Lebenslaufforschung
Prof. Dr. Christin Schörmann
veröffentlicht am 26.09.2024
Die Lebenslaufforschung widmet sich einer objektivierenden Außenperspektive auf die soziale Struktur des Lebenslaufs. Sie untersucht das Eintreten relevanter Ereignisse auf der biografischen Zeitachse.
Überblick
- 1 Konzepte und Begriffe der Lebenslaufforschung
- 2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Lebenslauf- und der Biografieforschung
- 3 Quellenangaben
1 Konzepte und Begriffe der Lebenslaufforschung
In der Lebenslaufforschung (auch Lebensverlaufsforschung) sind insbesondere Konzepte bedeutsam, die sich auf die zeitliche Strukturierung des Lebens beziehen. Der Lebenslauf ist die chronologische Auflistung der Abfolge der wichtigsten Ereignisse oder Übergänge im Leben einer Person in verschiedenen Lebensbereichen von der Geburt bis zum Tod sowie der damit verbundenen Daten.
Ein weiteres relevantes Konzept im Kontext des Lebenslaufs ist die Lebensphase, die das Leben in Abschnitte mit unterschiedlicher Länge aufteilt, mit denen spezifische Normen, Anforderungen und Erwartungen verbunden sind (Backes 2014). Das mittlere Erwachsenenalter wird in aller Regel als Lebensaltersphase der beruflichen Etablierung angesehen und ist daher mit entsprechenden Erwartungen verknüpft.
Lebensereignis meint einen veränderten sozialen Zustand einer Person, vor allem Veränderungen der sozialen Position, beispielsweise der Beginn oder das Ende einer Ausbildung sowie Heirat oder Ehescheidung.
Der Begriff Übergang bezeichnet soziale Zustandswechsel einer Person. Beispiele für Statuswechsel sind die Übergänge von der Kita in die Grundschule, arbeits- bzw. berufsbezogene Übergänge, familienbezogene Übergänge (Partnerschaft, Trennung, Elternschaft etc.) sowie milieu- und mobilitätsbezogene Übergänge.
2 Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Lebenslauf- und der Biografieforschung
Lebenslaufforschung und Biografieforschung teilen durch die Ausrichtung auf das Leben des Menschen mit seinen Ereignissen, Brüchen und Veränderungen einen gemeinsamen Gegenstand. Die beiden Forschungsrichtungen haben jedoch unterschiedliche Terminologien: Erstere verwendet die synonymen Begriffe Lebenslauf, Lebensverlauf und Lebensablauf. Die Biografieforschung hingegen grenzt sich begrifflich ab, indem sie die sinnbezogenen Begriffe Lebensgeschichte und Biografie bevorzugt (Fischer 2015, S. 128).
Obwohl Lebenslauf- und Biografieforschung oft in einem Atemzug genannt werden (exemplarisch Schmeiser 2020; Kelle 2020), gibt es zwischen beiden Herangehensweisen bedeutsame Differenzen, die im Folgenden skizziert werden:
Die Biografieforschung fokussiert das Individuum als handelnde:n Gestalter:in, während die Lebenslauftheorien die gesellschaftlich strukturierte Abfolge von Übergängen und Verläufen im Leben von Einzelpersonen, Gruppen, Kohorten oder Gesellschaften diskutieren (Sackmann 2013, S. 65 f.). Die Lebensverlaufsforschung nimmt den Lebenslauf als eine soziokulturell und politisch konstituierte Institution in den Blick. Dabei nimmt sie in aller Regel eine strukturelle Perspektive auf den Lebenslauf ein (Wingens 2020, S. 35 ff.). Für die Lebenslaufforschung sind die Chronologie des Lebens sowie die Erklärung von Handeln und sozialer Lage anhand von Merkmalen des Lebenslaufs interessant (Wagner 2022, S. 554). Betrachtet werden sozial typisierte Statusübergänge und wie Menschen diese bearbeiten.
Für Selbstthematisierungen und deren Interpretation im Kontext biografieanalytischer Studien fungieren Kategorien wie Übergänge oder Statuswechsel jedoch lediglich als eine mögliche Ordnungsfunktion. Die Analyse von Biografien ermöglicht einen Zugriff auf die subjektiven, dem Individuum ganz eigenen Interpretationen des Gewordenseins, der Erleidenspotenziale sowie der spezifischen Bearbeitung autobiografischer Selbstthematisierung und Handlungsfähigkeit im Kontext sozialer, gesellschaftlicher und historischer Prozesse (Schütze 1981; 1983).
Der „strukturtheoretische Blick [der Lebenslaufforschung] richtet sich in erster Linie auf Auswirkungen gesellschaftlicher Institutionen auf den objektivierten Lebenslauf und weniger auf den subjektiven Eigensinn biografischer Ereignisse und Verläufe in der alltäglichen Lebensrealität des Individuums“ (Jansen 2011, S. 18).
Demgegenüber ist die Biografieforschung in besonderem Maße an der Subjektperspektive interessiert. Sie ist daher in aller Regel in qualitativen Traditionen der empirischen Sozialforschung angesiedelt, während die eher auf eine strukturelle Perspektive ausgerichtete Lebenslaufforschung überwiegend einer objektivierenden quantitativen Logik folgt, die eine Außensicht auf die Sozialstruktur einnimmt und relevante Ereignisse auf der biografischen Zeitachse erforscht (Wingens 2020, S. 35 ff.).
Ungeachtet dieser Unterschiede bildet das Leben mit seinen Erfahrungen, Brüchen und Wandlungen den gemeinsam geteilten Referenzpunkt von Lebenslauf- und Biografieforschung. Beispielsweise untersuchen Studien beider Forschungstraditionen Verläufe (engl. trajectories) (Reimer 2017, S. 140).
3 Quellenangaben
Backes, Gertrud M., 2014. Grundlagen der soziologischen Lebenslaufforschung. In: Hans-Werner Wahl und Andreas Kruse, Hrsg. Lebensläufe im Wandel: Entwicklung über die Lebensspanne aus Sicht verschiedener Disziplinen. Stuttgart: Kohlhammer, S. 39–50. ISBN 978-3-17-025376-6
Fischer, Wolfram, 2015. Lebenslauf/​Lebensverlauf/​Lebensablauf. In: Regina Rätz und Bettina Völter, Hrsg. Wörterbuch Rekonstruktive Soziale Arbeit. Opladen: Budrich. ISBN 978-3-86649-383-4 [Rezension bei socialnet]
Jansen, Irma, 2011. Biografie im Kontext sozialwissenschaftlicher Forschung und im Handlungsfeld pädagogischer Biografiearbeit. In: Christina Hölzle und Irma Jansen, Hrsg. Ressourcenorientierte Biografiearbeit [online]. Wiesbaden: Springer VS, S. 17–30 [Zugriff am: 11.09.2024]. https://www.doi.org/10.1007/978-3-531-92623-0_2
Kelle, Udo, 2020. Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der Biographie- und Lebenslaufforschung. In: BIOS-Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen. 32(1+2), S. 297–323. ISSN 0933-5315
Reimer, Daniela, 2017. Normalitätskonstruktionen in Biografien ehemaliger Pflegekinder. Weinheim: Beltz Juventa. ISBN 978-3-7799-4576-5
Sackmann, Reinhold, 2013. Lebenslaufanalyse und Biografieforschung: Eine Einführung. 2. Auflage. Springer VS. ISBN 978-3-531-19633-6
Schmeiser, Martin, 2020. Vom „statistischen Kleingemälde “zur „Lebensgeschichte“: Die Entwicklung von Biographie-und Lebensverlaufsforschung in der frühen deutschen Soziologie. In: BIOS-Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen. 32(1+2), S. 324–349. ISSN 0933-5315
Schütze, Fritz, 1981. Prozeßstrukturen des Lebensablaufs. In: Joachim Matthes, Hrsg. Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg: Verlag der Nürnberger Forschungsvereinigung, S. 67–156. ISBN 978-3-921453-20-9
Schütze, Fritz, 1983. Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis. 13(3), S. 283–293. ISSN 0342-9857
Wagner, Michael, 2022. Lebenslaufforschung. In: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., Hrsg. Fachlexikon der Sozialen Arbeit. 9. Auflage. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S. 554. ISBN 978-3-8487-7131-8 [Rezension bei socialnet]
Wingens, Matthias, 2020. Was ist „Lebenslaufforschung“? In: Matthias Wingens, Hrsg. Soziologische Lebenslaufforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 13–48. ISBN 978-3-658-28950-8
Verfasst von
Prof. Dr. Christin Schörmann
Professorin für Soziale Arbeit
IU Internationale Hochschule
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Es gibt 4 Lexikonartikel von Christin Schörmann.
Zitiervorschlag
Schörmann, Christin,
2024.
Lebenslaufforschung [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 26.09.2024 [Zugriff am: 13.10.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/4128
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