Lewin, Kurt
Prof. Dr. Gisela C. Schulze, Wiebke Stöhr
veröffentlicht am 25.11.2024
Kurt Lewin war ein bedeutender Psychologe des 19. Jahrhunderts. Er gehörte zur „Berliner Schule“ der Gestaltpsychologie und begründete die Feldtheorie.
Überblick
- 1 Lebenslauf
- 2 Lebenswerk: Die Feldtheorie
- 3 Wirkungsgeschichte
- 4 Aktuelle Bedeutung
- 5 Quellenangaben
1 Lebenslauf
Kurt Lewin wurde am 09. September 1890 in Mogilno als eines von vier Kindern in die jüdische Familie von Leopold Lewin und Recha Engel geboren. Um ihrem Sohn eine gute Schulbildung zu ermöglichen, die so in Mogilno nicht möglich war, wurde er noch im Grundschulalter in Pension zu einer Familie, die in der Provinzhauptstadt Posen lebte, geschickt. 1905 siedelten die Eltern mit ihren Kindern nach Berlin um und Kurt Lewin besuchte das Kaiserin-Augusta-Gymnasium, an dem er später auch das Abitur absolvierte (Marrow 2002, S. 31–34).
Lewin studierte u.a. Philosophie an verschiedenen Universitäten. Im August 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. Im Rahmen dieses Dienstes wurde er 1918 schwer verwundet und anschließend nicht nur aus dem Lazarett, sondern auch aus dem Kriegsdienst entlassen. Bevor er in den Krieg zog, hatte er 1914 bereits einen Antrag auf Promotion gestellt und Carl Stumpf als Doktorvater gewählt, der u.a. Direktor des Psychologischen Instituts der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin war. Seine Promotionsurkunde wurde 1916 ausgestellt. Vier Jahre später stellte er den Antrag auf Habilitation, die im ersten Versuch zurückgewiesen wurde und 1921 gelang (Schönpflug 2007, S. 15–16).
Nach seiner Habilitation arbeitete Lewin am besagten Psychologischen Institut der Berliner Universität, welches – nach Carl Stumpf – von Wolfgang Köhler geleitet wurde. 1927 wurde Lewin dort zum (nicht verbeamteten) Außerordentlichen Professor ernannt, jedoch nicht auf eine ordentliche Professur berufen. Im Krieg hatte Lewin zunächst Dr. Maria Landsberg geheiratet und die beiden hatten zwei gemeinsame Kinder. Sie ließen sich scheiden und 1929 heiratete Lewin Gertrud Weiss und hatte auch mit ihr zwei Kinder. 1933 emigrierte er aufgrund des sich anbahnenden Faschismus und Berufsverbots für jüdische Bürger mit seiner Familie in die Vereinigten Staaten von Amerika (a.a.O., S. 18–20).
Dort war er bis 1935 an der Cornell University in Ithaka und von 1935–1944 an der Iowa State University. 1944 übernahm er das Forschungszentrum für Gruppendynamik des Massachusetts Institut of Technology (MIT) in Cambridge. Am 12. Februar 1947 starb Lewin an Herzversagen (a.a.O., S. 20–21).
2 Lebenswerk: Die Feldtheorie
Lewin fokussierte zunächst wissenschaftstheoretische Fragestellungen, beschäftigte sich dann aber auch mit der Experimentalpsychologie (Schönpflug 2007, S. 17). Seiner sozialistischen Gesinnung entsprechend interessierten ihn auch sozialwissenschaftlich fundierte Lösungsansätze für soziale Probleme (a.a.O., S. 18). Nach seiner Habilitation leistete er Beiträge zur Arbeitspsychologie, Willens-, Affekt- und Handlungspsychologie, erstellte psychologisch orientierte wissenschaftstheoretische Arbeiten und entwickelte seinen eigenen Ansatz zur topologischen Psychologie und Ansätze zur Persönlichkeits- und Entwicklungstheorie (a.a.O., S. 18–19). In den Vereinigten Staaten von Amerika führte Lewin Interventionsstudien durch und baute die Gruppendynamik als neue wissenschaftliche Richtung auf (a.a.O., S. 20).
Bekannt sind Kurt Lewins Wirken und seine Arbeiten unter dem Begriff der Feldtheorie. Lewin vertrat den Gedanken,
„daß nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie“ (Lewin 1943/1944, S. 205).
Diesem Gedanken folgend, versuchte er, mit der Feldtheorie einen Rahmen zu schaffen, mit dem psychologische Prozesse aller Art verstehbar werden (Lück 1996, S. 137). Grundstein der Feldtheorie bildet bereits Lewins Ausführung von 1917 zur „Kriegslandschaft“, wenngleich sich die Feldtheorie erst in den 1930er-Jahren final formte (a.a.O., S. 20). Ohne die Feldtheorie hier gänzlich beschreiben zu wollen, sollen mit Blick auf Lewin wesentliche Merkmale dieser Theorie, die für Lewins fachliches Wirken als maßgeblich gelten können, benannt werden (Lewin 1942, S. 157–162):
- Die Feldtheorie machte es sich zur Aufgabe, individuelle psychologische Situationen unter Verwendung allgemeiner Elemente zu beschreiben.
- Im Zentrum steht das Verhalten einer Person. Es sollen die psychologisch wirkenden Kräfte, die Grundlage für das Verhalten sind, wissenschaftlich betrachtet werden.
- Wesentlich ist dabei zum einen, dass zunächst die Gesamtsituation betrachtet wird, bevor einzelne Aspekte analysiert werden, und zum anderen, dass die Gesamtsituation aus Sicht des jeweiligen Individuums zum aktuellen Zeitpunkt betrachtet wird.
- Psychologische Situationen werden in der Feldtheorie mathematisch bzw. topologisch dargestellt. Die Gesamtsituation, so hält es Lewin in seiner Verhaltensgleichung fest, ist eine Funktion aus der Person und ihrer Umwelt (Lewin 1969, S. 34). Dabei wirken Kräfte, die das Verhalten einer Person beeinflussen, sodass ein Gebiet in der Umwelt anziehend oder abstoßend für eine Person sein kann (Lewin 1933, S. 99–126).
3 Wirkungsgeschichte
Kurt Lewin wird heute zu den bedeutendsten Psychologen des 20. Jahrhunderts gezählt, wenngleich nur bestimmte Aspekte seines Werkes rezipiert wurden (Lück 2002, S. 11) und die Sozialpsychologie nur wenig Interesse an der Feldtheorie zeigte (Lück 2021). Bekannt ist Lewin vor allem für seinen Beitrag zum Verständnis unterschiedlicher psychologischer Vorgänge, wie z.B.:
Gemäß Schönpflug (2007, S. 19) bewegt Lewin sich „unverkennbar im intellektuellen Kraftfeld der Berliner Philosophischen Fakultät. Er wird mit Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Max Wertheimer Teil eines Quartetts, das Gestaltpsychologie ‚Berliner Schule‘ als innovatives Paradigma weltweit propagiert“, wenngleich er auch von seinem Lehrer Cassirer geprägt wurde (ebd.). Die Feldtheorie lieferte einen relevanten Beitrag zur Gestalttheorie (Marrow 2002, S. 43).
Wie schon Lück (2021) festhält, scheint die Feldtheorie – und damit auch Lewin –, in den letzten Jahrzehnten wieder an Interesse zu gewinnen. Lewins Arbeit wird heute u.a. in der Psychotherapie (z.B. Stemberger 2017) oder in der Gruppen- und Organisationsentwicklung (z.B. Stützle-Hebel und Antons 2017) angewendet.
Zunehmend erhält sie auch Einzug in pädagogische Kontexte: In der Sonder- und Rehabilitationspädagogik wurde die Feldtheorie im Ursprung zur Analyse von schulabsenten Verhaltensweisen (u.a. Wittrock und Schulze 2001; Schulze 2002) herangezogen; mittlerweile findet sich ein vielfältiger Einsatz in schulischen und außerschulischen sonder- und rehabilitationspädagogischen Kontexten und der Entwicklung der feldtheoretisch basierten Person-Umfeld-Analyse (u.a. Schulze 2003; Schulze 2010; Alber et al. 2018). Auch in den Erziehungswissenschaften entsteht ein Interesse an Kurt Lewin und seiner Feldtheorie: So befasst sich Bogner mit der Feldtheorie als „eine[r] vergessene[n] Metatheorie für die Erziehungswissenschaft“, indem er die Feldtheorie ausführlich vorstellt und erziehungswissenschaftliche Anwendungsmöglichkeiten daraus ableitet (Bogner 2017). Dies mündete in die Herausgeberwerke „Kurt Lewin reloaded – Band 1: Innovative feldtheoretische Perspektiven für die Schulpädagogik“ (Bogner 2021) und „Kurt Lewin reloaded – Band 2: Feldtheoretische Modelle und Konzepte für interdisziplinäre Forschung und Praxis“ (Bogner et al. 2023).
4 Aktuelle Bedeutung
Die vielfältigen Einflüsse von Kurt Lewin sind bis heute u.a. in psychologischen und pädagogischen Kontexten präsent. Eine tiefer gehende, d.h. die Arbeit von Lewin übergreifende, Betrachtung der Feldtheorie in diesen Kontexten findet bislang noch nicht umfassend statt. Dabei zeigt sich, dass die feldtheoretische Betrachtung auch die Analyse aktueller Phänomene ermöglicht, beispielsweise Verhaltensanalysen von Emotionen, etwa Scham (Stöhr und Schulze 2023a) oder im Kontext des Umgangs mit sozialen Medien (Stöhr und Schulze 2023b).
Kurt Lewin selbst, so formuliert es Frey „ist für viele Wissenschaftler heute noch ein Vorbild in der Art und Weise, wie er Grundlagenforschung, Angewandte Forschung und Anwendung von Forschung verbunden hat. Er ist gleichzeitig Theoretiker und Praktiker gewesen.“ (Frey 2012, S. 9) Damit scheint es, als habe Lewin nicht nur die ganzheitliche Betrachtung psychologischer Vorgänge propagiert, sondern selbst in seiner Forschung auch vielfältige Zugänge und Arbeitsweisen genutzt, um dem Forschungsgegenstand möglichst holistisch zu begegnen. Diesen Blick für den größeren Kontext und das Zulassen von Multiperspektivität braucht es auch heute in der Theorie, Empirie und Praxis sozialer Berufe.
5 Quellenangaben
Alber, Jana, Steffen Kaiser und Gisela C. Schulze, Hrsg., 2018. Die Person-Umfeld-Analyse in der Sonder- und Rehabilitationspädagogik: Lehrbuch zur Theorie mit Praxisbeispielen aus unterschiedlichen Handlungsfeldern. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-2234-3 [Rezension bei socialnet]
Bogner, Dirk Paul, 2017. Die Feldtheorie Kurt Lewins: Eine vergessene Metatheorie für die Erziehungswissenschaft. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-17591-7 [Rezension bei socialnet]
Bogner, Dirk Paul, Hrsg., 2021. Kurt Lewin reloaded: Band 1: Innovative feldtheoretische Perspektiven für die Schulpädagogik. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-33159-7
Bogner, Dirk Paul, Neslihan Sriram-Uzundal und Marianne Soff, Hrsg., 2023. Kurt Lewin reloaded: Band 2: Feldtheoretische Modelle und Konzepte für interdisziplinäre Forschung und Praxis. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-42146-5
Frey, Dieter, 2012. Noch heute inspirierend und vorbildlich: Gedanken zur «Feldtheorie» von Kurt Lewin. In: Kurt Lewin, Hrsg. Feldtheorie in den Sozialwissenschaften: Ausgewählte theoretische Schriften. Bern: Huber, S. 7–10. ISBN 978-3-456-85076-4
Lewin, Kurt, 1969. Grundzüge der topologischen Psychologie. Übertragen und herausgegeben von Raymund Falk und Friedrich Winnefeld, unter Mitarbeit von Hans Arbeck. Bern: Huber. (Amerik. Original: Principles of topological psychology. New York: McGraw-Hill 1936)
Lewin, Kurt, 1982 [1933]. Vektoren, kognitive Prozesse und Mr. Tolmanns Kritik. In: Kurt Lewin. Kurt-Lewin-Werkausgabe. Band 4. Feldtheorie. Hrsg. von Carl-Friedrich Graumann. Bern: Huber, S. 99–126. ISBN 978-3-456-81080-5
Lewin, Kurt, 1982 [1942]. Feldtheorie des Lernens. In: Kurt Lewin. Kurt-Lewin-Werkausgabe. Band 4. Feldtheorie. Hrsg. von Carl-Friedrich Graumann. Bern: Huber, S. 157–185. ISBN 978-3-456-81080-5
Lewin, Kurt, 2012 [1943/1944]. Forschungsprobleme der Sozialpsychologie. In: Kurt Lewin. Feldtheorie in den Sozialwissenschaften: Ausgewählte theoretische Schriften. Bern: Huber, S. 192–205. ISBN 978-3-456-85076-4
Lück, Helmut E., 1996. Die Feldtheorie und Kurt Lewin: Eine Einführung. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union. ISBN 978-3-621-27327-5
Lück, Helmut E., 2002. Vorwort zur Taschenbuchausgabe von Helmut E. Lück. In: Alfred J. Marrow. Kurt Lewin: Leben und Werk. Weinheim: Beltz, S. 11–14. ISBN 978-3-407-22754-6
Lück, Helmut E., 2021. Feldtheorie [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 11.01.2021 [Zugriff am: 08.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/1716
Marrow, Alfred J., 2002. Kurt Lewin: Leben und Werk. Weinheim und Basel: Beltz. ISBN 978-3-407-22754-6
Schönpflug, Wolfgang, 2007. Kurt Lewin – Person, Werk, Umfeld: Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wertungen. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage. Frankfurt am Main: Peter Lang. ISBN 978-3-631-56243-7
Schulze, Gisela, 2002. Die Feldtheorie von Kurt Lewin – Ein Ansatz zur Klärung von Verhaltensmustern im Bereich einer Pädagogik bei Verhaltensstörungen. In: Sonderpädagogik. 32(2), S. 107–120. ISSN 0342-7366
Schulze, Gisela, 2003. Die feldtheoretische Lebensraumanalyse – ein Konzept für eine prozessgeleitete Diagnostik zur Entwicklung von Fördermaßnahmen im Rahmen einer „cross-categorialen“ Sonderpädagogik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik. 54(5), S. 204–212. ISSN 0513-9066
Schulze, Gisela C., 2010. Die Person-Umfeld-Analyse und ihr Einsatz in der Rehabilitation. In: Menno Baumann, Carmen Schmitz und Andreas Zieger, Hrsg. RehaPädagogik, RehaMedizin, Mensch: Einführung in den interdisziplinären Dialog humanwissenschaftlicher Theorie- und Praxisfelder. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 132–147. ISBN 978-3-98649-376-9
Stemberger, Gerhard, 2017. Machtfelder in der Psychotherapie (Teil 2): Formen, Wirkungen und Anwendungen. In: Phänomenal – Zeitschrift für Gestalttheoretische Psychotherapie. 9(1), S. 17–32. ISSN 2410-2504
Stöhr, Wiebke und Gisela C. Schulze, 2023a. Gestaltpädagogik und Feldtheorie: Verstecken, Ablenken, Angreifen. Die feldtheoretische Analyse von Verhalten am Beispiel der Emotion Scham. In: Thomas Schübel, Hrsg. Perspektiven der Gestaltpädagogik: Neue Ideen für zukunftsfähige Bildung und Erziehung. Gevelsberg: EHP, S. 78–88. ISBN 978-3-89797-144-8
Stöhr, Wiebke und Gisela C. Schulze, 2023b. Allein aber online – Verhaltensstörungen aus feldtheoretischer Perspektive unter Einbezug der sozialen Medien. In: Dirk Paul Bogner, Neslihan Sriram-Uzundal und Marianne Soff. Hrsg. Kurt Lewin reloaded: Band 2: Feldtheoretische Modelle und Konzepte für interdisziplinäre Forschung und Praxis. Wiesbaden: Springer VS, S. 123–138. ISBN 978-3-658-42146-5
Stützle-Hebel, Monika und Klaus Antons, 2017. Einführung in die Praxis der Feldtheorie. Heidelberg: Carl Auer. ISBN 978-3-8497-0201-4 [Rezension bei socialnet]
Wittrock, Manfred und Gisela Schulze, 2001. Lernen in der „Auszeit“. In: Christiane Hofmann, Inge Brachet, Vera Moser und Elisabeth von Stechow, Hrsg. Zeit und Eigenzeit als Dimension in der Sonderpädagogik. Luzern, S. 109–118. ISBN 978-3-908262-11-4
Verfasst von
Prof. Dr. Gisela C. Schulze
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Allgemeine Sonderpädagogik; Rehabilitation/Health Care
Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik
Fakultät I – Bildungs- und Sozialwissenschaften
C.v.O. Universität Oldenburg
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Fakultät I – Bildungs- und Sozialwissenschaften
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Zitiervorschlag
Schulze, Gisela C. und Wiebke Stöhr,
2024.
Lewin, Kurt [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 25.11.2024 [Zugriff am: 09.12.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/17199
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