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Montessori-Pädagogik

Ingeborg Müller-Hohagen

veröffentlicht am 11.03.2019

Weitere Schreibweise: Montessoripädagogik

Die Montessori-Pädagogik geht auf die italienische Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870–1952) zurück. Im Zentrum des reformpädagogischen Ansatzes steht die besondere Achtung vor der Eigenentwicklung von Kindern und Jugendlichen. Neben theoretischen Überlegungen zur Erziehung von Kindern und Jugendlichen entwickelte Maria Montessori eine Vielzahl an praktischen Methoden und Materialien, die dem Grundsatz „Hilf mir, es selbst zu tun!“ folgen.

Überblick

  1. 1 Maria Montessori – Leben und Werk
  2. 2 Grundprinzipien der Montessori-Pädagogik
    1. 2.1 Die Sicht des Kindes
    2. 2.2 Sensible Phasen
    3. 2.3 Der absorbierende Geist
    4. 2.4 Polarisation der Aufmerksamkeit
    5. 2.5 Die Haltung der Erwachsenen
  3. 3 Erziehung und Bildung in Kinderhaus und Schule
    1. 3.1 Die Beobachtung
    2. 3.2 Die vorbereitete Umgebung
    3. 3.3 Montessori-Material
      1. 3.3.1 Übungen des täglichen Lebens
      2. 3.3.2 Sinnesmaterial
      3. 3.3.3 Mathematisches Material
      4. 3.3.4 Sprachmaterial
      5. 3.3.5 Kosmisches Material
    4. 3.4 Freiarbeit
    5. 3.5 Fehlerkultur
    6. 3.6 Altersmischung
    7. 3.7 Feedbackkultur – Leistungsbegriff und Leistungsmessung
    8. 3.8 Kosmische Erziehung
    9. 3.9 Erdkinderplan
    10. 3.10 Erziehung zum Frieden
  4. 4 Kritik
    1. 4.1 Fehlende Leistungsbeurteilungen in Form von Noten
    2. 4.2 Vernachlässigung der Kreativität
    3. 4.3 Nicht für alle Kinder geeignet?
  5. 5 Verbreitung und Gegenwart
  6. 6 Quellenangaben
  7. 7 Literaturhinweise
  8. 8 Informationen im Internet

1 Maria Montessori – Leben und Werk

Die 1870 in Chiaravalle (Italien) geborene Maria Montessori begann 1890 in Rom ein Studium der Naturwissenschaften und erkämpfte sich als eine der ersten Frauen Italiens einen Studienplatz für Medizin.
Nach ihrer Promotion am 10. Juli 1896 arbeitete sie an verschiedenen Krankenhäusern und als Kinderärztin in eigener Praxis. Dabei wurde ihr bewusst, wie wenig damals Kinder aus armen Verhältnissen und Kinder mit Behinderung gefördert wurden. Sie setzte sich auch für die Gleichbezahlung von Männern und Frauen für die gleiche Arbeit ein.

Gemeinsam mit dem Vater ihres 1898 geborenen Sohnes Mario, Dr. Giuseppe Montesano, arbeitete sie mehrere Jahre in verschiedenen Krankenhäusern zusammen. Gemeinsam mit ihm leitete sie ab 1900 eine Schule für geistig behinderte Kinder und eine Ausbildungsstätte für Lehrerinnen und Lehrer solcher Kinder. Dort beobachtete sie die Lernprozesse der Kinder und erprobte Entwicklungsmaterialien der französischen Ärzte und Pädagogen Itard und Seguin.
In dieser Zeit zerbrach die Beziehung zu Giuseppe Montesano. Mario wurde zu einer Pflegefamilie aufs Land gegeben.

1902 beendete Montessori ihre Tätigkeit an Institut und Schule und begann noch einmal zu studieren: Philosophie und Pädagogik.
Am 6. Januar 1907 eröffnete sie das erste Kinderhaus (Casa dei Bambini) für zwei- bis sechsjährige Kinder in Rom in einer von Ingenieur Talami erstellten Armensiedlung, in dem sie die von ihr entwickelten Sinnesmaterialien erprobte. In der Folge gab Maria Montessori ihre Arztpraxis und Lehrtätigkeit an Universitäten auf und begann Ausbildungskurse für ihre Pädagogik und veröffentlichte erste Werke, die rasch weltweite Verbreitung fanden.
Nach dem Tod ihrer Mutter 1912 nahm Maria Montessori ihren mittlerweile vierzehnjährigen Sohn bei sich auf. Bis zu ihrem Tod haben die beiden sich nicht mehr getrennt.

Ab 1913 unternahm Maria Montessori mehrere Vortragsreisen in die USA, wo sie triumphal empfangen wurde. Sie traf dort u.a. auf John Dewey, Thomas Edison, Helen Keller.
Bei ihrem ersten Besuch in den Niederlanden (1917) traf Maria Montessori den Biologen Hugo de Vries, von dem sie den Begriff der „sensiblen Phasen“ übernahm.

Die Montessori-Pädagogik verbreitete sich weiter. 1924 gab es Überlegungen mit Benito Mussolini die Montessori-Pädagogik an allen italienischen Schulen einzuführen. Dazu kam es aber nicht. Später distanzierte sich Maria Montessorie von Mussolini und seinem faschistischen System, ihre Schulen in Italien wurden geschlossen.

1929 wurde die „Assoziation Montessori International“ (AMI) mit Sitz in Berlin gegründet. Ab 1935 bis heute ist sie in Amsterdam angesiedelt. Förderer waren Sigmund Freud, Rabindranat Tagore, Jean Piaget.
1933 wurde der für Berlin geplante Internationale Montessori-Kongress aus politischen Gründen nach Amsterdam verlegt. In Deutschland wurden Montessoris Bücher verbrannt, ReformpädagogInnen wie Clara Grunewald und Helene Helmig verfolgt.

1936 sprach Maria Montessori auf dem Internationalen Montessori-Kongress in Oxford erstmalig von ihrem „Erdkinderplan“, einem zeitweiligen Entschulen von pubertierenden Jugendlichen hin zu praktischen Arbeiten auf einem Bauernhof mit Geschäft, Restaurant und Hotel.

1939, kurz nach Kriegsbeginn, reiste sie mit ihrem Sohn nach Indien, um dort einen Ausbildungskurs zu halten. 1940, nach Eintritt Italiens in den Krieg, wurden sie und ihr Sohn interniert und durften das Land zunächst nicht verlassen. Sie verblieben bis 1946 in Indien und bildeten dort in verschiedenen Städten ErzieherInnen und LehrerInnen aus.

1949, 1950 und 1951 wurde Maria Montessori für den Friedensnobelpreis nominiert, den sie aber nie erhielt. Sie erhielt mehrere Ehrungen, wie das Kreuz der Ehrenlegion in Paris und die Ehrendoktorwürde der Universität Amsterdam. Die Universität Perugia richtete für sie eine Professur ein.

Die letzten Lebensjahre verbrachte Maria Montessori in den Niederlanden, wo sie am 6. Mai 1952 in Noordwijk aan Zee starb.

2 Grundprinzipien der Montessori-Pädagogik

2.1 Die Sicht des Kindes

Maria Montessori bezeichnete das Kind als „Baumeister des Menschen“ („il bambino costruttore dell’uomo“, Montessori 1992, S. 14), womit sie ihm kreative Selbstgestaltungskräfte zuschrieb. „Das Kind ist nicht ein leeres Gefäß, das wir mit unserem Wissen angefüllt haben und das uns so alles verdankt. Nein, das Kind ist der Baumeister des Menschen, und es gibt niemanden, der nicht von dem Kind, das er selbst einmal war, gebildet wurde“ (Montessori 1972, S. 139).

Andererseits kann das Kind sich nur in Abhängigkeit von seiner geistigen und materiellen Umwelt entfalten, die es absorbiert.

Maria Montessori kam zu diesen Feststellungen durch ganz konkrete Beobachtungen von Kindern, die sie mit geübtem Auge und wachem Geist vornahm. Dabei stellte sie immer wieder fest, wie sehr der Entwicklungs- und Lernprozess des Menschen durch eine innere Uhr und zum anderen durch eine vorbereitete Umgebung bestimmt ist.

Diese Beobachtungen werden von heutigen HirnforscherInnen bestätigt, so z.B. von Gerald Hüther aus Göttingen, der aussagt, dass das Kind mit Potenzialen auf die Welt kommt und danach strebt, an eigenen Aktivitäten zu wachsen und geborgen zu sein in seiner Umgebung (Juul und Hüther 2009).

2.2 Sensible Phasen

Der Entwicklungsprozess verläuft nach Maria Montessori in sogenannten sensiblen Phasen. Es handelt sich dabei um besondere Empfänglichkeitszeiten für bestimmte Inhalte. Sie sind von vorübergehender Dauer und ermöglichen dem Kind das Erwerben von bestimmten Fähigkeiten. Sobald dies geschehen ist, klingt die betreffende Empfänglichkeit wieder ab.

Wird dem Kind dies verwehrt, kommt es zu Entwicklungsstörungen, die sich später nur noch schwer, unter Umständen überhaupt nicht mehr, überwinden lassen (Montessori 1987, S. 49).

Den Begriff „sensible Phasen“ hat Maria Montessori von dem Biologen Hugo de Vries, den sie 1917 in den Niederlanden traf, übernommen und in die Pädagogik eingeführt.

Nach Montessori müssen PädagogInnen diese Sensiblen Phasen beachten in dem Wissen, dass nicht alle Kinder ihrer Gruppe sich zur gleichen Zeit in der gleichen Sensiblen Phase für bestimmte Inhalte befinden.

2.3 Der absorbierende Geist

Maria Montessori sprach beim Kind von einer „privilegierten Geistesform“, besonders im Alter bis zu drei Jahren. Darunter versteht sie eine besondere Art der Lernfähigkeit, die sie „absorbierenden Geist“ nannte (Montessori 1987, S. 23 ff.).

„Einfach indem es lebt, erlernt das Kind die Sprache seiner Rasse. In ihm ist eine Art ‚geistige Chemie‘ am Werk“ (ebd.). Das Kind assimiliert die Sprache ganzheitlich, ohne Differenzierung zwischen Syntax, Semantik und Phonetik.

„Erst nach wiederholten Versuchen erlangten wir die Gewissheit, dass alle Kinder ohne Unterricht die Fähigkeit besitzen, Kultur zu ‚absorbieren‘“ (ebd., S. 5).

„Wir konnten somit feststellen, dass die Erziehung nicht das ist, was der Lehrer vermittelt, sondern ein natürlicher Prozess, der sich im menschlichen Individuum abwickelt; Erziehung wird nicht nur durch Worte erworben, sondern Kraft der Erfahrungen aus der Umgebung“ (ebd., S. 6).

2.4 Polarisation der Aufmerksamkeit

Maria Montessori hatte in der Casa dei Bambini in Rom ein Schlüsselerlebnis bei der Beobachtung eines etwa dreijährigen Mädchens, das mit den Einsatzzylindern, einem Sinnesmaterial, arbeitete. Dabei ließ es sich durch keine Ablenkung, wozu Montessori die anderen Kinder aufrief, von ihrer großen Konzentration auf die selbst gestellte Aufgabe stören.

Montessori bezeichnete dies als Polarisation der Aufmerksamkeit, die sie so beschrieb: „‚Das Aufgehen in einer Arbeit‘, einer interessanten, frei gewählten Arbeit, die die Kraft hat zu konzentrieren und, anstatt zu ermüden, die Energien, die geistigen Fähigkeiten und die Selbstbeherrschung erhöht“ (Montessori 1972, S. 185).

Es handelt sich nicht um eine „Beschäftigung“, sondern um eine vom Gegenstand ausgehende Faszination. In vergleichbarer Weise hat Mihály Csiksentmihaly dieses Phänomen als „Flow“ beschrieben.

Dieses Phänomen ist bei jedem Kind zu beobachten, wenn ihm die Freiheit gelassen wird, seinen Interessen nachzugehen, und es ungestört seinem Tätigkeitsdrang folgen kann.

Maria Montessori beschreibt als Folgeerscheinungen der Polarisation der Aufmerksamkeit „die spontane Disziplin, die ständige, freudige Arbeit, die sozialen Gefühle der Hilfe und des Verständnisses für die anderen“ (ebd.).

2.5 Die Haltung der Erwachsenen

„Immer muss die Haltung des Lehrers die der Liebe bleiben. Dem Kind gehört der erste Platz, und der Lehrer folgt ihm und unterstützt es. Er muss auf seine eigene Aktivität zugunsten des Kindes verzichten. Er muss passiv werden, damit das Kind aktiv werden kann“ (Montessori 1968, S. 21).

Hier werden nicht nur Ansprüche für die Anwendung pädagogischer Methoden gestellt, vielmehr geht es um die menschliche Haltung insgesamt. Maria Montessori formulierte sehr klar und deutlich, welche Haltung sie von den Erwachsenen erwartete. „Die Vorbereitung, die unsere Methode vom Lehrer verlangt, besteht in Selbstprüfung und im Verzicht auf die Tyrannei. Er muss aus seinem Herzen Zorn und Stolz verbannen, muss lernen demütig zu sein und sich in Liebe kleiden. Das ist die innere Haltung, die er einnehmen muss“ (Montessori 1987, S. 156 f.).

Nach Montessori sollen die Erwachsenen, neben Lehrerinnen und Lehrern auch die Eltern, das weit verbreitete Kontrollbedürfnis hinter sich lassen zugunsten einer achtungsvollen Haltung dem Kind, dem Jugendlichen gegenüber. Sie sollen das Kind beobachten, in Respekt begleiten und in der Achtung seiner Selbstverwirklichungskraft, seiner wachsenden Selbstständigkeit und nur dann als HelferIn auftreten, wenn das Kind, der Jugendliche das wünscht. Sie sollen ermutigen und stärken im Sinne einer Feedbackkultur.

3 Erziehung und Bildung in Kinderhaus und Schule

3.1 Die Beobachtung

1993 traf die Autorin dieses Beitrags in Buenos Aires bei einem Montessori-Seminar in der Fundacion Holismo eine alte Dame, Frances Wolff, eine gebürtige Engländerin, die 1921 in London bei Maria Montessori einen Diplomkurs absolviert hatte.

Sie berichtete, wie wichtig Maria Montessori das Einüben des Beobachtens war. Deshalb stellte sie an den Beginn des Kurses die Aufgabe, Kinder während der Freiarbeitsphase in der Casa dei Bambini in London zu beobachten – drei Stunden im Stehen. Als eine Teilnehmerin meinte, dass sie das nicht aushalten könnte, schickte Montessori sie nach Hause mit den Worten: „Zuerst müssen Sie das Beobachten lernen, erst dann können Sie Montessori-Pädagogin werden.“

Mit Beobachten ist empathisches Beobachten gemeint, einfühlsames Beobachten, dass Kinder und Jugendliche so belässt, wie sie sind, nicht ein wertendes, urteilendes, verurteilendes Beobachten. Hier geht es um ein Wahrnehmen, das Distanz hält und zugleich von Einfühlung getragen wird. Deshalb ist die Beobachtung absolutes „Muss“ in einer Institution, in der nach den Grundsätzen der Montessori-Pädagogik gearbeitet werden soll.

Es hat sich bewährt, solch eine Beobachtung über einen Zeitraum von dreißig Minuten zu machen und die Tätigkeiten des jeweiligen Kindes, des Jugendlichen detailliert zu dokumentieren, ohne Bewertungen und ohne Deutungen. Anschließend kann das beobachtete Kind bzw. der oder die Jugendliche – auf freiwilliger Basis – Einblick in den Beobachtungsbogen erhalten, um dann in einen Dialog über die Arbeitsweise zu gelangen.

3.2 Die vorbereitete Umgebung

„Wir bereiten eine Umgebung vor, die reich an interessanten Aktivitätsmomenten ist. Wir eröffnen einen Arbeitsweg, der höhere Dinge aufweist als die, von denen man bis jetzt annahm, sie seien für dieses Alter genügend. Das Kind weiß nicht, wie es sich diese Umgebung schaffen soll. Nur der Erwachsene kann es tun, und das ist die einzige tatsächliche Hilfe, die man dem Kind geben kann“ (Maria Montessori 1968, S. 20).

Der Begriff „vorbereitete Umgebung“ umfasst die architektonische Gestaltung eines Kinderhauses oder einer Schule sowie die Ausstattung der Räume. Regale, Tische und Stühle sollen dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst, und alles in gepflegtem Zustand und in übersichtlicher Ordnung sein. Die Raumunterteilung soll so gestaltet sein, dass das Kind sich frei bewegen, verschiedene Plätze einnehmen und das jeweils geeignete Material leicht erreichen kann.

In der vorbereiteten Umgebung sieht Maria Montessori eine notwendige Voraussetzung zur Umsetzung ihrer Pädagogik, weil sie den Selbstaufbau der Kinder, der Jugendlichen als das grundlegende Merkmal im Entwicklungs- und Lernprozess ansieht.

3.3 Montessori-Material

„Das Montessori-Material entspricht in seiner Klarheit, Strukturiertheit und Sachlogik den sensitiven Entwicklungsphasen des Kindes. Diese günstigsten Lernzeiten für bestimmte Tätigkeiten, Fähigkeiten, Haltungen und Einstellungen können mit Hilfe des Entwicklungsmaterials optimal genutzt werden“ (Deutsche Montessori-Vereinigung e.V. 1978, S. 6 f.).

Nach Maria Montessori ist das Material „materialisierte Abstraktion“ (Montessori 1988, S. 197). Es geht um weit mehr als um das bloße Hantieren mit interessanten Gegenständen. Dingliches und Abstraktion durchdringen sich – und das wird dabei ganz selbstverständlich vom Kind selbst entdeckt.

Merkmale der von Maria Montessori und ihrem Sohn Mario Montessori entwickelten Materials sind:

  • der wissenschaftliche Charakter
  • die Isolierung des Problems
  • die selbstständige Lösungskontrolle
  • die Aufforderung durch Ästhetik.

Und bezogen auf die Gruppe in Kinderhaus und Schule:

  • Begrenzung: Nur ein Materialexemplar ist jeweils im Raum vorhanden.

Im Folgenden werden aus der Vielfalt der Materialien einige besonders wichtige vorgestellt.

3.3.1 Übungen des täglichen Lebens

Montessori wählte dazu Übungen aus, die zum Teil aus der häuslichen Umwelt der Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren und später stammten.

Es sind zum Beispiel:

  • Wassergießen aus verschiedenen Behältern in weitere Gefäße
  • Schütten von Erbsen, Linsen, Reis u.a. von einem Behälter in andere
  • Löffeln von Nüssen, Kastanien, Erbsen, Reis mit verschiedenen Löffeln in verschieden große Schalen
  • Übungen im Wischen (Tisch, Metall, Schuhe, …)
  • Sorge für die eigene Person (Körperpflege, An- und Auskleiden, Zuknöpfen und Schnüren)
  • Übungen im Umgang mit anderen (Grüßen, Anbieten, Danken, Entschuldigen, …)
  • Sorge für die Umgebung (drinnen: Ordnen und Reinigen von Möbeln, Geräten, Blumen; draußen: Pflege der Umgebung, des Hauses, z.B. Fegen)
  • Übungen der Stille (Hören einzelner Geräusche oder Töne, z.B. das Ticken einer Uhr, ein Vogel, der Regen, die Klangschale, oder Übungen aus dem Yoga, Qi Gong oder dem Theaterbereich)

Ziele der Übungen des täglichen Lebens sind:

  • Entwicklung und Koordination der Bewegung
  • Förderung und Harmonisierung von Bewegungsabläufen
  • Überwinden von Unruhe und Unordnung
  • Förderung der Unabhängigkeit des Kindes vom Erwachsenen
  • Förderung der Selbstständigkeit und des Selbstwertgefühls des Kindes
  • Entwicklung von Verantwortungsbewusstsein für die Umgebung

3.3.2 Sinnesmaterial

Die Arbeit mit diesen Materialien ermöglicht die Schulung der Sinne. Besonderes Merkmal ist die Isolierung der verschiedenen Sinnesgebiete, z.B. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken.

Aus der großen Auswahl sind hier einige Beispiele:

Material zum Erkennen von Dimensionen

  • Einsatzzylinder
    Vier Blöcke aus Holz enthalten jeweils zehn Zylinder mit Knöpfen. Sie haben unterschiedliche Dimensionen.
    Block 1: dick und dünn
    Block 2: groß und klein
    Block 3: flach und hoch
    Block 4: hoch und tief
    Ziel
    ist das Training der Schreibfinger, die visuelle Zuordnung und Unterscheidung verschiedener Dimensionen und eine Wortschatzbereicherung.
  • Rosa Turm
    Das Material besteht aus zehn rosa lackierten Kuben, die sich in drei Dimensionen unterscheiden (Höhe, Breite, Tiefe). Deren Volumen wächst von 1 qcm bis 1000 qcm.
    Ziel:
    Bewegungskoordination, Stärkung der Hände, Erfahrung der Relation zwischen Größe und Gewicht, Übung der Grob- und Feinmotorik, Vorbereitung auf Mathematik.
  • Braune Treppe
    Sie besteht aus zehn Prismen in brauner Farbe und gleicher Länge. Sie unterscheiden sich in Breite und Höhe, also in zwei Dimensionen.
    Ziel:
    Bewegungskoordination und Training des Muskelgedächtnisses, Erfahrung der Relation von Größe und Gewicht, Vorbereitung auf Mathematik.
  • Material zum Erkennen der Farben
    Es gibt vier Farbkästen. Der erste enthält drei Farbpaare der Grundfarben Rot, Gelb und Blau. Kasten zwei enthält neben den drei Grundfarben die Farben Orange, Grün, Violett, Rosa, Grau, Braun, Weiß und Schwarz.
    Kasten drei enthält neun Farben mit Täfelchen in jeweils sieben Schattierungen.
    Kasten vier enthält insgesamt 16 Paare von Täfelchen in unterschiedlichen Farben und Schattierungen.
    Ziel:
    Kennenlernen der Grund-, Misch- und Komplementärfarben, Training und Verfeinerung des Farbsinns, Vorbereitung auf künstlerische Tätigkeiten, Wortschatzbereicherung.
  • Material für den Tastsinn
    Die Tastbrettchen sind aufgeteilt in zwei Kästen.
    Kasten A enthält fünf Paare, die in ihrer Rauheit abgestuft sind.
    Kasten B enthält fünf Paare, die in ihrer Glattheit abgestuft sind.
    Ziel:
    Schulung des Tastsinns, Entwicklung der Feinmotorik, Training des Handgelenks, Vorbereitung auf das Schreiben, Wortschatzbereicherung.
  • Material für den Gehörsinn
    Die Geräuschdosen bestehen aus zwei gleich großen Holzkisten, einer mit einem roten, der andere mit einem blauen Deckel. In jedem Kasten sind sechs hölzerne Dosen, die verschiedene Körner enthalten, die unterschiedliche Geräusche erzeugen.
    Die beiden Serien entsprechen sich, d.h. die Dosen mit dem gleichen Geräusch sollen gefunden werden.
    Ziel:
    Schulung des Gehörs, Schärfung der akustischen Wahrnehmung, Vorbereitung auf Musik.

3.3.3 Mathematisches Material

Arithmetik

  • Goldenes Perlenmaterial
    Das Material besteht aus einer Menge goldfarbener Perlen:
    Lose Perlen (Einer)
    Stäbchen mit zehn Perlen (Zehner)
    Quadrate mit hundert Perlen (Hunderter)
    Kubus mit tausend Perlen (Tausender)
    Dazu mehrere Tabletts
    Ziel:
    Struktur des Dezimalsystems kennenlernen, Schulung der Feinmotorik, Vorbereitung der Geometrie:
    Eine Perle – Punkt
    Zehn-Perlen-Stab – Strecke
    Hundert-Perlen-Quadrat – Fläche
    Tausend-Perlen-Kubus – Körper
    Mit dem Goldenen Perlenmaterial können alle vier Grundrechenarten durchgeführt werden.
  • Multiplikation auf dem Schachbrett
    Das Material ist ein rechteckiger Holzkasten mit vier Reihen von neun Quadraten, deren Farben den Wert der jeweils auf ihnen liegenden Perlen bestimmen:
    Grün – Einer, Tausender, Million
    Blau – Zehner, Zehntausender, zehn Millionen
    Rot – Hunderter, Hunderttausender, hundert Millionen
    Es gehört dazu der Perlenkasten mit Perlen in verschiedenen Farben von Ziffer 1 bis 9.
    Ziel
    : Verstehen der Operation der Multiplikation
    Erkennen der Werte der einzelnen Ziffern einer Aufgabe und einer Lösung
    Förderung der Feinmotorik
  • Division mit der „Großen Division“
    Das Material besteht aus einem Tablett für den Dividenden mit grünen Perlen in zehn Röhrchen für Einer, blauen Perlen in zehn Röhrchen für Zehner, roten Perlen in zehn Röhrchen für Hunderter, grünen Perlen in zehn Röhrchen für Tausender usw.
    Für die Division gibt es Bretter mit 81 Mulden für die aufzufüllenden Perlen. Ist die Division einstellig, wird ein grünes Brett benötig, bei einer zweistelligen Division ein grünes und ein blaues usw.
    Ziel:
    Einsicht in die Operation des Dividierens
    Erkennen der Werte der einzelnen Ziffern in der Aufgabe und der Lösung
    Förderung der Feinmotorik

Geometrie

  • Die blauen Körper – Große geometrische Körper
    Das Material besteht aus 16 Holzkörpern, die auf einer Grundfläche von 10 x 10 cm stehen und eine Höhe von 20 cm haben.
    Es handelt sich um:
    Vierseitiges Prisma mit Quadrat als Grundfläche
    Vierseitiges Prisma mit Raute als Grundfläche
    Dreiseitiges Prisma mit gleichseitigem Dreieck als Grundfläche
    Satz mit zwei dreiseitigen Prismen
    Sechseckiges Prisma mit Sechseck als Grundfläche
    Sechseckiges Prisma, aufgeteilt in ein fünfseitiges Prisma und zwei kleine dreiseitige Prismen
    Vierseitige Pyramide
    Dreiseitige Pyramide
    Zylinder
    Kegel
    Ellipsoid
    Ovoid oder Ei
    Kugel
    Kleines vierseitiges Prisma
    Kleines dreiseitiges Prisma
    Kleiner Zylinder
    Ziel
    für Kinder im Kinderhaus und in der Primarstufe:
    Sinnliches Erfassen der Körper
    Kennenlernen ihrer Eigenschaften und ihrer Bezeichnung
    Ziel
    für Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe:
    Sinnliches Erfassen der Körper
    Berechnung von Oberfläche und Volumen

3.3.4 Sprachmaterial

  • Die Wortarten-Symbole
    Die Einführung erfolgt mit Hilfe eines gestalteten Bauernhofes mit einer umfangreichen Ausstellung an Gebäuden, Zäunen, vielen verschiedenen Tieren und einigen Menschen.
    Dazu gibt es einen Kasten mit zehn Wortarten-Symbolen zum Legen.
    Direktes Ziel
    : Die Funktion der Worte bewusst machen.
    Indirekte Ziele
    : Sinnentnehmendes Lesen
    Genaues Sprechen
    Differenzierter Sprachgebrauch
    Das „Wortarten-Märchen“ geht auf Maria Montessori zurück. Es kann Kindern in spielerischer Weise in die Wortarten-Symbolik einführen.
    Zuerst werden den Teilen des Bauernhofs, z.B. „Kuh“, „Haus“, „Mann“ das Symbol schwarze Pyramide zugeordnet, ohne den Begriff „Nomen/​Substantiv“ zu erwähnen. Erst später folgt das Aufschreiben der Gegenstände aus dem Bauernhaus auf Papierstreifen und die Bezeichnung der Wortarten.
    Die Wortarten-Symbole können jeweils für die Muttersprache und auch für Fremdsprachen genutzt werden. Maria Montessori hat sie zunächst für die italienische Sprache entwickelt.
  • Die kleine Satzzerlegungstabelle
    Das Material besteht aus einer Holzplatte (20 x 50 cm), in deren Mitte sich ein großer roter Kreis befindet für das Prädikat. Nach links gibt es einen schwarzen Pfeil mit der Frage „Wer?“ für das Subjekt, der auf einen großen schwarzen Kreis zeigt. Nach rechts gibt es einen schwarzen Pfeil mit der Frage „Wen? Was?“, auf einen kleineren schwarzen Kreis für das Akkusativobjekt verweisend.
    Ziel
    : Analyse von einfachen Sätzen mit Subjekt, Prädikat und Akkusativobjekt.
    Indirektes Ziel
    : Analyse des Lesens, Erweiterung der Ausdrucksfähigkeit
  • Vier Satzzerlegungskästen
    Das Material besteht aus vier Holzkästen, die vom einfachen zum komplizierten Satz führen. In den Kästen liegen große rote Kreise für das Prädikat, große schwarze Kreise für das Subjekt, kleinere für das Akkusativobjekt, noch kleinere für das Dativobjekt, orangene Kreise für die verschiedenen Adverbialen Bestimmungen, blaue Dreiecke für die Attribute, schwarze Dreiecke für die Appositionen.
    Dazu gibt es schwarze Pfeile mit und ohne Fragen, orange Pfeile mit und ohne Fragen für die Adverbialen Bestimmungen.
    Die Materialien bestehen alle aus Holz.
    Ziel
    : Aufmerksamwerden auf die Funktion der Wörter im Satz, z.B. Prädikat, Subjekt, Objekte, Adverbiale Bestimmungen usw.
    Indirektes Ziel
    : Analyse des Lesens
    Erweiterung der Ausdrucksfähigkeit
  • Der Satzstern
    Das Material besteht aus einer Platte (40 x 50 cm), darauf ist in der Mitte ein großer roter Kreis aufgemalt (für das Prädikat), um ihn sind sternförmig schwarze und orangene Pfeile und unterschiedlich große schwarze Kreis (für Subjekt und Objekte) und kleine orangene Kreise (für die Adverbialen Bestimmungen) aufgemalt.
    Das Material ist dazu geeignet, dass Kinder selbstständig Sätze erfinden und diese auf Papierstreifen schreiben und den Symbolen zuordnen.
    Es können sehr lange Sätze gebildet werden.

3.3.5 Kosmisches Material

  • Schwarzes Band
    Das Schwarze Band ist 46 m lang und aus Stoff. 46 m bedeuten 4,6 Milliarden Jahre Erdgeschichte. Am Ende des Schwarzen Bandes sind 2 cm roter Stoff angebracht. Dieser rote Streifen symbolisiert das Leben der Menschen auf der Erde. Kinder erfahren mit allen Sinnen, wie lange die Entwicklung der Erde und der Menschen dauerte.
    Zum Material gehört das Lesebuch „Kosmische Erzählung“ von Maria Montessori über die Entstehung der Erde. Ebenso befinden sich Tiere in dem Material, die das Kind nach Angaben der Erzählung auf die Abschnitte der Evolution stellt.
    Ziel
    : Sinnliches Erfassen der Evolution der Erde, der Tiere, der Menschen
  • Einzelne Länderflaggen
    Das Material besteht aus vier Ständern mit Flaggen aus Asien, Europa, Afrika und Nord- und Südamerika.
    Die Flaggen können von den Kindern auf Karten der verschiedenen Erdteile gestellt werden.
    Ziel
    : Blick in die Welt
    Kennenlernen der verschiedenen Länder, die zu den Erdteilen gehören

3.4 Freiarbeit

Aus dem Konzept des Kindes als Baumeister ergibt sich logisch die hohe Bedeutung von Freiarbeit, die Montessori für die Kinder beanspruchte. Sie wollen arbeiten, ihre Arbeit ist es, sich und ihre Welt aufzubauen. Und damit sie das nach ihren inneren Potenzialen und entsprechend der jeweiligen aktuellen Entwicklungsphase tun können, brauchen sie möglichst viel Freiheit. Das ist der Kern des Konzepts der Freiarbeit.

Die Erwachsenen treten zurück, überfallen das Kind nicht mit ihren vorgefertigten Ideen und Aufgaben, sondern lassen diesem seine eigene Aktivität. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die vorbereitete Umgebung zu bereiten. Dazu gehört sehr wesentlich auch die innere Vorbereitung der Pädagoginnen und Pädagogen. Freiarbeit und vorbereitete Umgebung sind untrennbar miteinander verbunden.

Freiarbeit, d.h. die freie Wahl der Tätigkeit, ist das Herzstück der Montessoripraxis. Sie bedeutet:

  • eigene Wahl der Lerninhalte, der Arbeitsmittel und Materialien
  • individueller Lern- und Arbeitsrhythmus
  • individuelles Lerntempo
  • frei gewählte Sozialform (Einzel-, Partner-, Gruppenarbeit)
  • Dokumentation der geleisteten Arbeit (Tagebuch, Portfolio, Karteikarten) aufseiten der Kinder/​Jugendlichen und der PädagogInnen, um Überblick zum Lernfortschritt zu behalten.

Ziel der Freiarbeit ist selbstständiges, eigenverantwortliches Arbeiten und Lernen seitens der Kinder und Jugendlichen.

3.5 Fehlerkultur

„Betrachten wir den Fehler an sich. Es muss zugegeben werden, dass alle irren können; es ist eine Lebensrealität; und wird das zugegeben, ist das ein bedeutender Schritt auf dem Weg zum Fortschritt. […] So wird es besser sein, dem Fehler gegenüber ein freundschaftliches Verhalten an den Tag zu legen und ihn als einen Gefährten zu betrachten, der mit uns lebt und einen Sinn hat – und den hat er wirklich. Viele Fehler korrigieren sich spontan im Laufe des Lebens“ (Montessori 1972, S. 222).

Es ist nach Montessori wichtig, den Kindern/den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, ihre Fehler selbst zu entdecken und sie ohne besondere Emotionen zu kontrollieren und zu verbessern. Damit behält der junge Mensch seine Würde und verliert nicht seine Motivation zu lernen.

3.6 Altersmischung

Eine altersgemischte Gruppe ist die natürlichste Form einer menschlichen Gemeinschaft, so in der Familie, an Arbeitsstellen, in pädagogischen Teams, in Elterngruppen, in Gruppen im Kinderhaus – nur nicht in den Schulen!

„Unsere Schulen haben bewiesen, das sich die Kinder verschiedenen Alters untereinander helfen; die Kleinen sehen, was die Größeren tun, und bitten sie um Erklärungen, die diese ihnen gern geben. […] Alle die größeren werden zu Helden und Meistern, und die Kleinen bewundern sie. Sie lassen sich von ihnen inspirieren und arbeiten dann allein“ (Montessori 1972, S. 203).

In altersgemischten Klassen gibt es weniger Konkurrenzkampf, und der damit verbundene Leistungsdruck sinkt spürbar. Das Thema, besser sein zu „müssen“ als andere, verliert an Bedeutung, ebenso die Angst, „schlechter“ zu sein. Das einzelne Kind in seiner Einmaligkeit tritt viel deutlicher hervor.

Maria Montessori nannte als die geeignete Form der Altersmischung einen Altersunterschied von mindestens drei Jahren (Montessori 1989, S. 165). Die Dreiermischung lässt einen Rollenwechsel und das Erleben verschiedener Rollen zu, nämlich in einer Gruppe einmal zu den Jüngsten, dann zu den Mittleren und schließlich zu den Ältesten zu gehören.

3.7 Feedbackkultur – Leistungsbegriff und Leistungsmessung

Freiarbeit in Kinderhaus und Schule erfordert ein individuelles und dialogisches Feedback. Das Gespräch zwischen Kind, Jugendlichen und den PädagogInnen ist für die Lernenden so wichtig, da sie neben ihrer Selbsteinschätzung einer Gegenüberstellung, einer Fremdmitteilung bedürfen. Umgekehrt gilt das aber auch für die Pädagoginnen und Pädagogen, wenn sie ihren komplexen Aufgaben wirklich gerecht werden wollen. Diese Gespräche finden individuell in der Freiarbeit statt und sind von großem Vertrauen geprägt.

Auch zwischen den PädagogInnen und den Eltern der Kinder und Jugendlichen finden regelmäßig Gespräche statt und geben beiden Seiten wertvolle Feedbacks zum Entwicklungsstand, zum Sozialverhalten und den Leistungen der Schülerinnen und Schüler.

Es werden an den Montessori-Schulen in Bayern zum Beispiel zum Halbjahr persönliche Briefe geschrieben als Feedback und als Anerkennung. Sie stellen die persönliche Entwicklung und den Leistungsstand des Kindes/​Jugendlichen dar und benennen weitere Möglichkeiten und Notwendigkeiten für den Lernprozess.

Die vom Montessori Landesverband Bayern in jahrelanger Arbeit vieler PädagogInnen entwickelten IZELs (Informationen zum Entwicklungs- und Lernprozess) bilden ein jährlich ausgestelltes Feedback für die Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen. Es handelt sich um eine detaillierte, kategorisierte Zusammenstellung von Lernzielen, z.T. aus dem staatlichen Lehrplan, z.T. darüber hinaus.

3.8 Kosmische Erziehung

Maria Montessori betrachtete den Menschen als Mikrokosmos, als Teil eines kosmischen Ganzen, des Makrokosmos. Seine Aufgabe sei es, an der Verwirklichung eines universellen „kosmischen Plans“ mitzuwirken.

Sie rühmte die großartigen technischen Fortschritte und hervorragenden kulturellen Leistungen in den vergangenen Jahrhunderten, wies zugleich aber auf die tiefe Kluft zwischen dem äußeren technischen Fortschritt und der inneren Entwicklung des Menschen hin. Ihrer Meinung nach waren den Menschen ihre eigenen Errungenschaften entglitten. „Er ist orientierungslos und besitzt keine Kontrolle über seine eigene Schöpfung“ (Montessori 1988, S. 25).

In dieser Richtung sah Maria Montessori die Aufgabe der Erziehung. Schon im Jahr 1935 sprach sie auf einem Kongress in London über die „kosmische Aufgabe“ des Menschen, das Werk der Schöpfung fortzusetzen und nicht in egoistischer Ausbeutungsmentalität zu handeln.

Speziell für die Erziehung der Kinder und Jugendlichen entwickelte Maria Montessori die „kosmische Erziehung“ und richtete an sie und die Erwachsenen einen bewegenden Appell „zum Gehorsam gegenüber den kosmischen Gesetzen“ (ebd., S. 27). Das ist in einer damals sicherlich nicht vorstellbaren Weise auch heute noch aktuell.

In Indien sagte sie 1945: „Um eine Vorstellung davon zu geben, was wir unter ‚Kosmischer Erziehung‘ verstehen, muss kurz der Hintergrund dieser Frage berührt werden, d.h. die ‚Kosmische Theorie‘. Die erkennt in der ganzen Schöpfung einen einheitlichen Plan, von dem nicht nur die verschiedenen Formen der Lebewesen, sondern auch die Entwicklung der Erde selbst abhängt“ (ebd., S. 19).

Daraus folgt: „Ein universales Bewusstsein“ (ebd., S. 24) solle in dem dafür besonders geeigneten Alter von sechs bis zwölf Jahren geweckt und gefördert werden, ein Bewusstsein für gemeinsame Verantwortlichkeit, da „jeder Mensch vom anderen abhängig ist und jeder zur Existenz aller beitragen muss“ (ebd., S. 27).

3.9 Erdkinderplan

Maria Montessori traf über die Zeit der Pubertät Aussagen, die auch heute noch Gültigkeit haben, etwa wenn sie schrieb: „Es ist ein Alter der Zweifel und der Unsicherheiten, der heftigen Gemütsbewegungen und der Entmutigung“ (Montessori 1988, S. 133). Daraus folgerte sie, dass die Jugendlichen, bedingt durch körperliche Veränderungen und innerpsychische Entwicklungen, eher praktische, handwerkliche Tätigkeiten benötigen. Erst später hätten sie wieder mehr Motivation zur Konzentration auf abstrakte Inhalte, also zu dem, was bis auf den heutigen Tag in erster Linie den Stoff schulischen Lernens ausmacht, gerade auch während der Pubertät.

Von daher schlug Montessori für 12- bis 18-Jährige radikale Veränderungen des bisherigen schulischen Angebots für Jugendliche vor und entwickelte dazu einen eigenen „Erdkinderplan“, den sie als „Erfahrungsschule des sozialen Lebens“ bezeichnete (Montessori 1988, S. 136).

Als ideal dafür geeignet sah Montessori eine solche Schule auf dem Land, weg von den Eltern, mit einer Gärtnerei, mit Ackerbau, einem Bäcker, einem Restaurant und einem Geschäft, wo die Jugendlichen wirtschaften und auch Geld einnehmen. Dort bieten sich die besten Möglichkeiten, um Zusammenarbeit im Team, Verantwortung, Achtung von Grenzen und Regeln zu erlernen. Innerhalb solcher Tätigkeiten können sich die Jugendlichen den für diese Entwicklungsphase zentralen Aufgaben widmen, sie können ihre Persönlichkeit entwickeln.

3.10 Erziehung zum Frieden

Im Jahre 1937 hielt Maria Montessori auf dem Internationalen Montessori-Kongress in Kopenhagen einen Vortrag zum Thema „Erziehung zum Frieden“. 200 Teilnehmende aus 20 Ländern hörten ihr zu. Immer wieder appellierte sie an ihre Zuhörerschaft:
„Educate per la pace“ – „Erzieht für den Frieden.“

Dreimal wurde sie für den Friedensnobelpreis nominiert: 1949, 1950 und 1951. Doch sie erhielt ihn nie.

Friede war für Maria Montessori keine ausschließlich politische, völkerrechtliche Größe, sondern eine allumfassende Grundaufgabe für die Menschen. Sie sah im Frieden mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg.

„Der wahre Friede bedeutet Sieg der Gerechtigkeit und der Liebe unter den Menschen, bedeutet eine bessere Welt, in der Harmonie herrscht“ (Montessori 1973, S. 4).

Montessori vertraute fest darauf, dass es eine neue Welt, eine friedliche Welt geben kann, wenn wir Erwachsenen es schaffen, die Entwicklungsbedürfnisse der Kinder schon in der frühen Kindheit angemessen zu beachten und zu erfüllen. „Konflikte zu vermeiden“, sagte Montessori, „ist Werk der Politik; den Frieden aufzubauen ist Werk der Erziehung“ (Montessori 1989, S. 43).

„Education for a new world“, „Erziehung für eine neue Welt“ – dieses Buch erschien 1943 in Indien, wo sie seit 1939 gezwungenermaßen lebte.

Friedenserziehung ist heute ein Grundprinzip an Montessori-Schulen, das im Umgang mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gelebt wird. Ganz konkret bedeutet dies für das friedliche Miteinander im Alltag:

  • Verzicht auf Überlegenheitsattitüden von Erwachsenen
  • Achtsamkeit in Wort und Tat
  • empathisches Beobachten statt vorschnellem Bewerten
  • Altersmischung in den Lerngruppen
  • Umgehen auf Augenhöhe
  • Übergeben von Verantwortung
  • Teilhabe der Schülerinnen und Schüler an der Schulentwicklung, z.B. im Klassen- und Schülerrat
  • Entwicklung einer Streit- bzw. Konfliktkultur mit festgelegten Strukturen und Abläufen
  • regelmäßige und kontinuierliche Supervision (nicht erst, wenn sich Schwierigkeiten bereits festgefahren haben)
  • eine ganze Vielzahl von Aktivitäten und Projekten kann dem Ziel dienen, für friedlichen Umgang zu sensibilisieren, z.B. Stille- und Körperübungen, Theaterarbeit, politische Aufklärung.

Auf dem Grabstein Maria Montessoris in Noordwijk aan Zee in den Niederlanden steht zu lesen:
„Io prego i cari bambini, che possono tutto, di unirsi a me per la costruzione della pace negli uomini e nel mondo.“
„Ich bitte die lieben Kinder, die alles können, mit mir zusammen für den Aufbau des Friedens zwischen den Menschen und in der Welt zu arbeiten.“

4 Kritik

Gelegentlich wird gemutmaßt, die Montessori-Pädagogik und ihre Gründerin seien weltanschaulich gebunden. Montessoris Menschenbild basierte auf christlichem Verständnis, war darauf aber in keiner Weise fixiert. Sie war vielmehr offen für viele philosophische Richtungen. Ihr Hauptaugenmerk richtete sie auf die empirische Erforschung des kindlichen Entwicklungs- und Lernprozesses. In der modernen Hirnforschung finden ihre Erkenntnisse umfassende Bestätigung.

4.1 Fehlende Leistungsbeurteilungen in Form von Noten

Als Erwiderung auf den häufiger zu hörenden Einwand, es fehle in Montessori-Schulen an Leistungsbeurteilungen in Form von Noten, sei hier näher auf das Schulkonzept des Landesverbands Bayern eingegangen. Dort heißt es (Montessori Landesverband Bayern 2015, S. 78):

  • „Leistung bezieht sich immer auf den einzelnen Menschen und muss die individuellen Gegebenheiten berücksichtigen.
  • Leistung ist immer eingebettet in den Prozess der konkreten Arbeit und ist in Verbindung mit dem jeweiligen Entwicklungsstand zu sehen.
  • Leistung kann sich nur entfalten, wenn Motivation und Lernbereitschaft gegeben oder erarbeitet sind.
  • Leistung zählt nicht nur als Prozess und Ergebnis einer individuelllen Arbeit, sondern auch als Prozess und Ergebnis einer Partner- oder Gruppenarbeit.
  • Leistung erfährt eine wesentliche Vertiefung durch die emotionale Verbundenheit mit der Arbeit.
  • Leistung wird nicht nur von außen, sondern in einem Prozess der Selbstkontrolle und Selbsteinschätzung von den Schülerinnen und Schülern selbst festgestellt und bewertet.
  • Leistung braucht Sinngebung und die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen.“

In einem Ziffernzeugnis können diese Prinzipien nicht verwirklicht werden.

Stattdessen wurden in Bayern (und anderswo in vergleichbarer Weise) „Informationen zum Entwicklungs- und Lernprozess“ (IzEL) entwickelt. Diese gehen auf Aktivitäten zurück, die bereits Professor Theodor Hellbrügge, Gründer der ersten Montessori-Schule in Bayern (1972), angestoßen hatte. Auf dieser Grundlage und auch angeregt durch die damalige bayrische Kultusministerin Monika Hohlmeier entwickelte der Montessori-Landesverband Bayern zusammen mit vielen Schulen ein hoch differenziertes Konzept, in dem zu den verschiedenen Lern- und Leistungsgebieten detaillierte Inhaltskategorien in jeweils vier Stufen angekreuzt werden können (ebd., S. 78 ff.):

  1. Anfänge
  2. Basiskenntnisse
  3. gesicherte Kenntnisse
  4. vertiefte Kenntnisse.

Wichtigster Grundsatz dabei ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler aller Klassen zuerst selbst einschätzen und dann in einem Gespräch mit der Lehrkraft das jeweilige Kreuz gemeinsam festsetzen. Immer wieder kommt es vor, dass die Kinder und Jugendlichen sich dabei „strenger“ betrachten als die Lehrkräfte.

Diese Praxis hat sich dermaßen bewährt, dass die immer noch vorherrschende Notenfixierung nur noch obsolet wirkt.

4.2 Vernachlässigung der Kreativität

Dem Kritikpunkt, dass an Montessori-Schulen die Kreativität vernachlässigt werde. kann entgegnet werden, dass die Kinder und Jugendlichen ständig die Möglichkeit zu eigenen Entscheidungen haben. Außerdem gibt es viele Angebote zu Musik, Kunst, Theater.

4.3 Nicht für alle Kinder geeignet?

Oft wird eingewendet, dass die Montessori-Pädagogik, d.h. ein selbstorientiertes Lernen, nicht für alle Kinder geeignet sei. Um es etwas zuzuspitzen: Die Verfasserin, seit 1978 in der Montessori-Arbeit tätig, hat noch kein Kind oder Jugendlichen erlebt oder von Kolleginnen und Kollegen davon gehört, dass diese nicht für Montessori-Pädagogik geeignet wären.

Aber es gibt Erwachsene, Pädagoginnen und Pädagogen oder Eltern, die für diese Pädagogik nicht geeignet sind.

Professor Theodor Hellbrügge hat seine Montessori-Schule von Anfang an als Schule der Integration gegründet. Auch heute sind z.B. die Montessori-Schulen in Bayern inklusive Schulen, die zum Teil auch Therapeutinnen und Therapeuten in ihren Teams haben.

5 Verbreitung und Gegenwart

Die Montessori-Pädagogik ist über die ganze Welt verbreitet. Viele Einrichtungen finden sich in den USA, in Kanada, Indien, Neuseeland, Australien, Singapur, Großbritannien, Niederlande, Skandinavien, Italien, Polen, Bulgarien, Slowakei, Tschechien, Österreich, Schweiz, Deutschland.

Montessori Europe und die Internationale Montessori-Gesellschaft (AMI) veranstalten jährlich große Kongresse, die aus der ganzen Welt besucht und auf denen aktuelle pädagogische Themen diskutiert werden.

6 Quellenangaben

Juul, Jesper und Gerald Hüther, 2009. Erziehen mit Herz und Hirn [DVD]. Was Kinder und Eltern brauchen. München: familylab. ISBN 978-3-935758-13-0

Montessori Landesverband Bayern, 2015. Montessori-Schule – Eine Schule der Vielfalt. Das gemeinsame Schulkonzept für die 1. bis 13. Jahrgangsstufen im Montessori Landesverband Bayern. 5. Auflage. München: Montessori Landesverband Bayern

Montessori, Maria, 1913. Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter. Stuttgart: Julius Hoffmann Verlag

Montessori, Maria, 1968. Grundlagen meiner Pädagogik. 2., durchges. Auflage. Heidelberg: Quelle & Meyer

Montessori, Maria, 1969. Die Entdeckung des Kindes. Herausgegeben und eingeleitet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch. Freiburg: Herder

Montessori, Maria, 1972. Das kreative Kind. Der absorbierende Geist. Herausgegeben und eingeleitet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch. Freiburg: Herder

Montessori, Maria, 1973. Frieden und Erziehung. Die Bedeutung der Erziehung für die Verwirklichung des Friedens. Herausgegeben und eingeleitet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-451-16710-2

Montessori, Maria, 1987. Kinder sind anders. München: Klett-Cotta im Dt. Taschenbuch-Verl. ISBN 978-3-423-15036-1

Montessori, Maria, 1988. Kleine Schriften Maria Montessoris: Teil: 1., Kosmische Erziehung. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-451-21233-8

Montessori, Maria, 1989. Kleine Schriften Maria Montessoris: Teil: 2., Die Macht der Schwachen. Herausgegeben und eingeleitet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-451-21234-5

Montessori, Maria, 1992. La mente del bambino: mente assorbente. Mailand: Garzanti Editore. ISBN 978-88-11-52126-6

Deutsche Montessori-Vereinigung e.V., 1978. Montessori-Material, Teil 1. Zelhem: Nienhues

7 Literaturhinweise

Köpcke-Duttler, Arnold, Armin Müller und Martin Schuster, Hrsg., 2007. Maria Montessori und der Friede. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-451-32059-0

Kramer, Rita, 1995. Maria Montessori. Biographie. Mit einem Vorwort von Anna Freud. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag. ISBN 978-3-596-12455-8

Ludwig, Harald, Hrsg., 2017. Grundgedanken der Montessori Pädagogik. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-451-81125-8

Montessori, Maria, 1991. Schule des Kindes. Montessori-Erziehung in der Grundschule. Herausgegeben und eingeleitet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch. 4. Auflage. Freiburg: Herder. ISBN 978-3-451-17242-7

Müller-Hohagen, Ingeborg und Jürgen, 2008. Montessori – das Richtige für mein Kind? Ein Orientierungsbuch. München: Kösel. ISBN 978-3-466-30792-0

Schwegmann, Marjan, 2002. Maria Montessori: 1870 - 1952. Kind ihrer Zeit – Frau von Welt. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-407-22750-8

Spitzer, Manfred, 2007. Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens. München: Spektrum. ISBN 978-3-8274-1723-7

Standing, Edward Mortimer, 1959. Maria Montessori. Leben und Werk. Stuttgart: Klett

8 Informationen im Internet

Montessori-Verbände international

Montessori-Verbände in Deutschland

Montessori-Verband in Österreich

Montessori-Verband in der Schweiz

Montessori-Landesverbände in Deutschland

Verfasst von
Ingeborg Müller-Hohagen
Ehemalige Rektorin der Montessori-Schule Wertingen, ehemaliges Vorstandsmitglied des Montessori Landesverbands Bayern, Lehrbeauftragte für Montessori-Pädagogik an den Universitäten Augsburg und Passau, Dozentin der Montessori Bildungsakademie München
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Ingeborg Müller-Hohagen.

Zitiervorschlag
Müller-Hohagen, Ingeborg, 2019. Montessori-Pädagogik [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 11.03.2019 [Zugriff am: 14.01.2025]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/4168

Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Montessori-Paedagogik

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