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Leerer Stuhl

Thomas Wittinger

veröffentlicht am 21.08.2024

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Englisch: empty chair

Fassung: Neufassung

Der Leere Stuhl repräsentiert im Psychodrama und in der Gestalttherapie viele Rollen, abwesende Personen oder auch Gefühle.

Überblick

  1. 1 Grundlagen
  2. 2 Verwendungsmöglichkeiten
    1. 2.1 Anstelle von Rollen und Gefühlen
    2. 2.2 Verwendung als Platzhalter
  3. 3 Quellenangaben

1 Grundlagen

Die Technik des Leeren Stuhl ist aus vielen Verfahren bekannt, besonders aus der Gestalttherapie. Sie geht ursprünglich auf das Psychodrama zurück. Dies zeigen schon die vielen Verwendungsmöglichkeiten, die Moreno beschreibt.

„Der ‚leere Stuhl‘ wird als ein Stuhl definiert, der einen Abwesenden darstellt. Dieser braucht nicht unbedingt durch einen Stuhl symbolisiert zu werden, doch sollte das betreffende Objekt in irgendeiner Beziehung zu der dargestellten Person stehen. Dem Großvater kann ein alter bequemer Sessel, dem Kind ein Kinderbettchen gedient haben, dem Pfarrer eine leere Bank in seiner Kirche. Er wendet sich an die Bank, so als ob sie von Zuhörern besetzt sei. Für einen heimkommenden Sohn können um einen Tisch herum mehrere Stühle gestellt werden Sie stellen die verschiedenen Familienmitglieder, Vater, Mutter, Schwestern und Bruder dar. Wichtig ist nur, daß der Stuhl, die Bank oder das Bettchen als von konkreten Personen besetzt erlebt werden, mit denen der Protagonist so lebhaft wie mit wirklich vorhandenen Menschen verkehrt. Das Erlebnis kann unter Umständen sogar stärker als in Wirklichkeit sein, da die wirkliche, der Spontaneität des Protagonisten entgegenwirkende Person nicht vorhanden ist. In Augenblicken starker Erregung übernimmt der Protagonist die Rolle des anderen, sitzt auf dem Stuhl, stellt den anderen dar, spricht und handelt für ihn. Dasselbe gilt für den Pfarrer, der die Rolle eines jeden Gläubigen übernimmt oder für die Mutter, welche die Rolle des Babys im Bettchen spielt, das geboren werden soll oder gestorben ist.

Die Methode des ‚leeren Stuhls‘ hat sich oft in politischen Kontroversen bewährt, so z.B. kürzlich in der Senatskampagne Keating-Kennedy. Es amüsierte mich, im Fernsehen und auf den Titelseiten der New Yorker Zeitungen mit Überschriften wie ‚Never Before a Debate Like This‘ Senator Keating vor einem leeren Stuhl gestikulieren zu sehen. Während der Debatte war der leere Stuhl vorhanden, doch als Robert Kennedy sich in den Sessel setzen wollte, gestattete Senator Keating es ihm nicht. Dieser Gebrauch des leeren Stuhls war untherapeutisch und lieblos. Es ist sehr wohl möglich, daß dieser Vorfall seine Nachwirkung am Wahltag hatte und Keatings Chancen verringerte. Jedenfalls war er von Millionen von Fernsehern beobachtet worden“ (Moreno 1996, S. 420 f.).

2 Verwendungsmöglichkeiten

Wie das Zitat beschreibt, kann ein leerer Stuhl sowohl in der Einzelarbeit als auch im Protagonistenspiel mit einer Gruppe als Stellvertreter verwendet werden. Im Psychodrama eröffnet sich naheliegend eine Vielzahl von Rollenspielmöglichkeiten, wobei auch andere psychodramatische Techniken wie Rollentausch eingesetzt werden können (Ameln und Kramer 2014, S. 31 f.).

2.1 Anstelle von Rollen und Gefühlen

Auf dem leeren Stuhl können verschiedene reale, aber abwesende Personen vorgestellt werden (z.B. Chef, Mutter, Bruder, Ehepartner:in). Der bzw. die Protagonist:in stellt sich nur gegenüber und beschreibt die Person oder spricht sie an. Diese Form empfiehlt sich, wenn eine reale Besetzung zu emotionsgeladen ist (wie das vorangegangene Interview gezeigt hat) (siehe Beispiel des Senators Keating oben).

Der bzw. die Protagonist:in kann sich hinter den Stuhl stellen und die Person doppeln.

Der bzw. die Protagonist:in kann sich im Rollentausch auf den Stuhl setzen und als die abwesende Person sprechen.

Es können auch imaginierte Rollen (z.B. Märchenfiguren) oder Gefühle des Protagonisten bzw. der Protagonistin auf den Stuhl „gesetzt“ werden.

In einer soziodramatischen Verwendung können auf dem leeren Stuhl auch soziale, kulturelle, gesellschaftliche oder Politische Prinzipien „Platz nehmen“. Hier fließen selbstverständlich auch die soziokulturellen Prägungen der Spieler:innen mit ein.

2.2 Verwendung als Platzhalter

In der Einzelarbeit dienen ein oder mehrere leere Stühle als Platzhalter, weil keine Mitspieler:innen vorhanden sind.

Ein leerer Stuhl kann auch den Platz eines Hilfs-Ich einnehmen, wenn nicht genügend Mitspieler:innen vorhanden sind. Auf diese Weise kann z.B. eine Sitzanordnung oder eine große Gruppe verdeutlicht werden.

3 Quellenangaben

Ameln, Falko von und Josef Kramer, 2014. Psychodrama: Grundlagen. Berlin: Springer. ISBN 978-3-642-44921-5

Moreno, Jacob Levi, 1996. Die Grundlagen der Soziometrie. 3. Auflage. Opladen: Leske + Budrich. ISBN 978-3-8100-1488-7

Verfasst von
Thomas Wittinger
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Es gibt 23 Lexikonartikel von Thomas Wittinger.

Alle Versionen

  1. 21.08.2024 Thomas Wittinger [aktuelle Fassung]
  2. 14.09.2021 Inge-Marlen Ropers

Zitiervorschlag
Wittinger, Thomas, 2024. Leerer Stuhl [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 21.08.2024 [Zugriff am: 18.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29898

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