Metaverse
Prof. Dr. Matthias Quent
veröffentlicht am 29.11.2024
„Metaverse“ beschreibt ein virtuelles Paralleluniversum, in dem mehrere virtuelle Welten unterschiedlicher Anbieter miteinander verbunden sind. Es bietet neue Formen der sozialen Interaktion, bei der physische Präsenz und digitale Kommunikation miteinander verschmelzen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Zum Begriff
- 3 Kultureller Hintergrund
- 4 Technische Entwicklungen und Hintergründe
- 5 Soziale Identität und Avatar-Nutzung
- 6 Herausforderungen und ethische Implikationen
- 7 Quellenangaben
- 8 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Als „Metaverse“ hat Facebook-Chef Marc Zuckerberg im Oktober 2021 seine Vorstellung von einem intensiveren Internet der Zukunft beschrieben – und benannte sein Medienunternehmen gleich in „Meta Platforms“ um. Aber nicht nur das große amerikanische Unternehmen, zu dem neben Facebook auch Instagram und WhatsApp gehören, ist an der Entwicklung des „Metaverse“ beteiligt. Zunehmend versuchen auch zivilgesellschaftliche Akteur:innen (z.B. Linux Foundation) und supranationale Institutionen (u.a. European Commission; World Economic Forum), das Metaverse zu gestalten. Soziale Bewegungen organisierten ebenfalls Proteste im Metaverse, beispielsweise auf der Spieleplattform „Roblox“ oder auf der Plattform „Wistaverse“.
In der internationalen Forschungslandschaft wird der Begriff des Metaverse mittlerweile in unzähligen Artikeln aufgegriffen. Das Metaverse ist nicht nur eine technologische Entwicklung, sondern beeinflusst auch soziale sowie wirtschaftliche Strukturen und das menschliche Verhalten. Es bietet neue Formen der sozialen Interaktion, bei der physische Präsenz und digitale Kommunikation miteinander verschmelzen.
2 Zum Begriff
Im Allgemeinen beschreibt „Metaverse“ ein virtuelles Paralleluniversum, in dem mehrere virtuelle Welten unterschiedlicher Anbieter miteinander verbunden sind. Nutzer:innen können es mit unterschiedlichen Hardwaregeräten in der Gestalt von Avataren betreten und zwischen den Welten (virtuelle immersive Umgebungen) wechseln, miteinander interagieren, Handel treiben, arbeiten, Sport machen oder ihre Freizeit gestalten. Ein solches integriertes virtuelles Universum existiert bisher nicht, aber viele Millionen Menschen sind bereits in einzelnen unverbundenen virtuellen Welten aktiv – insbesondere im Computerspielbereich.
Eine frühe und populäre Definition von „Metaverse“ stammt von Matthew Ball. Er beschreibt das Metaverse als ein
„massivly scaled and interoperable network of real-time rendered 3D virtual worlds that can be experienced synchronously and persistently by an effectively unlimited number of users with an individual sense of presence, and with continuty of data, such as identity, history, entitlements, objects, communications, and payments.“ (Ball 2022, S. 29)
Übersetzung des Autors: „Ein massiv skaliertes und interoperables Netzwerk von in Echtzeit gerenderten virtuellen 3D-Welten, die synchron und dauerhaft von einer praktisch unbegrenzten Anzahl von Nutzern mit einem individuellen Gefühl der Präsenz und mit kontinuierlichen Daten wie Identität, Geschichte, Berechtigungen, Objekten, Kommunikation und Zahlungen erlebt werden können.“
3 Kultureller Hintergrund
Ursprünglich stammt der Begriff des Metaverse vom Science-Fiction-Autor Neal Stephenson. In seinem 1992 erstveröffentlichten Roman „Snow Crash“ (Stephenson 1992) ist das Metaverse ein virtueller Raum, in dem Menschen über Computer als Avatare Zuflucht vor der Realität der ruinierten Vereinigten Staaten von Amerika suchen. In der echten Welt sind die Umwelt und die Demokratie zerstört, rassistische und soziale Segregation prägen die Sozialstruktur. Der Staat und seine Institutionen sind weitgehend vernichtet, stattdessen beherrschen mächtige Großkonzerne und die Mafia streng segregierte und durch Kampfroboter geschützte Zonen. Sozialer Aufstieg ist in dieser dystopischen Welt nur im Metaverse möglich – dort können die Avatare der Menschen höhere Level erreichen. Durch das Eintauchen in das immersive Metaverse infizieren sich mehr und mehr Menschen mit einer gefährlichen Krankheit. Der Dystopie, deren Name Zuckerberg zur Beschreibung des Internets der Zukunft wählte, wohnt eine andauernde Mahnung inne (Quent 2023).
4 Technische Entwicklungen und Hintergründe
Besonders im Gaming-Bereich sind bereits viele Millionen Menschen in immersiven virtuellen Welten aktiv, die als Vorbilder für das Metaverse gelten. Anwendungen wie „Roblox“ nutzen vor allem Kinder und Jugendliche massenhaft; andere groß skalierte Spieleumgebungen (z.B. GTA Online) werden auch von Erwachsenen intensiv bespielt. In diversen popkulturellen Werken, wie Steven Spielbergs Film „Ready Player One“, stehen Metaverse-ähnliche Welten im Vordergrund. Der Film dreht sich um die Interaktion zwischen der – über spezielle Hardware betretenen – virtuellen und der realen Welt sowie um die Frage, wer über die virtuellen Realitäten verfügt und dort die Regeln definieren kann.
Interoperabilität, also die Fähigkeit unterschiedlicher immersiver virtueller Umgebungen oder Systeme, in sozialer, technischer und regulatorischer Hinsicht miteinander zu kommunizieren und eine kohärente Gesamtintegration zu gewährleisten, ist für das Metaverse von zentraler Bedeutung. Dabei geht es unter anderem darum, gemeinsame ethische Ansprüche und Standards zu entwickeln und unterschiedliche regionale, inhaltliche, kulturelle sowie technische Plattformen und Prägungen miteinander zu verbinden.
Technologisch ist die Entwicklung des Metaverse eng mit Künstlicher Intelligenz (KI) verbunden, die unter anderem zur Generierung virtueller Welten, personalisierter Werbung sowie zur Auswertung großer Datenmengen und bei der Regulierung benötigt wird.
Auch Tokens und Kryptowährungen sind Elemente des Metaverse, beispielsweise um dort Handel zu betreiben oder virtuelles Eigentum wie Grundstücke zu verwalten.
Consumer-Metaverse: Viele Unternehmen investieren Millionen, um mit dem Metaverse neue Absatzmärkte für sich zu erschließen, zum Beispiel indem dort Dienstleistungen, Beratungen und virtuelle (Kleidung und Accessoires für Avatare bzw. Skins) sowie physische Güter, die virtuell getestet werden können, angeboten werden.
Industrial Metaverse: Neben sozialen und kommerziellen Aspekten im sogenannten Consumer-Metaverse spielt das „Industrial Metaverse“ eine wichtige Rolle für die Industriearbeit sowie Architektur und Stadtplanung der Zukunft. Durch „Digital Twins“ können Abläufe simuliert und in Echtzeit überwacht werden. Modellierungen mit großen Datenmengen können Szenarien virtuell simulieren und Folgen von Entscheidungen vorhersagen, etwa in der Verkehrsplanung oder in Warenketten.
In das soziale Metaverse tauchen Menschen noch intensiver ein als in das text- und bildbasierte Internet und die bisherigen sozialen Medien, zum Beispiel durch Technologien Erweiterter Realität (AR, XR, VR) und durch 360°-Anwendungen: Nutzer:innen sollen in die virtuellen Welten eintauchen (Immersion). Die Erfahrungen, die Menschen dort machen können, sind intensiver als in vorherigen Technologien und umfassen körperliche und haptische Empfindungen mit entsprechender Hardware, beispielsweise durch Bewegungstracker, haptische Handschuhe oder Ganzkörperanzüge. So können Menschen im Metaverse beispielsweise Sport treiben, tanzen oder auch Sex haben. Mit neuen speziellen Brillen, die alltagstauglich sind und sich optisch kaum von normalen Brillen unterscheiden, beginnen virtuell erweiterte Realitäten, in den Alltag vorzudringen – vergleichbar mit den schon seit vielen Jahren erhältlichen Overhead-Displays in Fahrzeugen, aber mit viel mehr Funktionsmöglichkeiten.
5 Soziale Identität und Avatar-Nutzung
Im Metaverse wird der bzw. die Nutzer:in in einem virtuellen Avatar verkörpert (Embodiment), durch den er oder sie in der digitalen Welt agiert und diese mit physischen Erfahrungen der Person verbunden wird. In den Wahlmöglichkeiten der Avatare in jeglichen Erscheinungen bestehen identitäre Freiheitsgrade, durch die Menschen ihr virtuelles Selbst- und Erscheinungsbild selbst bestimmen können. Gerade für introvertierte Menschen sowie solche mit diversen gesundheitlichen und sozialen Problemen, wie Bewegungseinschränkungen oder Diskriminierungserfahrungen, entstehen damit neue Teilhabe- und Entwicklungsmöglichkeiten.
Nutzer:innen passen ihre Avatare oft an bestimmte soziale Normen oder persönliche Vorlieben an, was zu einem „Proteus-Effekt“ führt: Die physische Erscheinung eines Avatars kann das Verhalten und die Interaktion der Nutzer:innen auch in der physischen Welt verändern. Schritt für Schritt haben große Digitalunternehmen bereits Avatare in weitverbreitete soziale Medien implementiert, beispielsweise auf WhatsApp und auf TikTok. Dies sind Zwischenschritte auf dem Weg zu immer immersiveren virtuellen Erfahrungen.
6 Herausforderungen und ethische Implikationen
Aus der Perspektive von sozialen Implikationen stellt sich unter anderem die Frage nach Zugangsungleichheiten in Hinblick auf technische Hardware und Skills. Viele immersive virtuelle Umgebungen können mit diversen Geräten betreten werden – mit Computern, Tablets oder Mobiltelefonen und speziellen Brillen. Andere Plattformen können ausschließlich mit speziellen Brillen (u.a. Meta Quest oder Apple Vision Pro) betreten werden, die erweiterte oder virtuelle Realitäten erzeugen. Diese Geräte sind in den letzten Jahren zwar preisgünstiger geworden, kosten aber immer noch mehrere Hundert bis Tausende Euro und sind damit nur für wohlhabende Menschen erschwinglich. Zudem müssen teilweise weitere Geräte sowie digitale Inhalte erworben werden. Diese digitale Kluft verstärkt bestehende Ungleichheiten bei den digitalen Kompetenzen sowie von Vorteilen aus der Nutzung für pädagogische, kommerzielle oder soziale Zwecke, während Menschen ohne Zugang zum Metaverse benachteiligt werden können.
Im Metaverse entstehen neue Formen von Gemeinschaften, die auf gemeinsamen Interessen basieren und nicht durch geografische Nähe geprägt sind. Diese Gemeinschaften können einen starken inneren sozialen Zusammenhalt entwickeln, was durch die immersive Technik der Plattformen verstärkt wird. Damit geht auch die Möglichkeit weiterer sozialer Fragmentierung bzw. Singularisierung der Gesellschaft sowie von Vereinsamung und Einsamkeit in der realen Welt einher.
Die Entwicklung des Metaverse wirft viele weitere ethische Fragen auf:
- Dazu gehören Datenschutz, geistiges Eigentum und die Kontrolle über virtuelle Güter.
- Darüber hinaus gibt es Bedenken hinsichtlich der Überwachung und der Monetarisierung von Nutzeraktivitäten – unter anderem Bewegungsdaten – durch große Tech-Konzerne, die das Metaverse betreiben.
- Auch die Gefahr von Sucht und Realitätsflucht ist in einem derartig umfassenden virtuellen Raum gegenüber vorherigen Formen des Internets nochmals verstärkt.
- Wie Belästigungen, Hasssprache, Radikalisierung und Extremismus, digitale Kriminalität wie Identitätsdiebstahl sowie Kinder- und Jugendgefährdungen im Metaverse verhindert bzw. reguliert werden können, gehört zu vordringlichen Fragen für die Sicherheit und Akzeptanz des Metaverse.
- Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung und Teilhabe in den überwiegend von großen Digitalkonzernen kontrollierten Umgebungen sind eng begrenzt.
- Der große Energie-, Daten- und Ressourcenverbrauch stellt einerseits ein Problem für ökologische Nachhaltigkeit und eine Verstärkung des Klimawandels dar. Andererseits wird argumentiert, dass beispielsweise durch virtuellen Tourismus sowie durch Arbeits-, Konferenz- und Messeumgebungen emissionsreiche Reisen vermindert werden könnten.
Das Metaverse eröffnet neue Möglichkeiten für soziale Interaktionen und wirtschaftliche Entwicklungen. Es schafft aber auch große Herausforderungen, die noch intensivere sozialwissenschaftliche Beschäftigung erfordern – auch um empirisches Wissen für die möglichst verantwortungsvolle Entwicklung und politische Regulierung zu gewinnen. Die Erforschung der Auswirkungen u.a. auf soziales Verhalten und soziale Identität, Gemeinschaften und soziale Ungleichheiten wird angesichts der rasanten technologischen Entwicklungen in den kommenden Jahren voraussichtlich weiter an Bedeutung gewinnen.
7 Quellenangaben
Ball, Matthew, 2022. The Metaverse: And How it Will Revolutionize Everything. New York, NY: Liveright. ISBN 978-1-3240-9203-2
Quent, Matthias, 2023. Demokratische Kultur und das nächste Internet: Chancen und Risiken virtueller immersiver Erfahrungsräume im Metaverse. In: Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Netzkulturen und Plattformpolitiken. Band 14, S. 30–43. ISSN 2512-9732
Stephenson, Neal, 2021 [1992]. Snow Crash. Frankfurt a.M.: Fischer. ISBN 978-3-596-70559-7
8 Informationen im Internet
Verfasst von
Prof. Dr. Matthias Quent
Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena
Professor für Soziologie für die Soziale Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Matthias Quent.
Zitiervorschlag
Quent, Matthias,
2024.
Metaverse [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 29.11.2024 [Zugriff am: 09.12.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29671
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Metaverse
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