Kohärenz
Jan-Hendrik Ortloff
veröffentlicht am 14.04.2025
Kohärenz bezeichnet ein Gefühl, das sich aus den Komponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit ergibt. Als Kernelement der Salutogenese ermöglicht es den Umgang mit Risikofaktoren, Schutzfaktoren und die Bewältigung von Stressoren (Copingstrategie) durch den bewussten oder routinierten Einsatz von generalisierten Widerstandsressourcen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Begriffsbestimmung
- 3 Die Entwicklung eines Kohärenzgefühls
- 4 Kohärenz als zentrales Element im Genesungsprozess
- 5 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Der Begriff Kohärenz (Sense of coherence), der besonders von Aaron Antonovsky (1923–1994) geprägt wurde, beschreibt ein Gefühl, das ausdrückt, in welchem Ausmaß eine Person ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens an sich selbst hat (Antonovsky 1997). Das Kohärenzgefühl umfasst eine kognitive/​rationale Dimension (Verstehbarkeit), eine pragmatische, handlungsorientierte Dimension (Handhabbarkeit) sowie eine emotionale/​spirituelle Dimension (Sinnhaftigkeit). Menschen benötigen ein Kohärenzgefühl, um auch in krisenhaften Situationen bzw. Lebenslagen gesund bleiben oder werden zu können (Faltermaier 2017; Antonovsky 1997). Damit stellt Kohärenz ein zentrales Element verschiedener Konzepte der Gesundheits- und Sozialwissenschaften wie z.B. der Salutogenese, der Selbstwirksamkeit, dem Empowerment sowie psychologischen Erlebens-, Verhaltens- und Kommunikationskonzepten dar.
2 Begriffsbestimmung
Der Begriff Kohärenz wird in der Literatur vielfältig verwendet, steht in der Regel jedoch für einen Zusammenhang. Beispielsweise können Gedanken kohärent sein, indem sie in sich logisch, zusammenhängend sowie zielführend und somit für andere nachvollziehbar sind. Jedoch zielt Kohärenz nicht nur auf bewusste mentale Strukturen und deren kognitive Verarbeitung ab, sondern beinhaltet stets auch emotionale Komponenten, weshalb häufig von einem Kohärenzgefühl die Rede ist.
Nach Dorner (2021) bezeichnet das Kohärenzgefühl, in Anlehnung an Antonovskys Konzept, ein tiefes und langfristiges Vertrauen darüber, dass:
- die inneren und äußeren Umweltreize im Lebensverlauf strukturiert, vorhersagbar und verständlich sind (Verstehbarkeit)
- die verfügbaren Ressourcen ausreichen, um die an eine Person gestellten Anforderungen zu bewältigen (Handhabbarkeit)
- die Anforderungen als Herausforderungen wahrgenommen werden, für deren Bewältigung sich Anstrengung und Engagement lohnen (Sinnhaftigkeit).
Das Kohärenzgefühl ist ein zentrales Element von Bewältigungsstrategien (Copingstrategien), die wiederum den Umgang mit Stressoren bestimmen. Wenn einzelne Aspekte in Copingstrategien nebeneinandergestellt werden, ohne dass ein erkennbarer Zusammenhang zwischen ihnen besteht, können zwar klar definierte Ziele bestehen, jedoch fehlt eine überzeugende und zusammenhängende Logik, welche die Zielerreichung erst ermöglicht.
Beispielsweise können einer Person sowohl die benötigten formalen Aspekte (z.B. finanzielle Mittel, beteiligte Personen, zeitlicher Aufwand) als auch die persönlichen Aspekte (z.B. mentale Ausdauer, emotionale Belastbarkeit, interpersonelle Beziehungen) bekannt sein. Ziele wie die Bewältigung von Stressoren oder das Erreichen eines durchschnittlichen Status im Gesundheits-Krankheits-Kontinuum werden jedoch erst erreicht, wenn diese Aspekte in einen Zusammenhang zueinander gebracht werden.
Das Kohärenzgefühl stellt ein zentrales Element in verschiedenen Konzepten dar, da deren Bausteine universell übertragbar sind (Dorner 2021; Faltermaier 2023). Die Verstehbarkeit kann sich dabei auf das Wissen und die strukturierte Verarbeitung eigener Handlungen sowie das Verstehen und Interpretieren der Handlungen anderer beziehen. Die Handhabbarkeit beschreibt hingegen, in welchem Maße man mit Anforderungen und Belastungen umgehen kann, indem man auf vorhandene Ressourcen zurückgreift. Diese Ressourcen können sowohl die umfassen, die von der Person selbst kontrolliert werden, als auch solche, die durch unterstützende Personen bereitgestellt werden. Die Sinnhaftigkeit kann schließlich den Einsatz dieser Ressourcen mit den angestrebten Zielen verbinden.
Abbildung 1 veranschaulicht dazu, wie sich das Kohärenzgefühl aus den Dimensionen Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit zusammensetzt.

Neben dem Kohärenzgefühl nach Antonovsky wird der Begriff Kohärenz in der Psychologie in verschiedenen Kontexten verwendet und meint z.B. die Kausalität oder den sinnvollen Zusammenhang von Gedanken. Dementsprechend besteht aus psychologischer Sicht bei der Inkohärenz (formale Denkstörung/Zerfahrenheit) eine Desorganisation in der Sprache und die Äußerungen können bis hin zur Unverständlichkeit verzerrt ausfallen (American Psychiatric Association 2015). Diese verschiedenen Verständnisse von Kohärenz teilen den Grundgedanken der Stimmigkeit und des sinnvollen Zusammenhangs, unterscheiden sich jedoch in ihrem spezifischen Fokus.
3 Die Entwicklung eines Kohärenzgefühls
Das Kohärenzgefühl entwickelt sich bereits in der Kindheit aus Lebenserfahrungen, in denen Herausforderungen bzw. Reize, die als Stressoren wahrgenommen wurden, durch Copingstrategien bewältigt wurden. Laut Faltermaier (2023) belegen neuere Studien, dass sich das Kohärenzgefühl von Menschen auch in mittleren und späteren Lebensphasen weiterentwickeln bzw. stabilisieren kann. Damit ist das Kohärenzgefühl in allen Lebensphasen essenziell und kann neben sozialen Widrigkeiten (Sozialstatus, Sprachbarrieren, Diskriminierung und Benachteiligung etc.) auch physische und psychische Prozesse beeinflussen.
Bereits die Einschätzung dessen, was als Stressor oder Nicht-Stressor wahrgenommen wird, als auch die Einordnung von Situationen als bedrohlich, positiv oder neutral wird vom Kohärenzgefühl mitbestimmt. Zudem aktiviert das Kohärenzgefühl Widerstandsressourcen und Copingstrategien, die in der jeweiligen Situation als passend erscheinen (Rieger 2023). Menschen mit einem ausgeprägten Kohärenzgefühl sind daher u.a. in der Lage:
- intrinsische und extrinsische Schutzfaktoren und Risikofaktoren (Stressoren) zu erkennen
- notwendige formale und inhaltliche Ressourcen für die Bewältigung zu definieren
- eine aktive Grundhaltung einzunehmen (Selbstwirksamkeit)
- aus den generalisierten (verinnerlichten) Widerstandsressourcen die zielführendste auszuwählen
- Copingstrategien frühzeitig anzuwenden
- den Prozess des Copings zu reflektieren
- ihre Resilienz gegenüber bestimmten Stressoren einzuschätzen
Darüber hinaus können Menschen über ihre Lebensspanne hinweg aus ihren Erfahrungen lernen und durch reflektierte, iterative Prozesse ein Bewusstsein für ihre Copingstrategien entwickeln (Ernst, Franke und Franzkowiak 2022). Dies ist notwendig, da sich auch die Umweltfaktoren in denen sich ein Mensch befindet, stets verändern. Folglich kann die Bewältigung von schwerwiegenden Stressoren (multimorbide chronische Krankheitsbilder, Existenzunsicherheiten, persönliche Verluste etc.) auch in kritischen Lebensphasen gelingen, wenn das Kohärenzgefühl in vorhergegangenen Stresssituationen so gefördert und ausgebildet wurde, dass Copingstrategien bewusst angewendet und kombiniert werden können.
4 Kohärenz als zentrales Element im Genesungsprozess
Insbesondere in den Sozial- und Gesundheitswissenschaften findet sich das Konzept des Kohärenzgefühls in verschiedenen Modellen wieder. Das Kohärenzgefühl bildet u.a. ein zentrales Element im Salutogenese-Modell, welches erklärt, wie Menschen einen angestrebten Gesundheitszustand (wieder-) erlangen können. Walther (2021) verweist darauf, dass Personen ihre Position auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum der Salutogenese mehr in Richtung Gesundheit wahrnehmen, je stärker das Kohärenzgefühl ausgeprägt ist.
Das Ziel von Kohärenz ist es, Spannungen, die durch Stressoren entstehen zu bewältigen und somit die Gesundheit und das Wohlbefinden (well-being) zu sichern, indem langfristig die Resilienz gesteigert wird. Die mentale Flexibilität spielt eine wichtige Rolle, um Stressoren und Ressourcen ins Gleichgewicht zu bringen und das persönliche Funktionsniveau zu stabilisieren. Darüber hinaus kann eine mentale Flexibilität die Entwicklung von Resilienz und die Anpassung an herausfordernde Situationen wie chronische Erkrankungen unterstützen (Becker und Ortloff 2024).
Beispielsweise verfügen Menschen mit chronischen Erkrankungen über individuelle bio-psycho-soziale Kontextfaktoren und Copingstrategien, die es ihnen ermöglichen, flexibel und situationsgerecht mit unterschiedlichen Anforderungen umzugehen. Der persönliche Gesundheitszustand ergibt sich dabei aus:
- einem objektiven Krankheitsbefund
- den vorhandenen Ressourcen
- den Kontextfaktoren (umwelt- und personenbezogene Schutz- und Risikofaktoren)
- den Wechselwirkungen und Interdependenzen der Ressourcen und Kontextfaktoren
- der subjektiven Interpretation (Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit)
- der Anwendung geeigneter Copingstrategien
- der Reflexion der angewandten Copingstrategien
Menschen mit chronischen Erkrankungen können ein Kohärenzgefühl entwickeln, indem sie gesundheitsfördernde Maßnahmen basierend auf eigenem Wissen (Verstehbarkeit), individuellen Zielen (Sinnhaftigkeit) sowie einer aktiven Auseinandersetzung mit der Erkrankung und den Ressourcen umsetzen (Handhabbarkeit).
Verfügen Betroffene über ausreichende Hintergrundinformationen und Erfahrungswerte zu ihrer chronischen Erkrankung, können sie diese im Verlauf besser bewerten, adäquate Entscheidungen treffen (Empowerment) und diese anwenden (Becker und Ortloff 2024). Darauf aufbauend können sie eine aktive Grundhaltung einnehmen und z.B. zielführend mit Angehörigen, Fachkräften und anderen Akteur:innen kommunizieren (Selbstwirksamkeit), um z.B. aktuelle Gesundheitsinformationen zu erhalten oder sich notwendige Ressourcen zu beschaffen. Durch eine Reflexion dieses Prozesses können Erfahrungswerte im Umgang mit der Erkrankung und den vorhandenen Schutz- und Risikofaktoren entstehen. Handelt es sich dabei um einen reflektierten, iterativen Prozess, kann der im Verlauf routinierte Umgang mit der Erkrankung und den Schutz- und Risikofaktoren das Kohärenzgefühl und ferner die Resilienz stärken, wenn die chronische Erkrankung verstanden wurde, die Maßnahmen der Behandlung als sinnhaft und der Genesungsprozess als handhabbar betrachtet werden.
5 Quellenangaben
American Psychiatric Association, 2015. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-5. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-8017-2599-0
Antonovsky, Aaron, 1997. Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGVT-Verlag. ISBN 978-3-87159-136-5
Becker, Heike und Jan-Hendrik Ortloff, 2024. Salutogenese, Resilienz, Coping, In: Daniela Schmitz, Manfred Fiedler, Heike Becker, Simone Hatebur und Jan-Hendrik Ortloff, Hrsg. Chronic Care – Wissenschaft und Praxis. Berlin, Germany: Springer, S. 149–154. ISBN 978-3-662-68414-6
Dorner, Thomas E., 2021. Sozioökonomischer Status – Bedeutung und Implikationen für die Prävention und Gesundheitsförderung, In: Michael Tiemann und Melvin Mohokum, Hrsg. Prävention und Gesundheitsförderung [online]. Berlin: Springer, S. 185–198 [Zugriff am: 02.04.2025]. PDF e-Book. ISBN 978-3-662-62426-5. doi:10.1007/978-3-662-62426-5_24
Ernst, Gundula, Alexa Franke und Peter Franzkowiak, 2022. Stress und Stressbewältigung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Hrsg. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden [online]. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 07.01.2022 [Zugriff am: 22.03.2025]. doi:10.17623/BZGA:Q4-i118-2.0
Faltermaier, Toni, 2017. Gesundheitspsychologie. Grundriss der Psychologie, Band 21. 2., überarb. und erw. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-026149-5 [Rezension bei socialnet]
Faltermaier, Toni, 2023. Gesundheitspsychologie. Grundriss der Psychologie, Band 21. 3., aktualisierte Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-041182-1 [Rezension bei socialnet]
Rieger, Hans Martin, 2023. Gesundheit als Wandlungsfähigkeit Viktor von Weizsäckers Beitrag zu einer kritischen Medizintheorie [online]. Berlin: Srpinger, S. 67–84 [Zugriff am: 02.04.2025]. PDF e-Book. ISBN 978-3-662-67122-1. doi:10.1007/978-3-662-67122-1
Walther, Kerstin, 2021. Körper und Gesundheit in gesundheitswissenschaftlicher Perspektive, In: Michael Wendler, Stefan Schache und Klaus Fischer, Hrsg. Multidisziplinäre Perspektiven auf Körper und Gesundheit [online]. Wiesbaden: Springer VS, S. 47–68 [Zugriff am: 02.04.2025]. PDF e-Book. ISBN 978-3-658-32999-0. doi:10.1007/978-3-658-32999-0
Verfasst von
Jan-Hendrik Ortloff
Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Innovative und digitale Lehr- und Lernformen in der multiprofessionellen Gesundheitsversorgung, Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Department für Humanmedizin
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