sind, also auch die Unterschiedlichkeit zwischen Kindern und Erwachsenen im Erleben und ihren Handlungen. Kinder spielen Schwangerschaft und Geburt als Rollenspiel, Erwachsene werden schwanger und bekommen ein Kind unter der Geburt.
6 Sexuelle Bildung im Kindesalter
Sexuelle Bildung findet bewusst oder unbewusst in jedem Erziehungsverhältnis statt. Kinder wachsen in einer sexualisierten Alltags- und Medienwelt auf. Deshalb sollten Erwachsene frühzeitig bewusst entscheiden, welches Wissen sie ihren Kindern in welchem Alter vermitteln möchten.
Da bei Eltern, Bezugs- bzw. Betreuungspersonen eine große Unsicherheit besteht, was im Bereich der sexuellen Bildung notwendig oder angemessen ist, ist es empfehlenswert, sowohl thematische Elternabende als auch Fortbildungen für Mitarbeitende in Kinderbetreuungsinstitutionen anzubieten. Dies soll Erwachsene ermuntern, sexuelle Bildung als einen wesentlichen Teilbereich der Bildung zu begreifen und Kindern auch zu diesen Themen einen Zugang zu ermöglichen.
Zu bedenken ist dabei stets, dass nicht alle Kinder Fragen stellen und es deshalb notwendig sein kann, aktiv Angebote bereitzustellen. Andererseits sollten Kindern aber keine Themen übergestülpt werden. Ein gutes Hilfsmittel sind thematisch passende Bilderbücher. Sie ermöglichen einen Zugang, ohne dass sich die Kinder gedrängt fühlen und es kann den Erwachsenen helfen, Fragen kindgerecht beantworten zu können. Wenn Bücher – wie zu anderen Themen auch – zur Verfügung stehen, können sie selbst entscheiden, ob und wann sie sich für das Thema interessieren, sich das Buch anschauen oder vorlesen lassen. Bilderbücher sind im Gegensatz zu anderen Printmedien in der Regel pädagogisch durchdacht und enthalten eine Altersempfehlung.
Zur Förderung der physischen und psychischen Gesundheit von Kindern, dazu zählt eine altersentsprechende, sexual- bzw. körperfreundliche Begleitung, benötigen Institutionen eine Rahmung in Form von sexualpädagogischen Konzepten und Schutzkonzepten.
7 Quellenangaben
Kleinschmidt, Lothar, Beate Martin und Andreas Seibel, 1999. Lieben, Kuscheln, Schmusen – Hilfen im Umgang mit kindlicher Sexualität. 4. überarbeitete Auflage. Münster: Ökotopia. ISBN 978-3-925169-53-3
Martin, Beate, 2003. Grundlagentexte Ausdrucksformen kindlicher Sexualität (Kapitel 2) und Sexualerziehung im Kindergarten (Kapitel 3). In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Hrsg. Entdecken, schauen, fühlen: Das Handbuch für Erzieherinnen und Erzieher. Köln: BZgA. ISBN 978-3-933191-89-2
Offit, Avodah K, 1979. Das sexuelle Ich. Stuttgart: Klett-Cotta: ISBN 978-3-12-906211-1
Schmidt, Gunter, 2012. Kindersexualität. Konturen eines dunklen Kontinents. In: Ilka Quindeau und Micha Brumlik, Hrsg. Kindliche Sexualität. Weinheim: Beltz Juventa, S. 60–70. ISBN 978-3-7799-1552-2 [Rezension bei socialnet]
Sielert, Uwe, 2005. Einführung in die Sexualpädagogik. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-25372-9 [Rezension bei socialnet]
Verfasst von
Beate Martin
Dipl.-Pädagogin, Sexual- und Gesprächspsychotherapeutin (DGfS/GWG), Dozentin beim Institut für Sexualpädagogik (ISP), Beratung und Sexualpädagogik bei pro familia Münster (bis 31.12.2023), Autorin vielfältiger, sexualitätsbezogener Bücher und Fachzeitschriften
Mailformular
Es gibt 1 Lexikonartikel von Beate Martin.
Zitiervorschlag
Martin, Beate,
2025.
Kindliche Sexualität [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 27.01.2025 [Zugriff am: 13.02.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/28740
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Kindliche-Sexualitaet
Urheberrecht
Dieser Lexikonartikel ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion des Lexikons für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.