Meritorisches Gut
Dr. Heiko Hirth
veröffentlicht am 20.04.2024
Ein meritorisches Gut hat sowohl einen direkten Nutzen für die Konsument:innen, als auch positive externe Effekte für die gesamte Gesellschaft. Da die Konsument:innen den Nutzen nicht hinreichend oder nicht rechtzeitig erkennen, wird bei einem meritorischen Gut das Angebot oder die Nachfrage auf dem Markt durch staatliche Eingriffe gefördert oder gar erzwungen, um ein gesellschaftlich erwünschtes Niveau zu erreichen.
Überblick
- 1 Begriffsbestimmung
- 2 Charakteristische Merkmale von meritorischen Gütern
- 3 Meritorische Güter im Sozialsektor
- 4 Theoretische Bezüge
- 5 Quellenangaben
1 Begriffsbestimmung
Die Wortschöpfung meritorisches Gut wurde 1959 erstmals von dem Finanzwissenschaftler Richard A. Musgrave (1910-2007) in die ökonomische Debatte eingebracht (Musgrave 1959). Zuvor wurde die der Meritorik zugrunde liegende Problematik vorwiegend unter dem Begriff der meritorischen Bedürfnisse bzw. „merit wants“ diskutiert, welcher ebenfalls von Musgrave eingeführt wurde (Andel 1984, S. 630–631; Musgrave 1956).
Der Begriff „meritorisch“ stammt vom lateinischen „meritum“ ab und bedeutet „das Verdienst“. Bei meritorischen Gütern handelt es sich somit um verdienstvolle Güter, bzw. Güter, die bestimmte erwünschte Dienste leisten.
Güter dienen zur Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen und können beispielsweise hinsichtlich ihrer technischen Beschaffenheit in materielle, immaterielle und nominale Güter unterteilt werden. In der Sozialwirtschaft werden häufig immaterielle Güter in Form von sozialen Dienstleistungen angeboten.
Erfolgt die Unterteilung hinsichtlich der Art des Angebotes, können meritorische Güter von privaten Gütern und von öffentlichen Gütern abgegrenzt werden.
Ein meritorisches Gut stellt somit ein verdienstvolles Gut dar, welches zur Befriedigung von individuellen menschlichen Bedürfnissen beiträgt und über diesen individuellen Nutzen hinaus die allgemeine Wohlfahrt der Gesellschaft steigert. Allerdings scheint dieses Gut aus gesellschaftlicher Sicht am Markt zu wenig nachgefragt zu werden. Dies könnte daran liegen, dass die individuelle Bedeutung des meritorischen Gutes von den Konsument:innen unterschätzt wird, da diese lediglich die individuelle Kosten-Nutzen-Analyse in ihre Erwägungen miteinbeziehen. Die positiven externen Effekte bleiben dabei unberücksichtigt. Da dieses Gut jedoch auch für die Gesellschaft wertvolle Verdienste leistet, wird es durch staatliche Förderung meritorisiert.
Es gibt bislang keine einheitliche und abschließende Verständigung über die Merkmale meritorischer Güter, jedoch besteht Einigkeit darin, dass es sich um eine staatlich induzierte Veränderung der Präferenzordnung und damit der Konsumentscheidungen der Haushalte handelt.
Ein demeritorisches Gut bezeichnet dagegen ein Gut, welches neben direkten Kosten für die Konsument:innen auch unerwünschte Kosten für die gesamte Gesellschaft verursacht. Da die Konsument:innen jedoch lediglich die eigenen Kosten berücksichtigen, fällt das Konsumniveau aus gesellschaftlicher Sicht zu hoch aus. Bei demeritorischen Gütern wird der Konsum durch staatliche Eingriffe vermindert, bzw. verhindert. Staatliche Eingriffe können durch die Erhebung von Steuern, durch rechtliche Einschränkungen oder durch Verbote erfolgen.
2 Charakteristische Merkmale von meritorischen Gütern
Güter werden durch politische Interventionen zu meritorischen oder demeritorischen Gütern, indem der Staat Einfluss auf Angebot und Nachfrage ausübt, um das Ausmaß des Konsums zu fördern, zu erzwingen, zu senken oder zu verbieten.
Meritorische Güter weisen sowohl Merkmale von privaten Gütern als auch von öffentlichen Gütern auf. Meritorische Güter werden über den Markt angeboten, es gelten wie auch bei privaten Gütern das Ausschlussprinzip und die Rivalität im Konsum. Somit erwerben die Konsument:innen das alleinige Nutzungsrecht und der Konsum stiftet ihnen einen unmittelbaren Nutzen. Weiterhin trägt der Konsum im Rahmen von positiven externen Effekten ebenso zum Nutzen der gesamten Gesellschaft bei. Da meritorische Güter jedoch generell in ihrem Verdienst unterschätzt werden, sorgt der Staat im Rahmen von politischen Entscheidungen für eine Erhöhung der Nachfrage und wandelt diese in quasi-öffentliche Güter um (Finis-Siegler 2019, S. 38–39).
Die individuellen und gesellschaftlichen Kosten von demeritorischen Gütern werden von den Konsument:innen generell unterschätzt, sodass der Staat im Rahmen von politischen Entscheidungen für eine Verringerung der Nachfrage sorgt.
Zur Beeinflussung der Nachfrage von meritorischen Gütern stehen dem Staat folgende Instrumente zur Verfügung:
- Öffentliche Bereitstellung von Gütern, um den Konsum zu fördern, z.B.:
- kostenlose Schulbildung
- kostenlose Vorsorgeuntersuchungen
- kostenlose Schutzimpfungen
- Angebot von Subventionen, um den Konsum zu fördern, z.B.:
- Altersvorsorge
- Sozialwohnungen
- Museumsbesuche
- Rechtliche Verpflichtung, um den Konsum zu erzwingen, z.B.:
- Schulpflicht
- Sozialversicherungspflicht
- Haftpflichtversicherung
- Impfpflicht
- Erhebung von Steuern, um den Konsum zu senken, z.B.:
- Alkohol
- Tabak
- Rechtliche Einschränkungen, um den Konsum zu senken, z.B.:
- Umweltzonen in Städten
- Rechtliche Verbote, um den Konsum zu vermeiden, z.B.:
- illegale Drogen
Weiterhin kann der Staat durch Subventionen, bzw. Steuern sowie rechtlichen Vorgaben Einfluss auf das Angebot meritorischer Güter ausüben.
Zentrale Bereiche für die Bereitstellung von meritorischen Gütern sind das Bildungswesen, das Gesundheitswesen, der Umweltschutz und die Kulturförderung:
- Im Bildungswesen trägt ein höheres Qualifikationsniveau der Bevölkerung sowohl zur Erhöhung des individuellen Wohlstands, als auch zur Steigerung des gesellschaftlichen Wohlstands bei.
- Im Gesundheitswesen tragen präventive Maßnahmen sowohl zur Verbesserung der individuellen Gesundheit, als auch zur Senkung von Krankheitskosten für die Allgemeinheit bei.
- Der Umweltschutz trägt sowohl zu einer höheren individuellen Lebensqualität und Gesundheit, als auch zu einer langfristig höheren Lebensqualität zukünftiger Generationen bei.
- Die Kulturförderung trägt sowohl zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung, als auch zur Erhöhung des kulturellen Kapitals einer gesamten Gesellschaft bei.
3 Meritorische Güter im Sozialsektor
Der Sozialsektor als Oberbegriff für die Schnittmenge aller sozialen Leistungen, die in den vier Sektoren des Welfare Mix erbracht werden, unterliegt einer anderen Steuerungslogik als die Marktwirtschaft. Finis-Siegler beschreibt diese Steuerung und damit den Kern der Meritorik wie folgt:
„Die Ressourcenallokation ist nicht konsumentengesteuert wie auf Märkten für private Güter, sondern bedarfsgesteuert, wobei der Bedarf das Ergebnis einer ökonomischen Transformation kollektiver Entscheidungen in Leistungen ist, mit denen in die Lebenslage und Präferenzen von Zielgruppen der Sozialpolitik interveniert wird.“ (2018, S. 195)
Somit handelt es sich bei sozialen Leistungen immer dann um sozialpolitisch meritorisierte Güter, wenn der Staat diese subventioniert oder kostenlos anbietet. Beispiele hierfür sind:
- Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB)
- Beratung im Pflegestützpunkt
- Schwangerschaftsberatung
- Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung
Bei folgenden sozialen Leistungen handelt es sich folglich nicht um meritorische Güter:
- privat organisierte Hilfen, z.B. Nachbarschaftshilfe
- ehrenamtliches Engagement
- marktwirtschaftlich erbrachte Hilfen, welche rein privat finanziert werden
4 Theoretische Bezüge
Seit der Einführung des Begriffes meritorisches Gut ist eine Diskussion darüber entstanden, was überhaupt genau darunter zu verstehen ist. Bis heute gibt es keine einheitliche Verständigung darüber, welche Merkmale meritorische Güter abschließend kennzeichnen (Tietzel und Müller 1998, S. 87).
Weitgehender Konsens besteht jedoch über den Kern des Konzeptes, welcher meritorische bzw. demeritorische Güter als rein private Güter betrachtet, „in deren Allokation der Staat eingreift, um ein Konsumniveau zu induzieren oder sogar zu erzwingen, das über (oder unter) jenem liegt, das durch Marktprozesse bei alleiniger Geltung der individuellen Präferenzen der Wirtschaftssubjekte zustande käme“ (Tietzel und Müller 1998, S. 88). Somit handelt es sich bei meritorischen Gütern um eine staatlich induzierte Veränderung der Präferenzordnungen der Haushalte.
4.1 Kritik an meritorischen Gütern
Meritorische Güter sind in der Finanzwissenschaft umstritten und werden von den Kritiker:innen vorwiegend als paternalistische Eingriffe des Staates in die Konsumentensouveränität der Bürger:innen kritisiert. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, nach welchen Normen staatliche Eingriffe vorgenommen werden sollen (Tietzel und Müller 1998, S. 96) und ob meritorische Eingriffe dem Staat möglicherweise freie Hand über sein Tun und Unterlassen bieten (Schmidt 1988, S. 385–386). Es besteht die Gefahr, dass die herrschende Mehrheit ihre eigenen Entscheidungen über die Entscheidungen anderer setzen und somit ein staatlichen Zwangsmonopol entsteht (Tietzel und Müller 1998, S. 94–95). Weiterhin ist fraglich, ob der Staat die richtige Instanz ist, um die Informationsdefizite seiner Bürger:innen zu schließen (Schmidt 1988, S. 385).
4.2 Legitimation meritorischer Güter
Aus Sicht von Musgrave könnten meritorische Güter dann legitimiert sein, wenn Haushalte Konsumentscheidungen treffen, die nicht ihren Nutzen maximieren. Ursache solcher Entscheidungen könnten Unmündigkeit, Willensschwäche oder Krankheit sein. Musgrave spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer Korrektur von „pathologischen Fällen“. Weiterhin kann eine Notwendigkeit von staatlichen Eingriffen aufgrund von Gemeinschaftsbedürfnissen entstehen (Tietzel und Müller 1998, S. 104–123).
Finis-Siegler führt die Legitimation von meritorischen Gütern sowohl auf ein distributives, als auch auf ein allokatives Marktversagen zurück. Beim distributiven Marktversagen stehen mögliche Gerechtigkeitsdefizite im Vordergrund, da die Konsumentscheidung von Zahlungsfähigkeit und Zahlungsbereitschaft abhängig ist. Das allokative Marktversagen wird auf eine asymmetrische Informationsverteilung zwischen Produzent und Konsument, auf externe Effekte und auf den Anreiz eines „free-rider“ Verhaltens und „moral hazard“ zurückgeführt (Finis-Siegler 2021, S. 235).
Nach Finis-Siegler unterscheiden Menschen häufig nicht zwischen kurz- und langfristigem Konsum und bewerten den Gegenwartskonsum höher als den Zukunftskonsum (2021, S. 233).
Bei der Frage nach der Legitimation staatlicher Eingriffe in die Konsumentenpräferenzen werden vorwiegend zwei Fragestellungen diskutiert (Tietzel und Müller 1998, S. 95–97).
- Gibt es Entscheidungsdefekte der Konsument:innen, welche staatliche Eingriffe rechtfertigen?
- Durch wen und auf welche Weise wird in die Entscheidungsfindung der Konsument:innen interveniert?
4.3 Aktueller Forschungsstand
Aktuelle Forschungsansätze befassen sich weniger mit dem Begriff meritorisches Gut, sondern übergreifend mit dem Konzept der Meritorik, dessen Legitimation und Weiterentwicklung.
Beispielsweise beschreibt Finis-Siegler in ihrem Modell einer autonomieförderlichen Meritorik den Sinn und Zweck der Sozialwirtschaft als „meritorische Nutzeninterdependenz bei gleichzeitiger Kontrolle des Eigeninteresses“ (2021, S. 230). Damit werden staatliche Interventionen dann legitimiert, wenn sie zur Herstellung von Autonomie und Handlungsfähigkeit dienen. Durch diesen Ansatz transformiert sie die häufig defizitorientierte Sichtweise auf die Meritorik als paternalistische Bevormundung und Eingriff in die Konsumentensouveränität hin zu einer ressourcenorientierten Sichtweise im Sinne einer Förderung von Handlungsspielräumen und damit von Verwirklichungschancen der Bürger:innen. Die betriebswirtschaftliche, sozialarbeiterische und sozialpolitische Betrachtung der Sozialwirtschaft werden dabei verknüpft, sodass dieses Modell ein geeigneter Analyserahmen für die Sozialwirtschaft darstellt (Finis-Siegler 2021).
5 Quellenangaben
Andel, Norbert, 1984. Zum Konzept der meritorischen Güter. In: FinanzArchiv/​Public Finance Analysis. 42(3), S. 630–648. ISSN 0015-2218
Finis-Siegler, Beate, 2018. Meritorik in der Sozialwirtschaft. In: Klaus Grunwald und Andreas Langer, Hrsg. Sozialwirtschaft: Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos, S. 195–206. ISBN 978-3-8487-3599-0 [Rezension bei socialnet]
Finis-Siegler, Beate, 2019. Ökonomik Sozialer Arbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus. ISBN 978-3-7841-3115-3
Finis-Siegler, Beate, 2021. Entwicklung einer Ökonomik Sozialer Arbeit aus der Retrospektive. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-33366-9 [Rezension bei socialnet]
Musgrave, Richard A., 1956. A Multiple Theory of Budget Determination. In: FinanzArchiv/​Public Finance Analysis. 17(3), S. 333–343. ISSN 0015-2218
Musgrave, Richard A., 1959. The Theory of Public Finance: A Study in Public Economy. New York: McGraw-Hill Book Company
Schmid, Kurt, 1988. Mehr zur Meritorik. In: Journal of Contextual Economics – Schmollers Jahrbuch. 108(3), S. 383–403. ISSN 2568-762X
Tietzel, Manfred und Christian Müller, 1998. Noch mehr zur Meritorik. In: Journal of Contextual Economics – Schmollers Jahrbuch. 118(1), S. 87–127. ISSN 2568-762X
Verfasst von
Dr. Heiko Hirth
Dipl.-Sozialpädagoge und Sozialwirt (M.A.)
ZAW gGmbH (Zukunft-Arbeit-Wohnen) - Tochtergesellschaft der Stiftung Lebenshilfe Zollernalb
nebenamtlicher Dozent für Soziale Arbeit und Sozialwirtschaft an der Fakultät Sozialwesen der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Villingen-Schwenningen
Mailformular
Es gibt 3 Lexikonartikel von Heiko Hirth.
Zitiervorschlag
Hirth, Heiko,
2024.
Meritorisches Gut [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 20.04.2024 [Zugriff am: 07.12.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29992
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Meritorisches-Gut
Urheberrecht
Dieser Lexikonartikel ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion des Lexikons für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.