Machtsensibilität
Prof. Dr. Melanie Misamer
veröffentlicht am 29.03.2023
Machtsensibilität beschreibt eine konstitutive Empfindsamkeit gegenüber der Machtanwendung. Sie beinhaltet ein Wissen um den eigenen Status, mögliche Korrumpierungsmechanismen, das Eigenwirkpotenzial von Macht, unterschiedliche Wahrnehmungen der Machtanwendung und sozialpsychologische Fallstricke der eigenen Wahrnehmung.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Herleitung des Handlungskonzepts Machtsensibilität
- 3 Entwicklung einer Machtsensibilität
- 4 Praktische Hinweise für die Soziale Arbeit
- 5 Quellenangaben
- 6 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Macht ist im Alltagsprachgebrauch negativ besetzt und wird selten explizit und differenziert betrachtet (Misamer und Scholl 2021, S. 179), dabei hat jeder Mensch Macht inne. Machtsensibilität beschreibt eine konstitutive (=grundlegende) Empfindsamkeit gegenüber der Machtanwendung. Voraussetzung zur Entwicklung von Machtsensibilität bei Sozialarbeitenden gegenüber Adressierten ist ein Wissen und Bewusstsein über grundlegende Machtdynamiken.
Es ist für Sozialarbeitende wichtig, sich im Klaren darüber zu sein, welche Ziele auf welche Art und Weise beim Gegenüber erreicht werden sollen und welche Konsequenzen das jeweils hat. So können aus destruktiven (machtmissbräuchlichen) Formen der Machtanwendung Ohnmachtsgefühle beim Gegenüber entstehen. Aus konstruktiven (unterstützend und fördernd im Sinne z.B. der berufsethischen Prinzipien) Formen der Machtanwendung können Zufriedenheit, Motivation und ein gesteigertes Potenzial Probleme zu lösen resultieren (Scholl 2007b, S. 19). Zur Machtsensibilität gehört außerdem Wissen über (sozialpsychologische) Wahrnehmungsverzerrungen, die zu Fallstricken bei der Machtanwendung werden können. Beispielsweise über die unterschiedliche Wahrnehmung von Machtausübung, je nach Blickwinkel, ob die machtanwendende Person betrachtet oder die Person, auf die Macht angewendet wird (Misamer 2019a, S. 138f; Witte 2001, S. 8), der Perseveranzeffekt (Ross et al. 1975), der Fundamentale Attributionsfehler (z.B. Jonas et al. 2014, S. 90 f.) oder der Halo-Effekt (Thorndike 1920).
Mit Hilfe des Handlungskonzepts der Machtsensibilität können destruktive Strukturen frühzeitig wahrgenommen und durch konstruktive Strategien, wie partizipative, konfliktlösende, vertrauens- und gerechtigkeitsfördernde Handlungsweisen, ersetzt werden.
2 Herleitung des Handlungskonzepts Machtsensibilität
Auch wenn es bereits Beiträge zur Macht in der Sozialen Arbeit gibt (z.B. von Staub-Bernasconi, Sagebiel, Pankofer, Kraus und Krieger) ist Machtsensibilität bis vor Kurzen nicht thematisiert worden, obwohl sie in der Arbeitspraxis durchaus eine Rolle spielt (Misamer und Albrecht i.V.). Auch empirisch ist Machtsensibilität noch wenig beachtet, obwohl sich in den berufsethischen Richtlinien des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit e.V. Hinweise zum Umgang mit Macht, insbesondere aber auch ein Hinweis auf den sensiblen Umgang mit derselben finden: „Soziale Arbeit muss sensibel mit Macht und Machtstrukturen umgehen“ (DBSH 2014, S. 26).
Weil Macht ein universelles Konstrukt ist, das in verschiedensten Bereichen des sozialen Lebens in ähnlicher Weise wirkt, kann die Beschreibung nicht disziplinär auf eine Profession begrenzt bleiben. Es gibt Theorien und Forschung zur Macht aus der Psychologie, den Erziehungswissenschaften, der Sozialen Arbeit, der Philosophie und der Soziologie, die Machtmechanismen, zwar teilweise mit anderen Worten, aber im Tenor ähnlich beschreiben:
- Macht ist situationsspezifisch, in einem Bereich verfügt jemand über Macht, in einem anderen jedoch nicht. Jemand kann Führungskraft am Arbeitsplatz, aber nur Ersatzperson im Fußballverein sein.
- Macht ist relativ, denn Machtmittel wirken nur, wenn die andere Seite möchte oder braucht, was man bieten kann oder hiervon abhängig ist.
- Macht ist „janusköpfig“, man beäugt die Macht anderer eher kritisch, während man selbst gerne mehr davon hätte (z.B. Scholl 2007a, S. 27). Macht wirkt bereits, bevor sie angewendet wurde (Keltner et al. 2003, S. 19 f.).
- So können Korrumpierungsautomatismen wirksam werden (z.B. Keltner 2016, S. 101–103; Kipnis 1972; Mitchell et al. 1998; Scholl 2012, S. 213).
Fallstricke bei der Machtanwendung können beispielsweise die unterschiedliche Wahrnehmung von Machtausübung, je nach Blickwinkel sein (Misamer 2019a, S. 138f; Witte 2001, S. 8), der Perseveranzeffekt (Ross et al. 1975), der Fundamentale Attributionsfehler (z.B. Jonas et al. 2014, S. 90 f.) oder der Halo-Effekt (Thorndike 1920). Diese Fallstricke werden im socialnet-Materialienbeitrag Machtsensibilität in Abschnitt 4 ausgeführt, eine differenzierte Machtdefinition findet sich in Abschnitt 2 (Misamer 2023b). Wird das Wissen aus diesen Bereichen zusammengetragen und gebündelt, können das Machtkonstrukt und der sensible Umgang hiermit breiter und umfassender beschrieben werden, als aus dem Blickwinkel nur einer Disziplin (Misamer 2019a, S. 22–49).
Bei der Machtsensibilität handelt es sich um eine Kategorie, die auf einer interdisziplinär verorteten Idee von Macht basiert. Es ist ein evidenzbasiertes Handlungskonzept für pädagogische und sozialarbeiterische Interaktionen, das in machtasymmetrischen Situationen den „schwächeren Part“ absichert und partizipativ stärkt.
3 Entwicklung einer Machtsensibilität
Erste Schritte hin zur Entwicklung einer Machtsensibilität sind: Macht als zunächst neutrales Potenzial zu begreifen (Argyle 1990, S. 248), das auf die eine oder andere Weise angewendet werden kann. Hinzukommen sollte das Eingeständnis, dass der „Wille zur Macht“ ein menschlicher Wesenszug ist (Russell 1947, S. 9). Jeder Mensch strebt mehr oder weniger nach Macht und das ist ein Tabuthema. Dieses Tabu muss gebrochen werden, um eine Basis für eine Sensibilisierung für die eigene Machtnutzung zu schaffen. Es sollte auch darum gehen, ein Wissen um machtspezifische und sozialpsychologische Wahrnehmungsverzerrungen zu entwickeln, die mit einer Machtposition einhergehen können wie z.B.:
- Eine verzerrte (eher zu positive) Einschätzung der eigenen Machtnutzung, die mit dem eigenen Status verbunden ist.
- Mögliche Korrumpierungsmechanismen, die mit Macht einhergehen können.
- Das Eigenwirkpotenzial von Macht, denn Macht wirkt bereits vor ihrer Nutzung.
- Divergierende Wahrnehmungen der Machtanwendung je nach Standpunkt.
- Eine Vielzahl sozialpsychologischer Fallstricke der eigenen Wahrnehmung.
Schließlich wird ein Anker benötigt, an dem die eigene professionelle Machtnutzung ausgerichtet und an dem sich in Zweifelsfragen orientiert werden kann. Das sind empirisch nachgewiesene (Misamer et al. 2017, S. 453 f.; Misamer und Hennecken 2022, S. 198) (berufs-)ethische Prinzipien und hier insbesondere solche, die man selbst als besonders wichtig erachtet (denn dann ist die persönliche Identifikation mit diesen Prinzipien im Berufsalltag potenziell am höchsten; Omer und von Schlippe 2016).
Die Kombination aus dem Wissen über Macht und ihre Dynamiken, der Bewusstwerdung eigener machtspezifischer und sozialpsychologischer Wahrnehmungsverzerrungen und die Klärung, welche (berufs-)ethische Prinzipien persönlich als besonders wichtig erachtet werden, erlauben eine prinzipienbasierte Reflexion der eigenen Machtnutzung – es entwickelt sich eine Machtsensibilität (Misamer 2023a, i.E.), die durch einen stetigen Reflexionsprozess aufrechterhalten und kultiviert werden muss.

4 Praktische Hinweise für die Soziale Arbeit
Es gibt einige konkrete Verhaltensweisen gegenüber Adressierten, die als konstruktive Machtnutzung gelten, die also unterstützend und fördernd im Sinne z.B. der berufsethischen Prinzipien der DBSH sind (Misamer et al. 2017, S. 454):
- Sich Kümmern um Probleme von Adressierten.
- Reden über Fragen, die Adressierte persönlich angehen.
- Adressierten das Gefühl geben, wichtig zu sein. Sich für Adressierte einzusetzen, wenn diese in Schwierigkeiten geraten.
- Sich für die Probleme von Adressierten zu interessieren.
In positivem Zusammenhang steht konstruktiver Machtgebrauch mit diesen Aspekten: Zufriedenheit, vergrößertes Potenzial, Probleme (gemeinsam) zu lösen und Motivation (Scholl 2007b, S. 19). Ohne diese Aspekte wären ein gelungener Beziehungsaufbau und eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Adressierten deutlich schwieriger.
5 Quellenangaben
Argyle, Michael, 1990. Soziale Beziehungen. In: Wolfgang Stroebe, Miles Hewstone, Jean-Paul Codol und Geofrey Stephenson Hrsg. Sozialpsychologie: Eine Einführung. Berlin: Springer, S. 232–257. ISBN 978-3-662-09958-2
DBSH – Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V., 2014. Ethik in der Sozialen Arbeit? Erklärung der Prinzipien. In: Forum sozial [online]. (4), S. 1–44 [Zugriff am: 01.02.2023]. ISSN 1433-3945. Verfügbar unter: https://www.dbsh.de/profession/​berufsethik/​berufsethik-des-dbsh.html
Jonas, Klaus, Wolfgang Stroebe und Miles Hewstone, 2014. Sozialpsychologie. 6. Auflage. Berlin: VS Springer. ISBN 978-3-642-41091-8
Keltner, Dacher, 2016. The Power Paradox: How We Gain and Lose Influence. London: Penguin PR. ISBN 978-1-5942-0524-8
Keltner, Dacher, Deborah H. Gruenfeld und Cameron Andersen, 2003. Power, approach, and inhibition. In: Psychological Review [online]. 110, S. 265–284 [Zugriff am: 01.02.2023]. ISSN 1939-1471. Verfügbar unter: doi:10.1037/0033-295x.110.2.265
Kipnis, David, 1972. Does power corrupt? In: Journal of Personality and Social Psychology [online]. 24, S. 33– 41 [Zugriff am: 01.02.2023]. ISSN 0022-3514. Verfügbar unter: doi:10.1037/h0033390
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Misamer, Melanie, 2023a, i.E. Machtsensibilität in der Sozialen Arbeit: Grundwissen für reflektiertes Handeln. Stuttgart: Kohlhammer
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6 Literaturhinweise
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Verfasst von
Prof. Dr. Melanie Misamer
Professorin für Methoden und Konzepte Sozialer Arbeit in der Gesundheitsförderung
HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Melanie Misamer.
Zitiervorschlag
Misamer, Melanie,
2023.
Machtsensibilität [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 29.03.2023 [Zugriff am: 28.05.2023].
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