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Mehringer, Andreas

Manfred Berger

veröffentlicht am 25.09.2023

* 10.03.1911 in Bernloh (Ldkr. Miesbach)

21.04.2004 in München

Andreas Mehringer, datiert 1954
Abbildung 1: Andreas Mehringer, datiert 1954 (Ida-Seele-Archiv)

Andreas Mehringer war ein deutscher Sozial- und Heilpädagoge, der sich insbesondere nach 1945 für eine Reformierung der Heimerziehung und eine familienorientierte Heilpädagogik eingesetzt hat. Sein Wirken wird heute, aufgrund seiner fehlenden Distanzierung zu nationalsozialistischem Gedankengut und seiner drakonischen Erziehungspraktiken, kritisch betrachtet.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Biografische Eckdaten
    1. 2.1 Kindheit, Jugend und Studium
    2. 2.2 Die Jahre nach dem Studium bis Ende der Nazi-Diktatur
    3. 2.3 Die Jahre nach 1945 und letzter Lebensabschnitt
  3. 3 Wirkungsgeschichte und Lebenswerk
    1. 3.1 Die Jahre der Nazi-Diktatur
      1. 3.1.1 Dissertation über Pestalozzi
      2. 3.1.2 Auswahl von der Zeit geschuldeten Veröffentlichungen
    2. 3.2 Die Jahre nach 1945
      1. 3.2.1 Die Chance der Ruine
      2. 3.2.2 Niemandskinder
      3. 3.2.3 Eine kleine Heilpädagogik
  4. 4 Kritik und Würdigung
  5. 5 Quellenangaben
  6. 6 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Andreas Mehringer ist „zweifellos einer der ‚Großen‘ der deutschen Heim- und Heilpädagogik, wohl auch der gesamten Sozialpädagogik in der bundesrepublikanischen Nachkriegsära“ (Schrapper 2005, S. 385). Vehement kämpfte er unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur gegen die noch immer vorherrschenden „mittelalterlichen Denkweisen in der Heimerziehung“ (Mehringer 1987, S. 1). Seine innovative Idee bestand in der Einführung des „Familienprinzips“. Zudem hat er unzählige Vorträge und Seminare im deutschsprachigen Raum gehalten und eine Vielzahl an Aufsätzen und Büchern verfasst und erreichte so einen hohen Bekanntheitsgrad in Theorie und Praxis der Heim-/​Sozial-/​Heilpädagogik. Bald nach seinem Tod geriet er jedoch verstärkt ins Kreuzfeuer der Kritik, ja regelrecht in Verruf, ausgelöst einerseits durch sein Wirken während der Nazi-Diktatur, andererseits als „fast schon sadistisch prügelnder“ (Rädlinger 2014, S. 72) Direktor des Münchener Waisenhauses.

2 Biografische Eckdaten

2.1 Kindheit, Jugend und Studium

Andreas war das jüngste von vier Kindern des Landwirts Martin Mehringer und dessen Ehefrau Margarethe, geb. Brenninger. Seine frühe Kindheit war geprägt durch die Freiheit und den Erfahrungsreichtum des Dorflebens; „im Stall, bei den Tieren, in Feld und Wald, auch in den Werkstätten der Dorfhandwerker, beim Wagner und beim Schmied“ (Mehringer 1982, S. 117).

Mit dem frühen Tod der Mutter, sie war 34 Jahre alt, änderte sich das Leben des siebenjährigen Jungen schlagartig. Er bekam eine Stiefmutter, zu der er keinen emotionalen Zugang fand und unter deren Ablehnung er sehr litt. Dabei war das Schlimmste nicht, „was passierte, sondern was nicht passierte. Man hatte nicht das, was jedes Kind brauchte, um Sicherheit und Vertrauen zu gewinnen: jemand, zu dem man einfach hinlaufen kann“ (Mehringer 1982, S. 117 f.).

Nach sieben Jahren Volksschule trat der begabte Schüler auf Anraten seines Lehrers und des Dorfpfarrers in das von Benediktinern geleitete Erzbischöfliche Knabenseminar in Scheyern ein, damals ein fünfklassiges Progymnasium. Hier sammelte er erste Anstaltserfahrungen, die geprägt waren von einem strikten Tagesablauf, schulischem Leistungsdruck und strenger „Silentium-Pflicht“, vor allem im Schlaf- und Studiersaal. Das Grundbedürfnis des Jungen „nach Wärme und Geborgenheit war für niemanden vorhanden. Seine Befriedigung war in der Benediktinerregel ‚ora et labora‘ nicht enthalten“ (a.a.O., S. 120). Nach weiteren Schulbesuchen in Freising und Rosenheim, wo der 18-Jährige 1929 am Humanistischen Gymnasium das Abitur ablegte, besuchte er ein Seminarjahr in der Lehrerbildungsanstalt in Pasing (heute ein Stadtteil von München). Danach war er als „Schulamtsbewerber“ auf dem Land sowie an verschiedenen Münchener Vorstadtschulen tätig. Zugleich studierte Mehringer an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) Pädagogik (damals noch mit Psychologie verbunden), Philosophie und Literaturgeschichte. In den ersten beiden Semestern des Jahrs 1933 „kam noch als drittes hinzu: die Stellung eines ‚Präfekten‘ in einem Münchner Kinderheim, in der Maria-Theresia Anstalt am Johannis-Platz“ (a.a.O., S. 123). Die Anstellung als Aushilfslehrer sowie die praktische Arbeit als Präfekt drängten ihn dazu „innerhalb der Pädagogik speziell die Probleme der Jugendverwahrlosung, Jugendkriminalität und Fürsorge-Erziehung zu studieren“ (Mehringer 1936, S. 174). Im Jahre 1936 schloss er das Studium ab.

2.2 Die Jahre nach dem Studium bis Ende der Nazi-Diktatur

Im Frühjahr 1937 erhielt Andreas Mehringer seine erste Anstellung in der oberbayerischen Kleinstadt Neuötting am Inn. Am 26. Juni d.J. heiratete er Amalie Weichenberger. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor, zwei Mädchen (geb. 1938 und 1949) sowie ein Junge (geb. 1940). Zusätzlich übernahm er Aufgaben als Jugendhelfer innerhalb der Jugendhilfe der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) (Mehringer 1940b, S. 311). In seiner Autobiografie vermerkte er lapidar, dass damals ein junger Lehrer politisch nicht ganz unbehelligt davonkam. Um von anderen nationalsozialistischen Posten verschont zu bleiben, machte er „bei der NSV-Jugendhilfe mit. Der Pädagoge war bei dieser Arbeit willkommen. Es ging um den ganzen Bereich der Jugendfürsorge, um Hilfe für mißhandelte Kinder, um Heimunterbringung, Pflegestellen- und Adoptionsvermittlung“ (Mehringer 1982, S. 127 f.).

Im Kriegsjahr 1940 wurde der junge Vater zum Militärdienst einberufen. Nach einer harten Grundausbildung in der Nachrichtenabteilung der Gebirgsjäger wurde er zunächst als Luftwaffenpsychologe in der Annahmestelle für Offiziersbewerber, später in der Eignungsprüfungsstelle für das Fliegerpersonal eingesetzt. Diese Anstellung rettete Mehringer, wie er schrieb, vermutlich das Leben, „denn alle gesunden 30jährigen kamen damals sehr schnell an die Front“ (Mehringer 1982, S. 128). Als die politisch Verantwortlichen Ende 1942 das Eignungsprüfungswesen der Luftwaffe auflöste, wurde der Psychologe wieder Soldat. Er kehrte jedoch bald in den Schuldienst zurück, da der Lehrermangel an der „Heimatfront“ mehr als katastrophal war, und unterrichtete in der Heimschule des „Piusheims“, einer großen Fürsorgeanstalt bei Glonn (Kreis Ebersberg), 200 männliche „verwahrloste und bestimmungslose“ Zöglinge zwischen 13 und 20 Jahren, die man als „Psychopathen“, als „Störenfriede abgeschoben und kaserniert […] hatte“ (a.a.O., S. 129). Als Festredner zum 90. Geburtstag genannter Fürsorgeanstalt (10. November 1995) resümierte der ehemalige Heimschullehrer:

„Was ich hier erlebte, war die klassisch strenge Fürsorge-Erziehungsanstalt dieser Zeit. Die Zöglinge wurden ausser den paar Schulstunden bei mir militärisch geführt, mit Antreten und Wegtreten zu den Arbeitsgruppen, zurück in den Aufenthaltssaal und in die Schlafsäle. Einer davon war ein Bettnässer-Saal […] Ich habe mich damals hier entschlossen, einmal ganz in die Heimerziehung zu gehen. Ich wünschte mir eine solche Anstalt wie das Piusheim zum Umkrempeln“ (ISA Manuskript 1995, S. 1 f.).

2.3 Die Jahre nach 1945 und letzter Lebensabschnitt

Im September 1945 übernahm Mehringer die Verantwortung für das durch Bombenangriffe zerstörte Münchener Waisenhaus. Besagte Institution wurde bis dato fast 90 Jahre von den Schwestern der Kongregation der Englischen Fräulein in strenger Regie geführt. Der neue „Waisenhausvater“ begann sofort mit einer Umstrukturierung der Anstalt, die sich zu einer der modernsten Einrichtungen der Jugendfürsorge der damaligen Zeit entwickelte. Sie lockte „in den 1950er und 1960er Jahren zahlreiche Besucher an und bildete einen Anziehungspunkt für zahlreiche Pädagogen und Psychologen“ (Zahner 2006, S. 351).

Nach über zwei Jahrzehnten verabschiedete sich Mehringer in den vorzeitigen Ruhestand. Neben seiner Tätigkeit als „Waisenhausvater“ zeichnete er noch ab 1949 als Schriftleiter für „Unsere Jugend“ verantwortlich. Fast fünf Jahrzehnte steuerte er für die renommierte Fachzeitschrift „zahlreiche Fachbeiträge, aber auch engagierte Kommentare und kämpferische Positionen zur Entwicklung der Jugendhilfe und Heimerziehung, aber auch zur Schule und Familienpolitik bei“ (Schrapper 2005, S. 385). Paul Sonderegger, damals Leiter der Jugendsiedlung Heizenholz in Zürich-Höngg, schrieb 1987 in einem offenen Brief an Mehringer über dessen Verdienste für genanntes Fachperiodikum:

„Aus dem letzten Heft ‚Unsere Jugend‘ erfahre ich, dass Sie nach 36 Jahren Tätigkeit als Schriftleiter zurückgetreten sind […] Als regelmässiger Leser der interessanten Beiträge konnte ich in meiner Praxis als Heimleiter immer wieder neue Impulse aufnehmen, in meinem Wirkungskreis erproben und unsere Mitarbeiter damit konfrontieren. Wenn ich an all die Jahre zurückdenke, so fand ich in Ihrem Gedankengut stets etwas Aussergewöhnliches, Richtungsweisendes, das wie ein Sauerteig in all dem fachlichen Suchen nach guten Formen der Fremderziehung unserer Jugend wirkte“ (Sonderegger 1987, S. 148).

Auf Anregung von Philipp Lersch, Professor für Psychologie, übernahm Mehringer 1956 einen Lehrauftrag für Sozialpädagogik an der Münchener LMU. Seine Themen waren u.a.: „Heimerziehung für familienlose Kinder, J. H. Pestalozzi, aktuelle Probleme der Jugendhilfe, die Freizeit – sozialpädagogisch gesehen, Sozialpädagogik in der Schule, Pädagogik der frühen Kindheit“ (Mehringer 1982, S. 144 f.).

In den 1950er- und 1960er-Jahren trat der „Waisenhausvater“ bei den „einschlägigen Fachgesellschaften (AFET, IGfH) auf und [stritt] vor allem für eine qualifizierte ErzieherInnen-Ausbildung und bessere Bezahlung des Berufes, später gegen den Schichtdienst und die Auffassung, Heimerzieher sei ‚ein Job wie jeder andere‘“ (Schrapper 2005, S. 385).

Nach Scheidung heiratete Mehringer am 19. Juni 1969 die „Waisenhausmutti“ Lore Hühmer. Die Verbindung blieb kinderlos. Im späten Alter widmete er sich verstärkt seiner literarischen Leidenschaft, dem Verfassen von Gedichten (Thorun 2001, S. 73 ff.).

Todesanzeige
Abbildung 2: Todesanzeige (Ida-Seele-Archiv)

3 Wirkungsgeschichte und Lebenswerk

3.1 Die Jahre der Nazi-Diktatur

3.1.1 Dissertation über Pestalozzi

Mehringers wissenschaftliche Arbeit über „Pestalozzi als Fürsorgepädagoge. Ein Beitrag zur Geschichte der Fürsorgeerziehung“ ist gespickt mit „zeitgemäßen Verbeugungen“ (Schrapper 2005, S. 388) vor dem noch relativ jungen totalitären Regime. Wie Schrapper konstatiert, hat der Promovend mit seiner 1936 bei Aloys Fischer gefertigten Arbeit den Versuch unternommen, den Schweizer Pädagogen, Waisenhausvater, Philosophen, Schul- und Sozialreformer nicht allein der Schulpädagogik zu überlassen, sondern ihn als einfühlsamen Fürsorgepädagogen und Kronzeugen für eine positive Fürsorgeerziehung „auch gerade im Lichte der ‚neuen Zeit‘ anzuführen, wenngleich sie dem heutigen Leser viel Verständnis für eben jene ‚zeitgemäßen Verbeugungen‘ abverlangt“ (ebd.). Nach Mehringer gebührt Johann Heinrich Pestalozzi noch mehr als dem Pädagogen und Philosophen Johann Gottlieb Fichte ein „‚Ehrenplatz in der pädagogischen Ahnengalerie des Nationalsozialismus ‘“ (Mehringer 1936, S. 164). In seinem „stark von nationalistischer Rhetorik geprägten Vorwort“ (Babic 2008, S. 71) schreibt der Promovend, dass die „Neuformung des deutschen Lebens seit Beginn der Nationalen Revolution getragen [ist] von dem Bewußtsein der Verantwortung gegenüber der deutschen Eigenart einerseits, von einem tiefen sozialen Verantwortungsgefühl andererseits. Das Ziel ist die Wiederherstellung bzw. der Neubau einer deutschen Gemeinschaft. Innerhalb dieser Aufgabe ist die Neuformung des deutschen Menschen ständiges Teilziel und Mittel zugleich, da die Gemeinschaft in ihrer Echtheit nur von gemeinschaftsfähigen Menschen jeweils gelebt und betätigt wird. In diesem Sinne liegt in der Erziehung der deutschen Jugend der Zukunftswille unseres Volkes begründet“ (Mehringer 1936, o.S.). Neben Schule und Jugendbund als mitverantwortliche Träger der deutschen Erziehung ist, so Mehringer, die Familie, der „erste, eigentliche und natürliche Erziehungsträger […] ohne deren grundlegende Vor- und Mitarbeit jeder Erziehungsversuch von außen dauernd in Frage gestellt ist. Diese einfache Tatsache kann – mit Hinweis auf die neue Weltanschauung – nicht stark genug betont werden. Wir müssen aber weiterhin wissen, daß auf Grund des Ausfalls der Familienbetreuung, verbunden mit einer besonderen Erbanlage ein nicht zu unterschätzender Teil unserer Jugend immer wieder in den Bereich der Verwahrlosung absinkt und daß bei einem noch größeren Teil derselben der Eintritt der Verwahrlosung nur von äußeren Zufällen abhängt. So muß auch die Jugendfürsorge als die verantwortliche Wächterin an der Schwelle zwischen tüchtiger, wertstrebiger Jugend und einem gemeinschaftsunfähigen Nachwuchs im Neubau des deutschen Erziehungswesens in seiner Bedeutung und in seiner Eigenart im Auge behalten werden“ (Mehringer 1936, o.S.).

Entsprechend den allgemeinen Bestrebungen der Nazis für eine Entkonfessionalisierung der Jugendfürsorge, spricht sich Mehringer dafür aus, dass die eigentlichen Träger der Fürsorgepflicht, nämlich Caritas und Innere Mission, „von der Gemeinschaft abgelöst werden“, zumal auch schon Pestalozzi die „gefährdeten und verwahrlosten Kinder erst zu gemeinschaftsstarken Menschen bilden wollte, bevor er an die Erziehung von Christen dachte“ (Mehringer 1936, S. 164). Dabei besitzt die Gemeinschaft heute, wie der Promovend bekundet, „nicht mehr nur eine ideenmäßige, sondern durch den Wertbegriff der Rasse auch eine biologische Grundlage“ (ebd.). Die neuen Erkenntnisse, als auch die „rassehygienischen Maßnahmen“ (a.a.O., S. 168) berücksichtigend, „ist es freilich zuerst notwendig, die Förderung einer gesunden Jugend durch ‚Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ einerseits und durch Förderung der auf rassisch günstigen Grundlagen aufgebauten Eheschließungen andererseits in die Hand zu nehmen. Auch das möchte ich im Sinne Pestalozzis deuten, und zwar als erste und beste vorbeugende Maßnahme, als ‚Weisheit, die dem bösen [sic!], ehe es da ist, vorbeugt‘“ (a.a.O., S. 165).

Mehringers Dissertation aus dem Jahre 1936
Abbildung 3: Mehringers Dissertation aus dem Jahre 1936 (Ida-Seele-Archiv)

3.1.2 Auswahl von der Zeit geschuldeten Veröffentlichungen

Andreas Mehringer publizierte während der NS-Zeit einige Aufsätze in den NS-nahen Zeitschriften „Die Scholle. Monatshefte für aufbauende Arbeit in Erziehung und Unterricht“ sowie „Deutsche Jugendhilfe“, die aus heutiger Sicht kritisch gesehen werden. Eine Auswahl:

  • „Abartige Kindheit und Jugend“ (Mehringer 1938a, S. 277 ff.)
  • „Neue Jugendhilfe. Ein Beitrag zu einem neuen Sozialismus der Volksschule“ (Mehringer 1938b, S. 90 ff.)
  • „Disziplin“ (Mehringer 1939a, S. 35 ff.)
  • „Rechtschreiberziehung im 8. Schuljahr“ (Mehringer 1939b, S. 478 ff.)
  • „Gewinnung und Anleitung von Mitarbeitern in der NSV-Jugendhilfe“ (Mehringer 1939c, S. 129 ff.)
  • „Die Strafe in der Schulerziehung“ (Mehringer 1940a, S. 155 ff.)
  • „Die Erziehungsaufgabe der Schule im Krieg“ (Mehringer 1940b, S. 311).

Genannte Publikationen, die an dieser Stelle aus Platzgründen nicht alle analysiert werden können, entsprechen in ihrer Wortwahl (mehr oder weniger extensiv) den Erfordernissen der Zeit. Dazu Beispiele:

In seinem Beitrag „Disziplin“ unterscheidet Mehringer zwischen der äußeren, der erzwungenen Disziplin und der inneren, der freiwillig übernommen Disziplin (Mehringer 1939a, S. 36). Es ist für ihn geradezu selbstverständlich, dass „in einer Zeit, die ihre Größe darin hat, daß ein ganzes Volk aus tiefster innerer Disziplin antritt zu großen Aufgaben, die Disziplin auch in der Erziehung mehr Raum und Bedeutung erhält – in der Knabenerziehung bewußt auch als Vorbereitung auf den Wehrdienst. Das gilt aber in erster Linie für die außerschulische Jugenderziehung in der Hitlerjugend – so weit es die Schule angeht – vor allem für die Gelegenheiten, bei denen die Klasse geschlossen nach außen in Erscheinung tritt, beim Marsch zur Turnstunde, vor und nach der Schule“ (a.a.O., S. 38 f).

Seine Veröffentlichung „Abartige Kindheit und Jugend“ befasst sich mit der NS-Jugendfürsorge. Mehringer beklagt, dass alle „Jugendfürsorge immer schon den Stempel der Minderwertigenfürsorge […] trug“ (Mehringer 1938a, S. 277). Diese allgemein verbreitete Ansicht, leitete „in der vornationalsozialistischen Zeit ihre Berechtigung von der Tatsache der uneingeschränkten Fortpflanzung der Erbminderwertigen ab“ (ebd.). Hierzu bedarf nach dem NSV-Jugendhelfer der „völkische Neuaufbau“ einer neuen Blickrichtung. Ausgehend von der seinerzeit gängigen Klassifikation, die zwischen „1. Mindersinn ([b]linde, taubstumme, krüppelhafte Kinder). 2. Geistesschwachheit (debile, imbezille, idiotische Kinder). 3. Neuro- und Psychopathien. 4. Geisteskrankheiten. 5. Umweltbedingte Abartigkeit(ebd.), differenzierte, verweist er darauf, dass die Fortpflanzung „unserer Erbkrankenjugend“, davon in Deutschland zur Zeit „etwa 4000 erblich Blinde, 18 000 erblich Taubstumme, 20 000 erbkranke Krüppel, 200 000 erblich Schwachsinnige, 80 000 erbkranke Psycho- und Neuropathen, und etwa 100 000 erbkranke Irrsinnige […] leben, […] heute endlich bis aufs äußerste eingeschränkt [ist]“ (ebd.). Im Fokus der Jugendfürsorge stehen die „abartigen“ Kinder und Jugendlichen, die zu einem weitaus größeren Teil „aus Anlagegeschwächten, deren Betreuung sich nicht nur grundsätzlich lohnt, sondern im Hinblick auf unsere bevölkerungspolitischen Aufgaben eine dringende Notwendigkeit darstellt und aus Gesunden, aber Umweltgefährdeten oder -geschädigten“ zusammengesetzt sind (a.a.O., S. 278). Wie Mehringer betont, ist die Arbeit mit dieser Klientel „keine Minderwertigenfürsorge. Sie zeitigt und verspricht auch fürderhin Erfolge, denn in diesem Bereich hemmen uns nicht die Naturgrenzen der Vererbung an dem Ziel der Lebensbrauchbarkeit […] Für das große, die ganze Gruppe unserer abartigen und halbwertigen Jugend auf eine schmale Ebene zusammenzudrängen, sind heute die Grundvoraussetzungen in der Verhütung erbkranken und in der Förderung erbgesunden Nachwuchses sowie in der Schaffung gesunder sozialer Verhältnisse gegeben“ (a.a.O., S. 278 u. 281). Für die anlageschwachen und umweltgeschädigten Kinder und Jugendlichen fordert er die Schaffung „gute[r] Fürsorgeheime […] Notwendig ist, daß als Leiter und Erzieher an diesen Stätten endlich überall gute pädagogisch geschulte Kräfte (ohne konfessionell klösterlichen Einschlag) eingesetzt werden“ (a.a.O., S. 281).

Auch in seinem in „Die Scholle“ erschienen Beitrag mit dem Titel „Neue Jugendhilfe. Ein Beitrag zu einem neuen Sozialismus der Volksschule“, betont Mehringer, dass die Jugendfürsorge eine scharfe Scheidung „nach a) erbkrank, also hoffnungslos unerziehbar, und b) erbgesund, also erziehungswürdig“ (Mehringer 1938b, S. 91) vornimmt. Er hebt hervor, dass die heutige Jugendhilfe sich nicht um Erbkranke kümmert, zumal ihre „Vermehrung endlich bis aufs äußerste eingeschränkt […] ist“ (a.a.O., S. 92). Wenn in der Volksschule Kinder auffallen, handelt es sich hier meistens um „entwicklungsgehemmte Kinder“, also um Erbgesunde. Die Bildungs- und Erziehungseinrichtung ist meistens die erste Einrichtung, „welche die Gefährdung eines Kindes erkennen und aufgreifen kann. Sie muß sich um alle annehmen, so wie keine gute Mutter es sich nehmen läßt, auch für ihr schwaches Kind zu sorgen […] Und doch sondern sich gerade aus der Schularbeit Fälle heraus, die der Schulstube und vom Lehrer allein nicht in Ordnung gebracht werden können. Es sind die Fälle schwerer elterlicher Verantwortungslosigkeit oder erblicher Belastung. Meist wirken beide Faktoren zusammen. Aber auch diese Fälle können in ihrer Eigenart und vor allem in ihrer ganzen Gefährlichkeit in der Schule und vielleicht nur dort gesehen werden. Es ist daher eine soziale Pflicht, sie wenigstens nicht liegen zu lassen. Der Einwand klingt zwar berechtigt, der Lehrer könne schon aus Zeitmangel unmöglich von sich aus die notwendigen Maßnahmen einleiten und überdies verliefen die meisten Versuche deshalb im Sand, weil die verantwortlichen Stellen doch selten über eine papierene Fürsorge hinaus eine durchgreifende Hilfe zustande brächten. Aber diesem Pessimismus steht ja heute die nationalsozialistische Jugendhilfe entgegen, die überall da gründlich Ordnung schaffen will, wo irgend jemand schwere Kindernot erkannt hat“ (a.a.O., S. 96). Eindringlich fordert Mehringer von den Lehrerinnen und Lehrern, dass sie für die „Austrittsschüler“ eine „Bestandsaufnahme“ vornehmen, „für die Abnormen und Gefährdeten eine nachgehende Fürsorge einleiten und so verhindern, daß unreife, willensschwache und hemmungslose Jungen und Mädchen ohne eine sofort anschließende verständige Schutzaufsicht einfach dem Leben übergeben werden. Hierin müßte vor allem auch die HJ. zur Mitarbeit aufgerufen werden“ (a.a.O., S. 97).

Auch anderenorts ging Mehringer der Frage nach, inwieweit am Zustandekommen der Gefährdung und Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen die Erb- bzw. die Milieulage beteiligt ist. In diesem Fall wies er darauf hin, dass die nationalsozialistische Jugendhilfe ihre Aufmerksamkeit prinzipiell auf die erbgesunde deutsche Familie verwendet, zumal von der Betreuung Erbminderwertiger wenig Erfolg zu erwarten sei. Mehringer führt weiter aus, ohne jedoch die „Eliminierung“ der Erbminderwertigkeit zu konkretisieren:

„Das Erbminderwertige kann nicht geheilt, sondern es muß beseitigt werden, indem es daran gehindert wird, sich weiter fortzupflanzen. Diese allmähliche Beseitigung der Erbminderwertigkeit überläßt die Jugendhilfe der staatlichen Erbgesetzgebung“ (Mehringer 1939c, S. 135).

Durch die Anwendung der staatlichen Erbgesetzgebung, bekundet er, sei der NSV-Jugendhilfe ein wesentlicher Vorteil beschieden. Ihre Arbeit „ist nicht belastet mit Fällen, die von vornherein als erfolglos bezeichnet werden müssen“ (Mehringer 1939c, S. 136).

3.2 Die Jahre nach 1945

3.2.1 Die Chance der Ruine

Auf der Suche nach neuen Aufgaben traf Mehringer im Mai 1945 in München Elisabeth Bamberger, die Leiterin des städtischen Jugendamtes, die ihm die vakante Direktorenstelle des wiederaufzubauenden traditionsreichen städtischen Waisenhauses anbot. Der vorhergehende Leiter der Fürsorgeeinrichtung wurde wegen seiner NS-Vergangenheit auf Veranlassung der US-Militärbehörde seines Amtes enthoben. Die Heimzöglinge waren zum geringsten Teil Waisenkinder im landläufigen Sinne; „die meisten waren sogenannte Fürsorgefälle wie uneheliche Kinder, Ehescheidungswaisen und vor allem Flüchtlingskinder“ (Baumann 1999, S. 169). In einer Denkschrift für den Münchener Stadtrat schrieb Mehringer über die „Chance der Ruine“ (Mehringer 1976, S. 32):

„In einer Zeit, in der besonders viele Kinder in Not sind und Hilfe brauchen, hat der Krieg von unserem großen Waisenhaus der Stadt München nur eine Ruine übriggelassen. So schwer der Verlust dieses Hauses auch ist, die Ruine gibt uns die Chance eines Neubaus und damit einer beispielgebenden Überwindung der alten Anstalt. Die alte Waisenanstalt stellt die rückständigste aller pädagogischen Formen dar – in ihrer Ähnlichkeit mit der Kaserne. Auch wenn in anderen Städten und von freien Verbänden jetzt nach dem Krieg da und dort im alten Stil wiederaufgebaut wird: die Landeshauptstadt sollte den Ehrgeiz und den Mut haben, in der Versorgung familienloser Kinder jetzt einen Schritt nach vorn zu tun, nicht neu alt bauen, nicht zu restaurieren, sondern wirklich neu zu bauen“ (Mehringer 1976, S. 37).

Und es wurde neu gebaut, ebenso ein neues Erziehungssystem eingeführt. Der neue Heimleiter forderte „Heimfamilie statt Altersgruppen“ (Mehringer 1950, S. 140). Ausgehend von Pestalozzis Devise, auch dem familienlosen Kind das „Heiligtum der Wohnstube“ (Mehringer 1949, S. 20) zu schaffen, startete er – und mit ihm einige andere – eine Kampagne für die Umstrukturierung der Heime. „Ein Irrtum wäre es“, konstatierte Mehringer über die nötige Heimreform, „zu glauben, man könne dem familienlosen Kind doch nicht geben, was es braucht, und der grundsätzliche Unterschied zwischen Familie und Anstalt müsse bleiben. Sicher ist: Die natürliche Mutter läßt sich nicht nachschaffen. Aber sie läßt sich unter günstigen Bedingungen so weit ersetzen, daß die Sehnsucht des kleinen Kindes nach Geborgenheit im Zustand eines persönlichen Geliebtwerdens im wesentlichen erfüllt wird, daß das Kind in diesem sicheren, besitzfrohen Grundgefühl normal und gerade aufwachsen kann […] Die Gruppe muß klein sein: […] Äußerster Maßstab für die Zahl der Kinder in einer Gruppe muß die sehr kinderreiche Familie sein […] Soll das Kind in dieser Gruppe ein wirkliches Zuhause haben, dann darf man es nicht wieder von Gruppe zu Gruppe (oder in ein anderes Heim) versetzen. Dazu ist notwendig, daß diese Gruppe die Möglichkeit hat, die Kinder zu mischen, altersmäßig und, soweit pädagogisch im Einzelfall irgend tragbar, auch mit Knaben und Mädchen […] Die Hereinnahme von vorschulpflichtigen Kindern bereichert das Gemeinschaftsleben in besonderer Weise. Sie gibt der Pflegemutter das Kind früh genug, im Stadium größter Bildsamkeit, in die Hand“ (Mehringer 1950, S. 140 f.).

Auch reformierte der Heimleiter die seinerzeit vorherrschenden Erziehungsmethoden: Statt der Fortführung bisheriger autoritärer Erziehungseinstellungen, statt Kasernierung der Kinder, stählerner Strafpraxis, Anpassung und Gehorsam, standen nun der partnerschaftliche erzieherische Umgang, das erzieherische Gespräch, Lob und Ermutigung im Vordergrund (Zahner 2006, S. 350). Sollte das „erzieherische Gespräch“ nicht genügen, so finden, wie Mehringer in einem Bericht vom 13. Juni 1948 an die Regierung von Oberbayern schrieb, folgende – nicht gerade reformpädagogisch klingende – Erziehungsmittel Anwendung:

„Unbeachtet lassen. Beiseitestellen (äusserer Liebesentzug für kurze Zeit), Ausschluss von einer schöneren Stunde (Spaziergang, Ausflug, Theater), Nachsitzen und Nacharbeiten […] Wiedergutmachung eines angerichteten Schadens, Strafaufsatz zur Besinnung […] In einigen schweren Fällen […] hat der Direktor auch schon das letzte Mittel, eine Tracht Prügel angewendet […] Ist Strafe aber doch einmal notwendig, so gilt für uns das Pestalozziwort: ‚[…] aber Vater- und Mutterstrafen müssen es sein!‘“ (Zahner 2006, S. 350).

Im Jahr 1952 kam es zum Eklat: Die „Englischen Fräulein“ kündigten zum 31. März d. J. ihren Vertrag mit der Stadt München, da sie den neuen Reformkurs nicht annehmen konnten und auch nicht wollten. Familiengruppen mit Jungen und Mädchen unterschiedlichen Alters war für die Klosterfrauen nicht tolerierbar. Insbesondere die religiöse Erziehung war ein strittiger Punkt „zwischen der weltlichen, männlichen Heimleitung und dem Orden der Englischen Fräulein. Eine katholische Kirchenzeitung sprach davon, ‚daß ein Bollwerk der christlichen Erziehung fallen soll‘, um gegen die Verweltlichung des Waisenhauses zu polemisieren […] Noch 1950 wurden zu einem Treffen von ehemaligen Zöglingen […] die Frauen ganz traditionsgemäß eine Woche vor den Männern eingeladen, damit die erwachsenen Leute nicht etwa ‚unkeusch‘ mit dem anderen Geschlecht in Kontakt kommen konnten“ (Baumann 1999, S. 183 f.). Letztlich erfolgte der Weggang der letzten drei Ordensfrauen ohne größere Schwierigkeiten.

Fotoreportage zum neu aufgebauten „Waisenhaus“, datiert 1957
Abbildung 4: Fotoreportage zum neu aufgebauten „Waisenhaus“, datiert 1957 (Ida-Seele-Archiv)

Unter Mehringers Ägide wuchs das „Waisenhaus“ zu einer stattlichen Institution heran, die zum Vorbild für ähnliche Einrichtungen im deutschsprachigen Raum wurde. Die kleine Familiengruppe im Heim, unter der Obhut einer mit „natürlich ausgestatteter Erziehungsfähigkeit“ stehenden unverheirateten Frau, war kein interessantes Experiment mehr, sondern wurde Realität. Das Münchener Waisenhaus avancierte zum Vorbild ähnlicher Einrichtungen, bspw. für das Kinderheim St. Ursula in Rheinau.

Zeitungsbericht im „Mannheimer Morgen“ vom 2. Sept. 1954
Abbildung 5: Zeitungsbericht im „Mannheimer Morgen“ vom 2. Sept. 1954 (Ida-Seele-Archiv)

Der Sonderpädagoge Otto Speck, der ab 1947 zum Mitarbeiterstab des Waisenhauses gehörte und dort ab 1951 bis 1962 eine „Förderklasse für erziehungsschwierige Kinder“ leitete, lobte das neue Münchener Heimmodell wie folgt:

„Wahrhaft lebendige, befreiende und zugleich bergende Pädagogik wurde hier praktiziert, die auch die entsprechend engagierten Mitarbeiter anzog und in einer stets neu motivierenden Hausgemeinschaft zusammenwachsen ließ. Das Musische wurde zum zentralen erzieherischen Gehalt und Instrument. Ganz groß geschrieben wurden das Malen, das Spielen, das Musizieren, das Wandern, kurzum das Kreative, das Frohmachende, all dies aber auf der Basis verläßlicher Beziehungen und bedingungslosen Annehmens der vielfach ‚zum Leben verurteilten‘ Kinder“ (Speck 1981, S. 97 f.).

In den späten 1960er-Jahren geriet die beschriebene „Waisenhausidylle“ jedoch im Zuge der sog. Heimkampagne „unter die Räder“ (Mehringer 1987, S. 3).

Der „Waisenhausvater“ verabschiedete sich 1969 in den vorzeitigen Ruhestand.

3.2.2 Niemandskinder

Da der typische Lebenslauf von Heimkindern in Säuglings- und Kleinkinderheimen seinen Anfang nahm, kämpfte Mehringer, neben seinem Engagement für das Münchener „Waisenhaus“, für eine Veränderung und Verbesserung der Lebenssituation heimatloser Säuglinge und Kleinkinder, den sog. „Niemandskindern“ (Mehringer 1972, S. 1). Diesbezüglich visitierte er in den 1950er- und 1960er-Jahren eine beachtliche Anzahl von Säuglings- und Kleinkinderheimen. Er war betroffen von dem dort angetroffenen „Erscheinungsbild des sogenannten ‚Hospitalismus‘“ (a.a.O., S. 4). Da steht beispielsweise ein Kind „an der Wand, dort eines in der Ecke, das nicht schreit und rennt; es hat sich ganz zu sich selbst zurückgezogen, bewegt Kopf und Oberkörper hin und her, wippt ohne Unterbrechung von einem Bein auf das andere; eine Art Selbstbefriedigung. Beschäftigung mit sich selbst, weil man sich daran gewöhnen muß, ganz ohne Du zu leben; ein Tick, den diese Kinder […] oft jahrelang beibehalten“ (Mehringer 1982. S. 139). Kein Wunder, dass die Kinder seelisch verkümmerten:

„Da waren die ganz jungen Säuglinge, Bett an Bett in großen Sälen wie in alten Krankenhäusern, in denen man es als Erwachsener kaum länger aushält als ein paar Wochen. Bei ihnen sind die Mängel nicht sofort zu erkennen. Hygienisch ist da nichts, aber auch gar nichts einzuwenden. Sie werden regelmäßig gefüttert, gebadet und ins Bett gelegt. Erst wenn man länger verweilt und zuschaut und vergleicht, wird man die Verlassenheit schon dieser ganz Kleinen gewahr. Um mit dem Füttern der Vielen zeitlich zurechtzukommen, werden die Flaschen oft schräg auf Bett gelegt: das kleine Wesen muß selbst damit zurechtkommen, sein Saugreflex als mitgegebener Urtrieb scheint ihm da zu helfen. Aber es fehlt dabei der Blickkontakt zu dem Menschen, der es füttert, ihm dabei zulacht. Noch grausamer fand ich immer wieder dieses Bild: Die Schwester, hat ein Kleines mit raschen Handgriff zwischen die Knie gezwängt, das Gesichtchen nach vorne abgewandt, und stopft ihm in Routinetempo die Nahrung in den Mund […] Oft sah ich auch das Fließbandsystem: das Kind wurde von Tisch zu Tisch weitergereicht, zum Baden, Pudern, Wiegen, wie das ‚Paket‘ am dritten oder vierten Tisch fertig war, um ins Bett gelegt zu werden. Niemand hatte Zeit, mit ihm noch zärtliche Zwiesprache zu halten, zu scherzen, ihm das erste Lachen zu entlocken, ein Vorgang, den sich keine Mutter entgehen lässt“ (Mehringer 1972, S. 4 f.).

Um den kleinen wehrlosen „Niemandskindern“ „rechtzeitig Lebenshilfe“ (Rädlinger 2014, S. 62) zu verschaffen, kamen für Mehringer drei Möglichkeiten infrage:

  1. Die eigene Mutter für ihr Kind (wieder) zu gewinnen.
  2. Sie in guten Pflege- oder Adoptivfamilien unterzubringen.
  3. Die „Niemandskinder“ in einem Heim, das nach dem Familienprinzip strukturiert ist, zu integrieren.

Wohlüberlegt erwähnte Mehringer bei seinen Überlegungen zuletzt das Heim. Dieses sah er nur dann relevant als relevant an, wenn voranstehende Maßnahmen nicht fruchteten (Mehringer 1972, S. 19). Die vom „Waisenhaus“ aufgenommen Säuglinge und Kleinkinder sind, wie Mehringer konstatiert, „rasch aufgelebt, lernte[n] stehen, laufen, lachen, durfte[n] frech werden. Die größeren Kinder halfen immer gern dabei mit. Bei vielen Kindern mußten wir aber erleben: die Schäden waren nicht mehr ganz aufzuholen“ (Mehringer 1982, S. 140).

3.2.3 Eine kleine Heilpädagogik

„Eine kleine Heilpädagogik. Vom Umgang mit ‚schwierigen‘ Kindern“ ist wohl Mehringers bekannteste und erfolgreichste Publikation, die bis heute in 13 Auflagen erschienen ist (Mehringer 2013). Hierbei handelt es sich um einen praktischen Ratgeber, insbesondere für die im Heim tätigen „Laienheilpädagogen“, die tagtäglich mit Kindern, die „einen erhöhten erzieherischen Zuwendungsbedarf haben“ (Rumpf 1999, S. 472), konfrontiert werden. Ausgehend von seinen langjährigen Heimerfahrungen entwarf Mehringer sieben Regeln, die als Handlungs-, Hinterfragungsempfehlungen zu verstehen sind, die „als System betrachtet werden müssen, daß sie sich also gegenseitig beeinflussen und wechselseitig durchdringen“ (a.a.O., S. 474).

Regel 1: Das Kind in seiner Eigenart wahrnehmen und es akzeptieren

Ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen sei überhaupt, dass er in „‚seiner Anderheit‘ (M. Buber)“ (Mehringer 1976, S. 88) wahr- und angenommen und nicht übersehen wird. Das Kind mit erhöhtem erzieherischen Zuwendungsbedarf „wurde bisher nicht oder viel zuwenig wahrgenommen. Seine Krankheit heißt daher: Ich-Armut“ (ebd.). Der Nachholbedarf an besonderer Zuwendung – sprich Wahrnehmung – sollte bedingungslos durch die Erziehenden erfolgen, denn ein „ungeborgenes Kind kann man nicht erziehen, man muß es zuerst bergen; versuchen, es nachzubergen, seien sie groß oder klein“ (ebd.). Das Kind müsse erfahren, da „ist jemand, dem bin ich nicht gleichgültig. Etwas von der ursprünglichen Funktion der guten Mutter wird Wirklichkeit; etwas von dem religiösen Grundgesetz der ‚gratia praevenies‘, d.h.: ich werde zuerst geliebt“ (ebd.).

Sonderdruck der Zeitschrift „Unsere Jugend“
Abbildung 6: Sonderdruck der Zeitschrift „Unsere Jugend“ (1975) (Ida-Seele-Archiv)

Regel 2: Ausverwahrlosen lassen

Das schwierige Kind habe sich seine Verwahrlosungssymptome als Überlebenschance zugelegt. Es zeige uns durch sein Verhalten, dass es Hilfe brauche, um seine Symptome „loszulassen“. Beispielsweise: In vielen Fällen „kauft sich das verwahrloste Kind mit dem gestohlenen Geld, immer wieder Süßigkeiten. Was es entbehrt, ist im Grunde eine ganz andere Süßigkeit. Und dann noch dies: es verschenkt gestohlenes Geld oder von dem Geld gekauftes Naschwerk. Das Kind wirbt um Zärtlichkeit, es bleibt ihm nichts anderes übrig, als es auf diese Weise zu tun“ (Mehringer 1976, S. 90). Sein auffallendes Verhalten könne sich nicht „von heute auf morgen ‚bessern‘“ (a.a.O., S. 89). Der junge Mensch brauche Zeit, um seine Überlebensstrategie aufzugeben; „um einzusehen, daß er es einmal nicht mehr nötig hat, auf negative Weise seine Umgebung in Aufregung zu versetzen und sich damit Beachtung zu verschaffen“ (ebd.). Ihm müsse „eine andere Erfahrung zuteil [werden]“ (ebd.). An den erzieherisch Verantwortlichen liege es, dem Kind die andere, also die „neue Erfahrung zuteil werden zu lassen“ (ebd.). Als pädagogisches Gesetz gälte, zuerst Vertrauen geben, um damit Vertrauen zu erzeugen. Es müsse, so Mehringer, selbstverständlich sein, dass die verantwortlichen Pädagogen an den „Fehlern vorbeisehen“ (a.a.O., S. 93), diese akzeptieren und somit von Strafen absehen, die sowieso „keinen Zweck [haben]“ (a.a.O.., S. 89). Das Kind soll sozusagen „abgeholt“ werden, „man muß es dort abholen, wo es sich befindet. Wenn es nicht abgeholt wird, bleibt es in seiner Sackgasse stecken“ (ebd.).

Regel 3: Dafür sorgen, dass das Kind auch in seiner Gruppe und in seiner weiteren Umwelt angenommen wird

Kinder wollen im Kreis Gleichaltriger sein und von ihrer Gruppe anerkannt und angenommen werden. Besonders „sozial geschädigte Kinder“ seien im Umgang miteinander alles andere als konziliant; „oft hart und grausam“ (Mehringer 1976, S. 91). Da sie in ihrem bisherigen Leben selbst zu kurz gekommen seien, suchen sie bei ihrem Gegenüber „die verwundbarste Stelle – und finden sie, um selbst ein wenig Prestigegewinn zu erzielen. Worte, Beschimpfungen, Demütigungen – ‚du Hilfsschüler‘, ‚du Bettnässer‘ – wirken dann oft noch schlimmer als Schläge, sie können ‚töten‘“ (ebd.). Hier müsse nach Mehringer das „Erlebnis des Geschütztwerdens für beide Seiten“ zur Geltung kommen, „für den Schutzbedürftigen und für den Angreifer“ (ebd.). Das Fehlen von Schutz seitens der erzieherisch Verantwortlichen bewirke folgenden Lernprozess: „beim unterdrückten Teil die Erfahrung des Nichtgeschütztwerdens, das Gefühl des ohnmächtigen Ausgeliefertseins an den Stärkeren – und auf der Seite des Unterdrückers das Erlebnis gelungener Machtausübung“ (ebd.). Mehringer räumt ein, das eine Anleitung dazu, wie das Geschütztwerden eines schutzbedürftigen Kindes konkret „gemacht wird, nicht zu erstellen […] ist“ (ebd.). Er schlägt als eine Möglichkeit die „offene Aussprache mit der Gruppe“ (a.a.O., S. 92) vor. Wenn nötig, seien auch Gruppengespräche „in Abwesenheit des Außenseiters“ (ebd.) angebracht. Der Gruppenleiter, der die Kräfte der Gruppe durch vorsichtige Steuerung der Gruppendynamik zu mobilisieren wisse, habe die negativen Äußerungen der Kinder ernst zu nehmen. Er habe Nachsicht und Verständnis für den Außenseiter zu wecken: „Wie soll es denn mit ihm weitergehen? Ob wir ihm nicht doch noch eine Chance geben sollen, einmal alles Vergangene zu vergessen und noch einmal von vorn mit ihm beginnen wollen?“ (ebd.). Schließlich werde der Außenseiter selbst in die Gespräche einbezogen; „er spürt seinerseits die Verpflichtung, auch selbst einen Beitrag zu leisten; nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben – ein gruppenpädagogischer Vorgang im besten Sinne des Wortes“ (ebd.).

Regel 4: Die bestmögliche Lebensperspektive des Kindes suchen

Nach Mehringer werde es wohl kaum ein Heimkind geben, das sich nicht nach einem eigenen „richtigen“ Zuhause sehnt. Demzufolge bleibe immer die eine Frage bestehen: „führt ein Weg zurück? Zu den Eltern, zu einem Elternteil, zu anderen Verwandten“ (Mehringer 1976, S. 94). Und wenn nicht, müsse geklärt werden, welche Alternativen es gibt: Adoption? Familienpflege? Sollte ein Kind im Heim bleiben, müsse ihm in sein Schicksal hineingeholfen werden, müsse ihm geholfen werden, dass es seine Lebenslage selbst begreift, wie das Vergangene, das Gegenwärtige und wie „das Mögliche in der Zukunft“. Es gehöre „untrennbar zum heilpädagogischen Umgang mit diesen Kindern: mit ihnen zusammen ihre Situation klären; wichtige Bindungen unter allen Umständen pflegen; dem Kind helfen, daß es seine Situation auch selbst begreift; es vor unechten Versprechungen und Hoffnungen schützen; es auch nach aller Möglichkeit schützen vor nicht nur nutzlosen, sondern schädlichen und gefährlichen ‚Heimholungen‘ und Versetzungen“ (a.a.O., S. 95).

Regel 5: Keine Heilpädagogik ohne den musisch-künstlerischen Bereich.

Ein wichtiges Grundprinzip der Erziehung sei es nach Mehringer, bei den Stärken des Kindes anzusetzen. Jeder Junge und jedes Mädchen im Heim, egal wie „sozial geschädigt“, sei in irgendeinem Bereich talentiert. Sei es im künstlerisch-ästhetischen Gestalten, im Werken, Zeichnen und Malen, Musik, Theaterspielen, Puppenspielen, Tanzen, Sport, Gymnastik etc. Gerade Kinder mit einem erhöhten erzieherischen Zuwendungsbedarf, haben ihre Intelligenz „in der Hand“. Sie seien manuell geschickt, künstlerisch begabt „und auch betätigungsfreudig“ (Mehringer 1976, S. 97). Und eben da sei heilpädagogisch anzusetzen, um die Kinder auf der Suche nach den Möglichkeiten von Erfolgserlebnissen zu unterstützen. Dies erfordere von den „Laienheilpädagogen“ genaues Hinsehen, Hinhören und „Hinfühlen“, um die spezifischen Fähigkeiten und Ausdrucksformen des jungen Menschen herauszufinden. An mehreren Beispielen aus seiner Heimpraxis zeigt Mehringer die „heilpädagogische Tiefenwirkung“ auf, die von bestimmten musisch-künstlerischen Betätigungsbereichen ausgehen könne, beispielsweise vom Theater-, Stegreif-, Familie-, Schule-Spielen, dem spontanen Spielen einer gelesenen Geschichte oder erlebten Situation. Hierbei komme etliches „von den Affekten, Aggressionen, unerfüllten Sehnsüchten, kurz: etwas von dem ganzen Innenleben des jungen Menschen zum Vorschein, wiederum mit diagnostischer und zugleich therapeutischer Bedeutung“ (a.a.O., 98).

Regel 6: Keine Heilpädagogik ohne religiöse Bildung

Es gehe bei dieser Regel nicht um Gott – der in der alten Anstaltserziehung oft genug „als Hilfsmittel für einen lediglich Gehorsam heischenden und Angst machenden Umgang mit den Kindern mißbraucht“ (Mehringer 1976, S. 101) wurde –, nicht um religiöse Rituale, Lieder, Gebete oder Texte aus der Bibel. Mehringer geht es vielmehr um die philosophische Frage „Was ist der Mensch?“ (a.a.O., S. 102). Ist er „gesund aufgewachsen“? Wurde er instandgesetzt, „sein unsicheres Leben zu akzeptieren zu leben“? (ebd.). Da das „sozial geschädigte Kind“ nicht „gesund aufgewachsen“ sei, fehle es ihm an „Urvertrauen“. Dieses gälte es in seiner Werttiefe nachträglich erfahren zu dürfen. Dazu schreibt der erfahrene Heimpädagoge:

„Das Kind erfährt verläßliche Zugehörigkeit. Der ‚Erzieher‘ – oder wie er immer heißen mag – steht ihm mit seiner ganzen Person zur Verfügung. Aber da spürt er einmal: das Heil-werden des Kindes habe ich nicht ganz in der Hand. Einiges liegt nicht in meiner Macht, es liegt im Bereich der Gnade. Und auch dies weiß er: Ich bin selbst genauso gefährdet, da ist im Grunde kein Unterschied; wir sind gleich; letzte Geborgenheit können wir uns gegenseitig gar nicht geben; wir sind beide in unserem Suchen und Sehnen hinausverwiesen in eine andere Dimension, von der wir ahnen, daß es sie gibt, auch wenn wir – als raum- und zeitgebundene Wesen – sie nicht konkret fassen können; in die ‚andere Geborgenheit‘. – Was zu solchen Zeiten ausgesprochen oder nur miteinander geschwiegen wird, was und wieviel man da einander erzählt und bekennt, ob da gebetet wird oder nicht, oder ob man einen Vers von D. Bonhoeffers oder Bergengruens zu Hilfe nimmt, das ist alles sekundär“ (Mehringer 1976, S. 103).

Regel 7: Unter den heilpädagogischen Faktoren auch sich selbst bedenken

Diese Regel im System der Kleinen Heilpädagogik betrifft die erzieherisch Verantwortlichen im Heim selbst: 1. um Selbstkontrolle und 2. um Selbsterhaltung. Zu 1): Wissen die Erziehenden von den sich im Erziehungsgeschehen unbewusst abspielenden Vorgängen der Übertragung und Gegenübertragung sowie „ihren möglichen positiven und negativen Verläufen?“ (Mehringer 1976, S. 104). Wenn ja, nehmen sie kindliche Auffälligkeiten und „Bösartigkeiten“ nicht persönlich. Das tiefenpsychologische Phänomen der Übertragung „besteht im Kern in der Frage: Wie, als wen, als was sieht mich das Kind? Bei der Gegenübertragung heißt die Frage dann: Was bedeutet für mich dieses Kind? Übertragen werden frühere Erfahrungen, vor allem frühkindliche Objektbeziehungen. Bei Heimkindern sind diese oft total negativ, daß eine Beziehungsfähigkeit überhaupt nicht entwickelt wurde, also nicht vorhanden ist; oder eine vorhandene wurde bereits zerstört“ (a.a.O., S. 105). Folglich müsse das Heimkind diese Nacherfahrung oder seine schlechten Erfahrungen an einem Ersatzobjekt, nämlich an dem im Heim erzieherisch Verantwortlichen emendieren. Zu 2): „Wie hält man diese Arbeit überhaupt durch?“ (a.a.O., S. 104). In Beantwortung dieser Frage seien die äußeren Arbeitsbedingungen zu reflektieren, wie Arbeitszeit, Bezahlung, Gruppengröße. Doch viel bedeutsamer seien die „inneren, nur teilweise organisierbaren Bedingungen […]: die Atmosphäre, die ‚Luft‘, die Gemeinschaft der Menschen in einem solchen Haus; sehr konkret für den einzelnen: das Selbständig-arbeiten-dürfen und das Nicht-allein-gelassen-werden. Das Bemühen und Ringen um diese Kinder ist auf Dauer nicht auszuhalten, wenn man nur auf sich selbst gestellt ist. Man braucht jemanden, zu dem man kommen kann; nicht um sofort ein Rezept für den weiteren Weg zu bekommen, sondern um jemand zu sprechen, um abzuladen und mit ihm zu beraten“ (a.a.O., S. 108).

4 Kritik und Würdigung

Ohne Zweifel: Andreas Mehringer „setzte Zeichen in der Heimpädagogik“ (Baumann 1999, S. 205). Doch ab Ende der 1980er-Jahre und verstärkt nach seinem Tod geriet „der ‚Große‘ der deutschen Heim- und Heilpädagogik“ (Schrapper 2005, S. 385) immer mehr ins Kreuzfeuer der Kritik. Dabei ging es zuerst um die Frage: Inwieweit war er von den Ideen der NS-Ideologie überzeugt? Diese Frage lässt sich heute von einem Außenstehenden nur schwer beurteilen, zumal Mehringer sich nie dezidiert zu seiner Tätigkeit während der Nazi-Diktatur geäußert hat. Es war wohl eine Mischung aus inhaltlicher Zustimmung, aufgenötigter Anpassung und opportunistischer Selbstinszenierung. Wie eine Anfrage beim Bundesarchiv Berlin (und anderer infrage kommender Archive) ergab, war Mehringer nicht NSDAP-Mitglied, jedoch seit 1. Juli 1934 Mitglied (Nr. 305 258) im „Nationalsozialistischen Lehrerbund“ (Bundesarchiv Berlin, BArch Signatur BArch [Slg. BDC] NSLB). Interessant für die historische Einordnung ist, dass ein junger Lehrer, der bei der NSV-Jugendhilfe „nur mitmachte“, immerhin in zwei so exponierten Zeitschriften wie „Die Scholle“ und die „Deutsche Jugendhilfe“ publizieren konnte. Da stellt sich die Frage: „Welche Verbindungen und Bekanntschaften haben dies ermöglicht?“ (Schrapper 2005, S. 87). Für Carola Kuhlmann ist Mehringer durch seine Mitarbeit bei der „NSV-Jugendhilfe“ und Befürworter der Eugenik „für Auschwitz [mit] verantwortlich zu machen“ (Kuhlmann 1989, S. 253), wie auch viele andere, bspw. Hans Eyferth, Hildegard Hetzer, Gustav von Mann, Hermann Stutte, Heinrich Webler oder Werner Villinger, „die allesamt in der nachkriegsdeutschen Jugendhilfe einen guten Klang hatten und haben“ (Schrapper 1990, S. 425; Berger 2023, S. 33).

Forschungen über das Münchener Waisenhaus und seinen ehemaligen Leiter ergaben, dass noch nach dem Zusammenbruch der Nazi-Diktatur bei Mehringer Anklänge an nationalsozialistisches Gedankengut zu finden sind. Sein „rassen-ideologische[r] Wortschatz war nur ein Symptom von unbewältigter Vergangenheit“, ist bei Baumann (1999, S. 171) nachzulesen. Zum Beispiel: In einem Erziehungsbericht über das Kind eines Afroamerikaners steht: „Die Rückstände vom Säuglingsheim, hat er erstaunlicherweise gut aufgeholt. Der Bub neigt heute etwas zum wilden Draufgänger. Die weitere Entwicklung bleibt bei der rassemäßigen Besonderheit des Kindes abzuwarten“ (Rädlinger 2014, S. 68).

Nach 1945 schwenkte der Pestalozziverehrer auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung über. Er setzte sich in Praxis und Theorie für eine Reform der traditionellen Anstaltserziehung ein und forderte u.a. das Zusammenleben von Jungen und Mädchen verschiedenen Alters in Familiengruppen. Zudem setzte er sich für die Auflösung der Säuglings- und Kleinkinderheime ein und schloss „sich damit den aktuellen Hospitalismusdiskussionen der Zeit an“ (Almstedt und Munkwitz 1982, S. 19). Durch seine zahlreichen Veröffentlichungen galt Mehringer „als der Kenner in allen Fragen der Heimerziehung“ (Rädlinger 2014, S. 61). Mit seinem Namen ist bis auf dem heutigen Tag die Einführung des Familienprinzips in der Heimerziehung untrennbar verbunden, dabei vergessend, dass bspw. schon die Diakonisse Eva von Tiele-Winckler 1910 auf dem Wartberg bei Breslau in ihrer „Kinderheimat“, einer „Heimat für Heimatlose“ (Berger 1998, S. 589 f.) oder auch Hermann Gmeiner in den von ihm gegründeten ersten SOS Kinderdorf (Lehmann 1998, S. 203 f.) das Familienprinzip einführten.

Aber die Heimrealität war für manches ehemalige Waisenhauskind nicht nur „rosig“, wie sie Mehringer in seinen Veröffentlichungen darstellt. Schon seit mehreren Jahren stehen schwere Vorwürfe im Raum. Demnach wurde keine „wahrhaft lebendige, befreiende und zugleich bergende Pädagogik“ praktiziert. Ehemalige beschuldigen den „Waisenhausvater“ schwerer psychischer und physischer Züchtigungen, sowie Misshandlungen unterschiedlichster Arten, die er einerseits zugelassen und andererseits unterstützt zu haben scheint (Berger 2023, S. 31 ff.; Rädlinger 2014, S. 55 ff.; Walter 2012). Die Historikerin (vor allem der Münchener Stadtgeschichte) Rädlinger vermerkt, dass bei schweren Vergehen die Erzieherin, die von den Kindern mit „Mutti“ angesprochen werden musste, die zu bestrafenden Kinder „gewöhnlich zum ‚Waisenhausvater‘ [schickte]. Von Mehringer berichteten Ehemalige, dass die Ohrfeigen, die er sozusagen als Vaterersatz, als höchste Instanz austeilte, mit äußerster Kraft ausgeführt wurden und sehr schmerzhaft waren. Er schlug auch mit dem Schlüsselbund zu, falls ihm beim Essen in der Gruppe die Antwort auf eine Wissensfrage nicht gefiel. Das Schlagen geschah in keinem Fall spontan, sondern überlegt, nach einer längeren Pause und jedes Kind wusste, was jetzt bald folgen würde. Gerade diese Zeit des Wartens war für die Geschlagenen besonders schlimm. Bei einigen Kindern – davon berichten nur Jungen – verlor der Heimleiter […] jedes Maß. Die Ehemaligen berichten von einer Zeremonie, die aus der Erziehungspraxis des 19. Jahrhunderts bekannt ist: Er ging mit dem ‚Übeltäter‘ zu einem Haselbusch im Park, schnitt sich dort im Beisein des Jungen einen Stock ab und kehrte in sein Zimmer zurück, wo er mit dem Stock meist auf den Rücken des Jungen oder auch auf das nackte Gesäß einschlug. In einigen Fällen, so wird berichtet, sei anschließend der Rücken des Jungen völlig mit Striemen übersät gewesen. Diese schweren Misshandlungen, aber auch die ungerechte Behandlung durch den ‚Waisenhausvater‘, vor der die Betroffenen nie sicher sein konnten, belasten diese immer noch sehr und stellten für ihr Leben nach dem Heim eine schwere Hypothek dar“ (Rädlinger 2014, S. 93 ff.). Diese Vorwürfe widersprechen Mehringers Veröffentlichungen, in denen er vehement jede Art von körperlicher Züchtigung und Strafe als Erziehungsmittel ablehnte. Bereits 1940 verkündete er: „Weg mit der körperlichen Züchtigung […] Also weg mit dem Stock!“ (Mehringer 1940a, S. 163).

Ungeachtet der damals noch nicht bekannten Kritikpunkte wurde Mehringer 1972 zum Ehrenmitglied der „Internationalen Gesellschaft für Heimerziehung“ ernannt. Am 15. Juli 1978 wurde ihm für sein sozialpädagogisches Lebenswerk der erste „Janusz-Korczak Preis“ von der „Deutschen Korczak-Gesellschaft“ verliehen. Damit wurde, wie kein geringerer als Otto Speck schrieb, „ein deutscher Sozialpädagoge geehrt, der nach dem Krieg ‚Das Recht des Kindes auf Achtung‘ mit einer beispielhaften Entschiedenheit vertreten hat“ (Speck 1981, S. 98). Ehrungen, die heute, nach dem wir von Mehringers Vergangenheit wissen, so nicht mehr glaubwürdig erscheinen.

Andreas Mehringer, datiert 1998
Abbildung 7: Andreas Mehringer, datiert 1998 (Ida-Seele-Archiv)

5 Quellenangaben

Almstedt, Matthias und Barbara Munkwitz, 1982. Ortsbestimmung der Heimerziehung: Geschichte, Bestandsaufnahme: Entwicklungstendenzen. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-55611-0

Babic, Bernhard, 2008. Alles nur Unkenntnis und Naivität? Von mitunter immer noch fragwürdigen Umgang mit der NS-Vergangenheit. In: FORUM Jugendhilfe. 56(1), S. 69–75. ISSN 0171-7669

Baumann, Günther, 1999. Das Müchner Waisenhaus: Chronik 1899–1999. München: Buchendorfer. ISBN 978-3-934036-04-8

Berger, Manfred, 1998. Thiele-Winckler, Eva Valeska von. In: Hugo Maier, Hrsg. Who is who der Sozialen Arbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus, S. 589–590. ISBN 978-3-7841-1036-3

Berger, Manfred, 2023. Andreas Mehringer (1911–2004). Eine große (widersprüchliche) „sozialpädagogische Gestalt des 20. Jahrhunderts“. In: Blätter der Wohlfahrtspflege. 170(1), S. 31–33. ISSN 0340-8574

Kuhlmann, Carola, 1989. Erbkrank oder erziehbar? Jugendhilfe zwischen Zuwendung und Vernichtung: Fürsorgeerziehung in Westfalen 1933–1945. Weinheim.: Juventa. ISBN 978-3-7799-0782-4

Lehmann, Karl-Heinz, 1998. Gmeiner, Hermann. In: Hugo Maier, Hrsg. Who is who der Sozialen Arbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus, S. 203–204. ISBN 978-3-7841-1036-3

Mehringer, Andreas, 1936. Pestalozzi als Fürsorgepädagoge: Ein Beitrag zur Geschichte der Fürsorgeerziehung [Dissertation]. München

Mehringer, Andreas, 1938a. Abartige Kindheit und Jugend. In: Deutsche Jugendhilfe. 30(8), S. 277–287

Mehringer, Andreas, 1938b. Neue Jugendhilfe. Ein Beitrag zu einem neuen Sozialismus der Volksschule. In: Die Scholle. 15(11), S. 90–97

Mehringer, Andreas, 1939a. Disziplin. In: Die Scholle. 16(2), S. 35–40

Mehringer, Andreas, 1939b. Rechtschreiberziehung im 8. Schuljahr. In: Die Scholle. 16(5), S. 478–484

Mehringer, Andreas, 1939c. Gewinnung und Anleitung von Mitarbeitern in der NSV-Jugendhilfe. In: Deutsche Jugendhilfe. 32(4/5), S. 129–144

Mehringer, Andreas, 1940a. Die Strafe in der Schulerziehung. In: Die Scholle. 17(2), S. 155–165

Mehringer, Andreas, 1940b. Die Erziehungsaufgabe der Schule im Krieg. In: Die Scholle. 17(6), S. 311–316

Mehringer, Andreas, 1949. Reform der Anstalt. In: Unsere Jugend. 1(1), S. 12–20

Mehringer, Andreas, 1950. Grundsätze moderner Anstaltserziehung. In: Heinrich Lades, Friedrich Scheck und Fritz Stippel, Hrsg. Handbuch der Jugendwohlfahrt. München: Steinebach

Mehringer, Andreas, 1972. Niemandskinder. In: Johannes Pechstein, Elisabeth Siebenmorgen und Dorothea Weitsch. Verlorene Kinder? Die Massenpflege in Säuglingsheimen: Ein Appell an die Gesellschaft. München: Kösel S. 1–20. ISBN 978-3-466-42031-5

Mehringer, Andreas, 1976. Heimkinder: Gesammelte Aufsätze zur Geschichte und zur Gegenwart der Heimerziehung. München: Ernst Reinhardt. ISBN 978-3-497-00810-0

Mehringer, Andreas, 1982. Andres Mehringer. In: Ludwig J. Pongratz, Hrsg. Pädagogik in Selbstdarstellungen. Band IV. Hamburg: Felix Meiner, S. 115–153. ISBN 978-3-7873-0520-9

Mehringer, Andreas, 1987. Wenn ich so zurückdenke. In: Materialien zur Heimerziehung. 13(4/5), S. 1–4. ISSN 0723-2047

Mehringer, Andreas, 2013. Eine kleine Heilpädagogik: vom Umgang mit „schwierigen“ Kindern. 13. Auflage. München: Reinhardt. ISBN 978-3-497-02414-8 [Rezension bei socialnet]

Rädlinger, Christine, 2014. „Weinachten war immer sehr schön“: Die Kinderheime der Landeshauptstadt München von 1950 bis 1975. München: franz-schiermeier. ISBN 978-3-943866-23-0

Rumpf, Joachim, 1999. „Eine kleine Heilpädagogik“ – Sieben Regel haben sich bewährt. Ein Erfahrungsbericht. In: Unsere Jugend. 50(11), S. 472–480. ISSN 0342-5258

Schrapper, Christian, 1990. Voraussetzungen, Verlauf und Wirkung der „Heimkampagnen“. In: Neue Praxis. 20(5), S. 417–428. ISSN 0342-9857

Schrapper, Christian, 2005. Andreas Mehringer (1911-2004) – Ein Leben in zwei Welten. Anmerkungen und Fragen zu Leben und Werk. In: Unsere Jugend. 57(9), S. 385–393. ISSN 0342-5258

Sonderegger, Paul, 1987. Offener Brief an Dr. Andreas Mehringer. In: Schweizer Heimwesen. 58(3), S. 148

Speck, Otto, 1981. Dr. Andreas Mehringer zum 70. Geburtstag. In: Unsere Jugend. 32(3), S. 97–98. ISSN 0342-5258

Thorun, Walter. 2001. Deutsche Sozialpädagogen. Sie schrieben auch Gedichte. Eine Anthologie. Hamburg: Books on Demand. ISBN 978-3-8311-2784-9

Walter, Dirk, 2012. Misshandelt von „Mutti“: Geschichte eines Heimkindes. In: Münchner Merkur [online], 22.03.2012 [Zugriff am: 10.09.2023]. Verfügbar unter: https://www.merkur.de/lokales/​muenchen/​misshandelt-mutti-geschichte-eines-heimkindes-2248429.html

Zahner, Daniela, 2006. Jugendfürsorge in Bayern im ersten Nachkriegsjahrzehnt 1945-1955/56. München: Herbert Utz. ISBN 978-3-8316-0627-6

Archive
Bundesarchiv Berlin, BArch Signatur BArch (Slg. BDC) NSLB
Ida-Seele-Archiv, ISA Manuskript 1995, S. 1 f.

6 Literaturhinweise

Berger, Manfred, 2005. Andreas Mehringer – Sein Leben und Wirken. In: Heilpaedagogik.de [online], (2), S. 22–26 [Zugriff am: 13.09.2023]. ISSN 1868-3940. Verfügbar unter: http://wp13202693.server-he.de/midosa/​OnlineFindbuch_III_ZB-Berger/xml/inhalt/dao/Findbuch_III_ZB-Berger/​III_ZB-Berger_digitale_Objekte/​Mehringer,%20Andreas.pdf

Berger, Manfred, 2019. Andreas Mehringer: Entmythologisierung des „Reformers der Heimerziehung nach 1945“. Ergänzende Anmerkungen zu meinem Beitrag in heilpaedagogik.de 2005/H. 2, S. 22–26 [online]. [Zugriff am: 13.09.2023]. Verfügbar unter: http://wp13202693.server-he.de/midosa/​OnlineFindbuch_III_ZB-Berger/xml/inhalt/dao/Findbuch_III_ZB-Berger/​III_ZB-Berger_digitale_Objekte/​Berger,%20Manfred_Andreas%20Mehringer%20Entmythologisierung%20des%20 %E2%80%9EReformers%20der%20Heimerziehung%20nach%201945 %E2%80%9C%20(2019).pdf

Walter, Dirk, 2012. Misshandelt von „Mutti“: Geschichte eines Heimkindes. In: Münchner Merkur [online], 22.03.2012 [Zugriff am: 10.09.2023]. Verfügbar unter: https://www.merkur.de/lokales/​muenchen/​misshandelt-mutti-geschichte-eines-heimkindes-2248429.html

Verfasst von
Manfred Berger
Mitbegründer (1993) und Leiter des „Ida-Seele-Archivs zur Erforschung der Geschichte des Kindergartens“
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