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Moralische Erziehung

Dr. Erika Butzmann

veröffentlicht am 28.05.2025

Übersicht über alle Versionen

Synonym: Moralerziehung

Englisch: moral education

Fassung: Überarbeitung

Moralische Erziehung bezieht sich auf die Vermittlung von moralischen Werten, Normen und Verhaltensweisen an Kinder. Ziel ist es, die Entwicklung von moralischem Bewusstsein und Verantwortungsgefühl zu fördern und die Kinder auf ihr Leben in der Gesellschaft vorzubereiten.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Forschungsstand
  3. 3 Voraussetzungen für die moralische Erziehung
    1. 3.1 Die sichere Eltern-Kind-Bindung
    2. 3.2 Gefühlsansteckung und Empathiefähigkeit in den ersten drei Lebensjahren
    3. 3.3 Der Übergang zum sozialen Denken und Verstehen
    4. 3.4 Das soziale Denken und Verstehen beim Vorschulkind
  4. 4 Beginn der konkreten moralischen Erziehung
    1. 4.1 Die moralische Entwicklung und Erziehung beim Vorschulkind
    2. 4.2 Die moralische Entwicklung und Erziehung beim Grundschulkind
    3. 4.3 Förderung der moralischen Entwicklung im Grundschulalter
  5. 5 Die Rolle der Bezugspersonen als Vorbild
  6. 6 Einordnung der vorgestellten Theorien
  7. 7 Quellenangaben
  8. 8 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Moralische Erziehung bezeichnet den Prozess, den Erwachsene durch angemessene Verhaltensanforderungen und das eigene positive Vorbildverhalten fördern. Dabei spielt der jeweilige sozial-kognitive Entwicklungsstand des Kindes eine ausschlaggebende Rolle, weil sonst die Vorgaben der Erwachsenen äußerlich bleiben und keine Verinnerlichung von moralischen Werten und Normen erfolgen kann. Es bedarf also der Kenntnis dieses Entwicklungsprozesses, der in den ersten sechs Jahren am deutlichsten am Regelverstehen des Kindes festzumachen ist.

Die umfangreichen Forschungen zur Moralentwicklung aus den 1980er- und 1990er-Jahren (Piaget 1981; Kohlberg 1995; Damon 1984; Selman 1982; Keller 1996; Nunner-Winkler 1995) zeigen die einzelnen Stufen des sozial-kognitiven Erkenntnisprozesses, der erst zum Ende des Grundschulalters zu verantwortungsbewusstem moralischem Denken und Handeln führt. Dabei sind Differenzierungen zu beachten, denn der autoritäre Erziehungsstil, der den Forschungen zur Moralentwicklung früher zugrunde lag, ist heute nicht mehr maßgebend bzw. dieser kann die moralische Entwicklung nicht fördern (Piaget 1981, S. 216).

2 Forschungsstand

Die ersten umfassenden Forschungen zur moralischen Entwicklung nahm Jean Piaget ab 1932 vor. Lawrence Kohlberg führte diese in den 1960er-Jahren weiter und formulierte in der Folge die ersten Ausdifferenzierungen (Garz 2015). Von einer großen Anzahl internationaler und nationaler Forscher:innen wurden diese unter vielfältigen Aspekten überprüft und ergänzt (Butzmann 2020, S. 40). Grundlage war dabei immer der sozial-kognitive Entwicklungs- und Erkenntnisprozess des Kindes. Die philosophischen, psychoanalytischen und behavioristischen Aussagen zur Moral wurden nicht einbezogen, denn hier steht der Entwicklungsaspekt weniger im Vordergrund.

3 Voraussetzungen für die moralische Erziehung

3.1 Die sichere Eltern-Kind-Bindung

Die sichere Eltern-Kind-Bindung ist die wichtigste Voraussetzung für die moralische Erziehung. Nur unter dieser Bedingung ist das Kind von Beginn an motiviert, sich an vorgegebene Regeln zu halten. Gibt es häufig Konflikte zwischen Eltern und Kind, liegt in der moderaten Lösung dieser Konflikte die Chance für die Festigung der Bindung und für moralisches Denken und Verstehen beim Kind.

3.2 Gefühlsansteckung und Empathiefähigkeit in den ersten drei Lebensjahren

Vorläufer für moralisches Verhalten ist die biologisch verankerte Gefühlsansteckung (Bischof-Köhler und Zmyj 2025, S. 236 f.), die in den ersten beiden Jahren das vermeintlich soziale Verhalten steuert. Die Reaktionen der Kinder auf Kummer anderer haben in dieser Zeit keine kognitiven Anteile, sondern ihr Verhalten ist impulsgesteuert; denn ihr Ichbewusstsein ist noch nicht voll ausgebildet (Piaget 1974, S. 164). Erst wenn das vom Handeln losgelöste Denken im Alter von eineinhalb bis zwei Jahren möglich wird, können Kinder bewusst und gezielt auf andere zugehen, um ihnen zu helfen. Die impulsgesteuerte Gefühlsansteckung der ersten 18 Monate führt mit ungefähr zwei Jahren zur Empathiefähigkeit.

Aus der Grundlagenforschung zur Empathie stammt die Erkenntnis, dass Empathie eine natürliche Quelle für prosoziale Motivation ist; sie vermag „altruistisches Verhalten zu bewirken, ohne dass hierzu ein Sozialisationsaufwand erforderlich wäre“ (Bischof-Köhler 1989, S. 168). Die Gefühlsansteckung ist angeboren und unterschiedlich stark ausgeprägt (Bauer 2006); sie spielt beim sozialen und moralischen Handeln weiterhin eine bedeutende Rolle. Der Übergang zur Empathie ist zu erkennen, wenn Zweijährige bei Wahrnehmung des Kummers anderer kurz innehalten, überlegen und entscheiden, ob sie helfen wollen oder nicht. Mit dem Ich-Erkennen bemerken sie die ankommenden Gefühle und stellen fest, dass diese nicht die eigenen sind. Ein sozialer Lerneffekt aus der Zeit im zweiten Lebensjahr ist nicht zu erwarten, weil es kein bewusstes Handeln ist, das erinnert werden kann. Das betrifft auch die Aussagen der Säuglingsforschung zur Hilfsbereitschaft von Babys und Kleinstkindern (z.B. Tomasello 2010 oder Kulke 2024). Dies geschieht ebenfalls intuitiv, also unbewusst auf der prärationalen Ebene (Bischof-Köhler und Zmyj 2025, S. 20).

Für die moralische Erziehung bedeutet dies, Eltern sollten die Regeln für soziales Verhalten zwar benennen, bei Regelverletzungen jedoch nur fordern, das verletzende Verhalten zu unterlassen. Die kleinen Kinder verstehen zwar das „Nein“ der Eltern, bis ins dritte Lebensjahr sind sie jedoch darauf angewiesen, die Regel immer wieder zu hören. Nach Piaget (1973, S. 54 f.) ist das Denken der unter Zweijährigen noch eine praktische Intelligenz, die „agiert“, aber noch nicht denkt. Das führt dazu, dass für die Erinnerung an die Regel die Anwesenheit des Erwachsenen nötig ist. Ist er abwesend, verliert die Regel an Gültigkeit (Piaget 1977, S. 92).

3.3 Der Übergang zum sozialen Denken und Verstehen

Im dritten Lebensjahr wird die Empathiefähigkeit zurückgedrängt, weil mit dem Icherkennen am Ende des zweiten Lebensjahres die Ichbezogenheit der Kinder deutlich hervortritt (Piaget 1983, S. 81). Hier zeigt sich, welche Kinder weiterhin auf den Kummer anderer reagieren und welche nicht. Unabhängig von den Erziehungsbemühungen der Erwachsenen reagieren in erster Linie die vom Temperament her eher ängstlichen, schüchternen und sehr sensiblen Kinder mit empathischem Verhalten. Die anderen kümmern sich weniger oder gar nicht mehr. Es sind die Kinder, deren Entwicklung entlang der sozial-kognitiven Stufentheorien (Damon 1982; Selman 1984) und der Stufen zur moralischen Entwicklung von Kohlberg (1995) verläuft. Die von Gilligan (1999) erforschte Fürsorge-Moral, die sie und Nunner-Winkler (1995) als weibliche Moral bezeichneten, betrifft die Kinder mit einem eher empfindsamen Temperament, die eine stärkere Gefühlsansteckung haben. Diese weibliche Moral ist zwar mehrheitlich bei Mädchen vorhanden, für einen Teil der Jungen trifft dies ebenfalls zu. Ausschlaggebend dafür sind unterschiedliche vererbte Genvarianten (Strüber 2016, S. 65), die eher das eine oder andere Verhalten auslösen.

Zwischen zwei und drei Jahren stecken die meisten Kinder in der Ichbezogenheit fest. Die Bedürfnisse anderer werden nicht erkannt, nur über die Gefühlsansteckung reagieren manche Kinder in bestimmten Situationen empathisch. Ansonsten kümmert sich das Kind nicht um Regeln – was Spaß macht, ist gut, was mit Schmerz und Angst verbunden ist, ist böse (Kohlberg 1978, S. 18). Es hat keine Vorstellungen von Verpflichtungen, von Sollen und Müssen, sondern lässt sich ganz von Können und Wollen leiten. In dieser Phase, in der die Kinder noch keine sozialen Zusammenhänge verstehen, liegt jedoch der Ursprung der moralischen Motivation. Der angemessene Umgang der Bindungspersonen mit unsozialem Verhalten und Regelverletzungen der Kinder führt zu den ersten moralischen Empfindungen. Um diese zu spüren, dürfen Regelverletzungen des Kindes nicht bestraft, sondern die Regel sollte nur wiederholt und darauf hingewiesen werden, was die Regelverletzung für die anderen bedeutet. Wenn die aus sozialen Anforderungen entstehenden Wutanfälle aufgefangen werden, ohne das Kind zu bestrafen oder zu kritisieren, kann es aus dem Vorfall lernen. Kinder mit einem sensiblen, eher ängstlichen Temperament bekommen selten Wutanfälle, sie weinen im Konfliktfall eher, verstehen die Regeln früher und sind vom Leid der anderen weiterhin über die Gefühlsansteckung betroffen. Ihre soziale und moralische Entwicklung verläuft reibungsloser.

Erste Anzeichen, dass sich das Kind mit den immer wieder genannten Regeln beschäftigt, sind zu sehen, wenn die Dreijährigen Regelverletzungen mit ihren Spielfiguren darstellen oder die jüngeren Kinder an die Regeln erinnern. Sie selbst können sich häufig noch nicht an die Regeln halten, wenn die Erwachsenen als Erinnerungsmarker fehlen (Piaget und Inhelder 1977, S. 92).

3.4 Das soziale Denken und Verstehen beim Vorschulkind

Ein starker Entwicklungssprung beim sozialen Denken und Verstehen entsteht durch das Rollenspiel der Drei- bis Vierjährigen. Die Kinder helfen sich beim bevorzugten Vater-Mutter-Kind-Spiel gegenseitig aus der Ichbezogenheit im Denken und Handeln heraus. Das gelingt durch die Freude am Spiel und die Motivation, das Spiel aufrechtzuerhalten, auch wenn es gegen die eigenen Wünsche verläuft. In solchen Spielen werden zunehmend die Regeln zum Thema gemacht, die sie von den Erwachsenen und den älteren Kindern hören. Darüber lernen die Kinder spielerisch angemessenes Regelverhalten. Gleichzeitig entwickelt sich nach und nach die sozial-kognitive Erkenntnis, dass die anderen eine eigene, in ihrem Denken begründete Perspektive haben. Das vierjährige Kind kann sich jedoch nur auf jeweils eine Perspektive konzentrieren und nicht verschiedene Gesichtspunkte koordinieren (Selman 1982, S. 240 f.).

Die dadurch entstehenden Hindernisse beim Einhalten der Regeln zeigen sich in der Interaktion mit den Erwachsenen. Zwar bemüht sich das Kind durch die angeborene „primäre Kompetenzmotivation, Aufgaben erfolgreich zu lösen“ (Kohlberg 1974, S. 179), die bekannten Regeln einzuhalten. Die vorwiegend ichbezogene Denkweise in dieser Phase führt jedoch noch häufig zur Missachtung einer Regel. Dies registriert das Kind erst nach der Regelverletzung. Da es den Sinn der Regeln noch nicht versteht, sondern die Erwachsenen als Kontrollinstanz für die Regelanwendung ansieht, bekommt es einen Schreck. Es deutet dann spontan das Geschehene mithilfe seiner eindimensionalen, transduktiven Denkstruktur (Piaget 1983, S. 180) um und erzählt eine Geschichte, in der es selbst keine Rolle spielt. So kann es sein positives Selbstwertgefühl aufrechterhalten und den Erwachsenen freundlich stimmen. Dass es damit gegen eine weitere Regel verstößt, ist dem Kind noch nicht bewusst. Es ist überzeugt davon, unschuldig zu sein, denn es kann zwischen absichtlicher Täuschung und Verzerrung der Wirklichkeit durch bloßes Wunschdenken noch nicht unterscheiden (Piaget 1977, S. 93).

Für die moralische Erziehung bedeutet dies, das Kind nicht des Lügens zu bezichtigen. Durch Fragen nach den Geschehnissen kann das Kind die Trennung zwischen Fantasie und Wirklichkeit mit der Zeit erkennen. Solange es dabei weitere Geschichten erfindet, ist es noch nicht in der Lage, die Situation zu verstehen, sodass Konsequenzen oder Sanktionen nicht wirken. Die Kinder mit einem sensiblen, eher ängstlichen Temperament benötigen solche Fantasiegeschichten nicht, da sie eine hohe Motivation haben, sich an die Regeln zu halten, durch die sie sich selbst geschützt fühlen.

Mit vier Jahren reifen bestimmte Faserverbindungen im Gehirn des Kindes, die den Beginn der Fähigkeit zur Theory of Mind markieren (Grosse-Wiesmann et al. 2017). Ab dann ist das Verständnis für den anderen nach und nach möglich. Das Spiel mit den Gleichaltrigen fördert dieses Verständnis.

4 Beginn der konkreten moralischen Erziehung

4.1 Die moralische Entwicklung und Erziehung beim Vorschulkind

Zwischen vier und fünf Jahren vergessen Kinder die Regeln noch häufig, da das Regellernen bisher äußerlich ist, also der Sinn der Regeln nicht verstanden wird. Das führt zum Austesten der Grenzen und zum Ausspielen der Eltern gegeneinander. Für den Regellernprozess ist es hilfreich, die Kinder für ihr Verhalten nicht zu kritisieren, sondern immer wieder an die Regeln zu erinnern. Moderate Konsequenzen bei Regelverletzungen sind nun angemessen. Dabei sollten die Kinder auf die Folgen ihres eigenen Handelns für die anderen hingewiesen und aggressives, rücksichtsloses Verhalten nicht einfach nur kommentarlos verboten werden.

Konflikte in der Gruppenbetreuung der Kita sind dabei ein gutes soziales Lernfeld. Wenn Kinder in solchen Situationen ein normales Ausmaß an negativen Gefühlen erleben, lernen sie sich vorzustellen, wie es dem anderen geht. Die kontinuierlichen Erklärungen der Erwachsenen bei der Analyse von Konflikten führen dazu, sich in die Lage der anderen zu versetzen, zu helfen und zu trösten. Mit dieser Erfahrung lernen die Kinder, sich moralisch immer angemessener zu verhalten (Bischof-Köhler und Zmyj 2025, S. 420).

Die Forderungen der Erwachsenen nach Regeleinhaltung und die Reaktionen bei Regelverletzungen führen zusammen mit dem fortschreitenden sozialen Erkenntnisprozess bei den Sechsjährigen zur Einsicht in die Notwendigkeit von Regeln. Der Sinn der Regeln wird jetzt erkannt, weil die Kinder begreifen, wie Regeln den Umgang miteinander vereinfachen. Nach wie vor sind bei Regelverletzungen Strafen oder herabsetzendes Kritisieren unangemessen, weil das den Regellernprozess und die moralische Entwicklung behindert. Es ist weiterhin sinnvoll, dem Kind die Folgen der Regelverletzung für andere klarzumachen, Konsequenzen wie Entzug von Privilegien und Wiedergutmachung durchzusetzen sowie die zukünftige Einhaltung der Regeln zu fordern.

4.2 Die moralische Entwicklung und Erziehung beim Grundschulkind

Die Einsicht der Sechs- und Siebenjährigen in die Notwendigkeit von Regeln wird unterstützt durch das ausgeprägte Gerechtigkeitsempfinden der Schulanfänger:innen. Nach Damon (1982, S. 125 f.) bedeutet Gerechtigkeit in diesem Alter absolute Gleichbehandlung, unabhängig von Verdienst und Bedürftigkeit. Die Regeln werden rigide angewandt. Die Überwachung der Einhaltung der Regeln durch die Eltern und die Diskussionen über die Gründe bei Regelverletzungen führen im nächsten Schritt zur Ausdifferenzierung der Einsichtsfähigkeit beim Kind.

Zwischen acht und neun Jahren können Kinder selbstständig moralisch handeln (Nunner-Winkler 1996, S. 135). Sie verstehen, dass verschiedene Personen unterschiedliche und triftige Gründe für Ansprüche haben. Daraus entwickelt sich eine relativistische Moralvorstellung: Die Ansprüche Bedürftiger werden stärker gewichtet. Erst danach sind die Kinder in der Lage, die Vorstellungen von Gleichheit und Reziprozität zu koordinieren. Bei Entscheidungen für die gerechte Verteilung von Gütern können die Ansprüche der verschiedenen Personen und die Gegebenheiten der spezifischen Situation berücksichtigt werden (Damon 1984, S. 105). Dann ist das Kind ungefähr 10 Jahre alt. Die eher ängstlichen, schüchternen, sensiblen Kinder nehmen über die stärkere Gefühlsansteckung die Bedürfnisse anderer früher, schneller und genauer wahr.

Entlang der Interaktion mit den Familienmitgliedern, den Lehrpersonen und den Gleichaltrigen, deren Kommentare weiterhin ein notwendiges Korrektiv bei sozialem Fehlverhalten der Kinder sind, entwickelt sich nun ein relativ stabiles moralisches Denken und Verstehen. Nach Kohlberg (1995) erreichen Kinder damit die konventionelle Phase der Moralentwicklung. In diesem Alter bemühen sie sich, den Erwartungen der Familie und den allgemeinen Normen zu entsprechen.

4.3 Förderung der moralischen Entwicklung im Grundschulalter

Der Prozess der moralischen Entwicklung während des Grundschulalters wird gefördert, wenn die Erwachsenen immer wieder klar aussprechen, was sie missbilligen, was nicht toleriert, akzeptiert und zugelassen werden kann. Durch das Angeben der Gründe hierfür lernen die Heranwachsenden, ihre zukünftigen Handlungen selbst zu beurteilen, ihren Willen zu prüfen und sich um sozial verträgliches Verhalten zu bemühen. Missbilligungen ihres Verhaltens führen zwangsläufig zur Scham, wenn die bisherige Entwicklung positiv verlaufen ist und sich ein stabiles Selbstwertgefühl entwickeln konnte. Die Aufrechterhaltung dieses positiven Selbstwertgefühls ist ein starkes Motiv, sich an die gesellschaftlichen Normen anzupassen.

Zum Ende des Grundschulalters ist die Fähigkeit, die Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf andere nachvollziehen zu können, voll ausgebildet, sodass das Schamgefühl bei Regelverstößen deutlich hervortritt. Die zukünftige Vermeidung dieses besonders starken negativen Gefühls motiviert das Kind, moralisch immer angemessen zu handeln.

Damit geht die bisherige moralische Erziehung durch die Erwachsenen nach und nach in die eigene Verantwortung des Kindes über. Es hat dann eine überzeugte innere Vorstellung davon, was moralisch angemessenes Verhalten ist. Von diesem Zeitpunkt an fördert die Behandlung von moralischen Dilemmata im schulischen Unterricht (Becker 2008; Lind 2019) den Prozess der Verantwortungsübernahme für das eigene moralische Handeln. Der Kontakt mit Gleichaltrigen und älteren Kindern festigt das erreichte Niveau der moralischen Entwicklung.

5 Die Rolle der Bezugspersonen als Vorbild

Der beschriebene Prozess der moralischen Erziehung kann nur erfolgreich verlaufen, wenn sich die Bezugspersonen moralisch angemessen verhalten und sich ihrer Rolle als Vorbild bewusst sind. Das Vorbild der Eltern wirkt von Beginn an; sie merken das bei ihren zwei- bis dreijährigen Kindern, die im Spiel Schimpfworte wiederholen. So lernen Kinder ganz nebenbei, was Eltern wann in welchen Situationen machen. Das so erworbene Wissen ist in den ersten vier bis fünf Jahren noch wenig strukturiert. Es ist jedoch die Grundlage für das sich im Grundschulalter entwickelnde Bild von den Eltern als sozial handelnde Akteure. Waren die bisherigen Familienerfahrungen überwiegend positiv, sodass ein Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kind entstehen konnte, fördert die bisherige moralische Erziehung zusammen mit dem erlebten positiven Vorbild der Eltern die weitere soziale und moralische Entwicklung. Das impliziert jedoch das Vorleben von moralischem Handeln in einem gemeinsamen Alltag, der in den ersten sechs bis acht Jahren ausreichend Zeit umfassen muss, um wirken zu können. Die moralische Entwicklung ist beziehungsabhängig und wirkt deshalb in der Familie stärker als über die Betreuungspersonen in den Institutionen.

6 Einordnung der vorgestellten Theorien

Der Prozess der moralischen Entwicklung und Erziehung verläuft bei den Kindern heute differenzierter, als dies die Stufentheorien von Piaget und Kohlberg nahelegen. Zu deren Zeit war der autoritäre Erziehungsstil bestimmend für das moralische Verhalten der Kinder. Das wurde besonders daran deutlich, dass sich die Kinder an Strafe und Gehorsam orientierten. Durch die Temperamentforschung (Zentner 1993) und die Aussagen der Neurobiologie (Strüber 2016) ist inzwischen bekannt, dass ein Teil der Kinder aufgrund der stärkeren Gefühlsansteckung und Empathiefähigkeit schneller und intensiver moralisch lernen. Ebenso viele Kinder entwickeln sich entlang der von den damaligen Forscher:innen herausgefundenen Stufen und benötigen mehr Unterstützung bei ihrer moralischen Entwicklung. Soziale Zusammenhänge müssen diesen Kindern häufiger erklärt werden. Sie vertragen klare Konsequenzen für ihr Fehlverhalten besser als die mit einer höheren Empathiefähigkeit.

Ziel der moralischen Erziehung ist die Verinnerlichung der moralischen Werte und Normen einer Gesellschaft beim Kind. Ein nur äußeres Lernen dieser das gesellschaftliche Leben tragenden Regeln und Gebote verhindert eine zuverlässige Anwendung. Das äußere Lernen wird verursacht durch ständige Überforderungen der kindlichen sozial-kognitiven Fähigkeiten. Die Verinnerlichung moralischer Standards wird erreicht durch die den sozial-kognitiven Fähigkeiten des Kindes angepasste moralische Erziehung auf der Basis einer sicheren Eltern-Kind-Bindung.

7 Quellenangaben

Bauer, Joachim, 2006. Warum ich fühle, was du fühlst. München: Heyne- Verlag. ISBN 978-3-453-61501-4

Becker, Günter, 2008. Soziale, moralische und demokratische Kompetenzen fördern: Ein Überblick über schulische Förderkonzepte. Weinheim: Beltz ISBN 978-3-407-32092-6

Bischof-Köhler, Doris, 1989. Spiegelbild und Empathie: Die Anfänge der sozialen Kognition. Bern: Huber. ISBN 978-3-456-81795-8

Bischof-Köhler, Doris und Norbert Zmyj, 2025. Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. 2. erweiterte und überarbeitete Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-039404-9

Butzmann, Erika, 2020. Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung: Impulse für Psychologie, Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik. Gießen: Psychosozial-Verlag. ISBN 978-3-8379-2982-9

Damon, William, 1982. Zur Entwicklung der sozialen Kognition. In: Wolfgang Edelstein und Monika Keller, Hrsg. Perspektiven und Interpretation. Frankfurt: Suhrkamp, S. 110–145. ISBN 978-3-518-27964-9

Damon, William, 1984. Die soziale Welt des Kindes. Frankfurt: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-57843-8

Garz, Detlef, 2015. Lawrence Kohlberg zur Einführung. 2., korrigierte Auflage. Hamburg: Junius. ISBN 978-3-88506-647-7

Gilligan, Carol, 1999. Die andere Stimme. München: Piper. ISBN 978-3-492-20838-3

Grosse Wiesmann, Charlotte, Jan Schreiber, Tania Singer, Nikolaus Steinbeis und Angela D. Friederici, 2017. White matter maturation is associated with the emergens of Theory of Mind in early childhood. In: Nature Communications. 8(1), S. 14692. ISSN 2041-1723

Kegan, Robert, 1986. Die Entwicklungsstufen des Selbst. München: Kindt. ISBN 978-3-925412-00-4

Keller, Monika, 1996. Moralische Sensibilität: Entwicklung in Freundschaft und Familie. Weinheim: Beltz. ISBN 978-3-621-27325-1

Kohlberg, Lawrence, 1995. Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-28832-0

Kohlberg, Lawrence und Elliot Turiel, 1978. Moralische Entwicklung und Erziehung. In: Gerhard Portele, Hrsg. Sozialisation und Moral. Weinheim: Beltz, S. 13–80. ISBN 978-3-407-51134-8

Kulke, Louisa. 2024. Coregistration of EEG and eye-tracking in infants and developing populations. In: Atten Percept Psychophys. 87, S. 228–237. ISSN 1943-3921

Lind, Georg, 2019. Moral ist lehrbar. 4. Auflage, Berlin: Logos. ISBN 978-3-8325-4901-5

Nunner-Winkler, Gertrud, 1995. Weibliche Moral. München: dtv. ISBN 978-3-423-04647-3

Piaget, Jean, 1973. Einführung in die genetische Erkenntnistheorie. Frankfurt: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-07606-4

Piaget, Jean, 1974. Theorien und Methoden der modernen Erziehung. Frankfurt: Fischer. ISBN 978-3-596-26263-2

Piaget, Jean, 1981. Das moralische Urteil beim Kind. 4. Auflage, Frankfurt: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-07627-9

Piaget, Jean, 1983. Sprechen und Denken des Kindes. Frankfurt: Ullstein. ISBN 978-3-548-35159-9

Piaget, Jean und Bärbel Inhelder, 1977. Die Psychologie des Kindes. Frankfurt: Fischer. ISBN 978-3-436-02401-7

Rizzolatti, Giacomo und Corrado Sinigaglia, 2008. Empathie und Spiegelneuronen: Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-26011-1

Selman, Robert, 1982. Sozial-kognitives Verständnis. In: Dieter Geulen, Hrsg. Perspektivübernahme und soziales Handeln. Frankfurt: Suhrkamp, S. 223–256. ISBN 978-3-518-27948-9

Selman, Robert, 1984. Die Entwicklung des sozialen Verstehens. Frankfurt: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-57693-9

Strüber, Nicole, 2016. Die erste Bindung. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-608-98058-5 [Rezension bei socialnet]

Tomasello, Michael, 2010. Warum wir kooperieren. Frankfurt: Suhrkamp. ISBN 978-3-518-26036-4

Zentner, Marcel, 1993. Die Wiederentdeckung des Temperaments. Paderborn: Junfermann. ISBN 978-3-87387-099-4

8 Literaturhinweise

Butzmann, Erika, 2020. Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung. Gießen: Psychosozial-Verlag. ISBN 978-3-8379-2982-9

Bischof-Köhler, Doris und Norbert Zmyj 2025. Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend. 2. erweiterte und überarbeitete Auflage. Stuttgart: Kohlhammer. ISBN 978-3-17-039404-9

Latzko, Brigitte und Tina Malti, 2010. Moralische Entwicklung und Erziehung in Kindheit und Adoleszenz. Göttingen: Hogrefe. ISBN 978-3-8409-2226-8

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Dr. Erika Butzmann
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