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Menschliche Zuwendung

Prof. Dr. Manfred Bönsch

veröffentlicht am 14.01.2021

Menschliche Zuwendung ist die Grundform zwischenmenschlicher Kontaktnahme. Sie beginnt mit der Wahrnehmung des Anderen und dem Respekt vor ihm.

Überblick

  1. 1 Existenzielle Notwendigkeit
  2. 2 Axiome menschlicher Zuwendung
  3. 3 Wirkungen
  4. 4 Formen
  5. 5 Grenzen
  6. 6 Quellenangaben

1 Existenzielle Notwendigkeit

Menschliche Zuwendung ist anthropologisch gesehen eine existenzielle Notwendigkeit (Honig 1999). Das Neugeborene ist ohne die Zuwendung von Mutter oder Vater oder anderer Bezugspersonen nicht überlebensfähig. Dies betrifft nicht nur die Versorgung mit Nahrung oder das Trockenlegen. Die emotional bestimmte Zuwendung erfüllt Grundbedürfnisse der Kontaktnahme und ist für die seelisch-emotionale Entwicklung des Kleinkindes besonders wichtig. Sie schafft das Urvertrauen in das Leben (Gebauer und Hüther 2001). Ohne intensive Zuwendung mit körperlicher Nähe, Zuspruch, Tragen und Schmusen kann es zu Fehlentwicklungen kommen, die für das ganze Leben seelisch-geistige Verkümmerungen bedeuten. Der Umgang mit dem Anderen ist eine unerlässliche Voraussetzung für das Menschwerden (Wulf 2001). Der Mensch braucht ein Zugehörigkeitsgefühl. Zudem konstituieren sich Werte und Normen, Gesten, Rituale, Gespräch und Spiel nur in der Beziehung zum Anderen. Der einzelne Mensch hat nicht die Möglichkeit, auf andere Menschen zu verzichten, wenn er nicht seelisch verkümmern will. Aber der Umgang mit dem Anderen ist auch ambivalent. Gelingen und Fehlschlag sind möglich.

2 Axiome menschlicher Zuwendung

Die Axiome menschlicher Zuwendung lassen sich mit den folgenden sieben „As“ beschreiben:

  1. Achtung
  2. Aufmerksamkeit
  3. Anerkennung
  4. Annahme
  5. Anspruch
  6. Angebote
  7. Autonomie.

Die Achtung des Anderen – die Würde des Menschen ist unantastbar – ist gewissermaßen die Grundqualität menschlicher Zuwendung. Aufmerksamkeit meint das Wahrnehmen des Anderen, die Vermeidung von Vernachlässigung. Anerkennung ist die grundsätzliche Wertschätzung. Annahme bedeutet die Akzeptanz des Anderen, unabhängig vom Herkommen und aktuellem Verhalten. Menschliche Zuwendung transportiert aber immer auch einen Anspruch: „ich will mit dir zusammen sein, aber ich habe auch einen Anspruch an dein Verhalten“. So kann die Balance von Geben und Nehmen entstehen, die für positive zwischenmenschliche Beziehungen auf Dauer bedeutsam ist. Menschliche Zuwendung macht Angebote für Gemeinsamkeiten, achtet aber auch streng auf die Autonomie des Gegenübers, sie ist keine Besitznahme (Bönsch 2017).

3 Wirkungen

Wenn menschliche Zuwendung von den genannten Qualitätsmomenten bestimmt ist, hat sie entscheidende Wirkungen. Wer auf Dauer Zuwendung erfährt, kann ein starkes Selbstwertgefühl bei gleichzeitig sich ergebender Bindungsfähigkeit entwickeln. Lebensmut und Kontaktfreude werden gestärkt. Die Erfahrung, dass Andere einem etwas zutrauen, stärkt das Selbstbewusstsein. Die kognitive Entwicklung erfährt entscheidende Anregungen: das kann ich ja doch (Roth 1966, 1971)! Die erlebte Zuwendung führt zu Empathie, also Sensibilität gegenüber Befindlichkeiten Anderer. Kommunikations- und Kooperationskompetenzen bekommen damit ihre Grundlage (Miller 1999).

4 Formen

Hauptmedium der menschlichen Zuwendung ist die gesprochene Sprache (Retter 2000). Die Modi der nonverbalen Kommunikation spielen dabei eine wichtige Rolle. Blickkontakte, Mimik, Gestik, aber auch Körperkontakte können vielfache Nuancen der Zuwendung sein. Im Weiteren sind gemeinsames Spielen, Sport treiben, Musizieren, Tanzen, Kochen, Handwerken, Wandern als Aktivitäten zu nennen, mit denen ohne großes Reden Zuwendungen zum Ausdruck kommen.

Menschliche Zuwendung wird in kritischen Lebenssituationen noch einmal eine Stufe bedeutsamer. Bei Unlust und Missmut ist menschliche Zuwendung in der Form des Mutmachens, Motivierens, Animierens hilfreich („Komm, das schaffen wir, ich helfe dir“). Bei häufigem Misserfolg z.B. in der Schule wird sie noch wichtiger, weil das Individuum allein nicht aus den Defiziten herauskommt (Hurrelmann und Bründel 2003). Bei Verhaltensauffälligkeiten bewahrt sie vor Ablehnung und Gespött. Bei erlebter Einsamkeit ist Zuwendung häufig ein Anker, der einen festhält. Bei Trennung von geliebten Personen wird sie als Trost empfunden, der einen vor großer Leere bewahrt. Bei Krankheit ist sie wie eine Medizin, die Stärke verleiht. Bei Trauer schafft sie die Möglichkeit des Sich-Anlehnens. Bei subjektiv erfahrener Ausweglosigkeit kann sie vor Depression und eventueller Selbstmordgefahr schützen. Bei Aussonderung und Mobbing stärkt sie den Glauben an das nicht mehr erfahrene Gute in anderen Menschen.

5 Grenzen

Bei Streit und Konflikten ist die wahrgenommene menschliche Zuwendung gerade gegenüber Konfliktparteien bedeutsam, weil sie den humanen Konfliktaustrag sichert und vor unkontrollierten Wut- und Gewaltausbrüchen bewahren kann. Sind die bisher aufgeführten Situationen also „abzupuffern“ durch menschliche Zuwendung, taucht dann die Frage auf, ob sie bei Frechheiten, Beleidigungen, Unhöflichkeiten, gar ausgeübter Gewalt auch noch möglich bzw. zumutbar ist (Bönsch 2018). Abwendung liegt näher als Zuwendung. Hier ist ein kritischer Punkt dafür, ob es zu menschlicher Zuwendung kommt. Man ist ärgerlich, enttäuscht, gar zornig und der Wille zu menschlicher Zuwendung ist auf eine schwere Probe gestellt. Er hat noch eine Chance, wenn man die Unterscheidung zwischen Respekt vor der Person und deutlicher Kritik an ihrem Verhalten durchhalten kann („ich respektiere dich sehr, aber dein Verhalten eben ist unmöglich!“). Aber dazu ist menschliche Größe notwendig! Bei extremer Gewaltanwendung muss man wohl auch akzeptieren, wenn menschliche Zuwendung als nicht mehr möglich angesehen wird, obwohl sie für alle Resozialisationsbemühungen dann doch wieder wichtig ist.

Zusammenfassend kann man sagen, dass menschliche Zuwendung das entscheidende Kriterium für Humanität ist, wenn sie in möglichst allen Lebenssituationen praktiziert werden kann.

6 Quellenangaben

Bönsch, Manfred, 2017. Starke Schüler durch starke Pädagogik. Braunschweig: Westermann. ISBN 978-3-14-162202-7

Bönsch, Manfred, 2018. Grundlegungen sozialen Lernens heute. Baden-Baden: Academia. ISBN 978-3-89665-763-3 [Rezension bei socialnet]

Gebauer, Karl und Gerald Hüther, Hrsg., 2001. Kinder brauchen Wurzeln. Düsseldorf: Walter. ISBN 978-3-530-40124-0

Honig, Michael-Sebastian, 1999. Entwurf einer Theorie der Kindheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-58274-9

Hurrelmann, Klaus und Heidrun Bründel, 2003. Einführung in die Kindheitsforschung. 2. Auflage. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-25282-1 [Rezension bei socialnet]

Miller, Reinhold, 1999. Beziehungsdidaktik. 3. Auflage. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-25217-3

Retter, Hein, 2000. Studienbuch pädagogische Kommunikation. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-1059-3

Roth, Heinrich, 1966. Pädagogische Anthropologie: Bd. 1: Bildsamkeit und Bestimmung. Hannover: Schroedel

Roth, Heinrich, 1971. Pädagogische Anthropologie: Bd. 2: Entwicklung und Erziehung. Hannover: Schroedel

Wulf, Christoph, 2001. Einführung in die Anthropologie der Erziehung. Weinheim: Beltz und Gelberg. ISBN 978-3-407-25233-3

Verfasst von
Prof. Dr. Manfred Bönsch
Leibniz-Universität Hannover
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