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Münchener Eingewöhnungsmodell

Dr. Anna Winner

veröffentlicht am 02.10.2019

Interessenlage: Die Autorin hat maßgeblich an der Entwicklung des Modells mitgewirkt.

Das Münchener Eingewöhnungsmodell ist ein Konzept zur Eingewöhnung in Kindertageseinrichtungen unter Einbeziehung von Kindern und Eltern.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Theoretische Grundlagen
    1. 2.1 Die Kinderkrippe als familienergänzende Bildungseinrichtung
    2. 2.2 Kleinkinder sind abhängig, aber nicht hilflos
    3. 2.3 Psychische Grundbedürfnisse
    4. 2.4 Transition
  3. 3 Das Handlungskonzept
    1. 3.1 Phase 1: Kennenlernen
      1. 3.1.1 Sich einlassen auf unterschiedliche Individuen
      2. 3.1.2 Kennenlernen ohne Stress
      3. 3.1.3 Die (Zurück-)Haltung der Erzieherin oder des Erziehers
      4. 3.1.4 Willkommenskultur unter Kindern
      5. 3.1.5 Dauer der ersten Phase
    2. 3.2 Phase 2: Sicherheit
    3. 3.3 Phase 3: Vertrauen
  4. 4 Fazit
  5. 5 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Die Gestaltung einer behutsamen Übergangszeit von der Familie in die Kindertagestätte gemeinsam mit Eltern und Kindern gehört zu den unverzichtbaren Qualitätsmerkmalen der Frühpädagogik. Jede gute Kinderkrippe besitzt ein Eingewöhnungskonzept.

Das Münchener Eingewöhnungsmodell erhielt seinen Namen, weil es auf den Forschungsergebnissen des Qualifizierungsprojekts für Kinderkrippen in München (1987 bis 1991) unter der Leitung von Prof. Dr. E. Kuno Beller (FU Berlin) beruht. Kuno Beller leitete seit 1978 den neu geschaffenen Lehrstuhl für Kleinkindpädagogik an der Freien Universität Berlin und entwickelte dort das Berliner Modell der Kleinkindpädagogik. In diesem Modell wird das Kind als kompetentes Individuum wahrgenommen, das die gleichen Bedürfnisse entwickelt wie alle anderen Menschen und seine Entwicklung aktiv mitgestaltet. Auch Kleinkinder haben großes Interesse an anderen Kindern und interagieren mit Gleichaltrigen. Diese Vorstellungen waren in der pädagogischen Fachwelt nicht immer bekannt. Ähnlich wie in der Integrationsbewegung, eilte die Praxis hier der Theorie häufig voraus.

Die Gestaltung einer Eingewöhnung war bis zu diesem Zeitpunkt weder in Kinderkrippen noch in Kindergärten allgemein üblich. Damit Kinder ihr Bedürfnis nach Sicherheit selbstsicher stillen können, war die Gestaltung einer behutsamen Übergangszeit von der Familie in die Kindertagestätte, an der das Kind aktiv beteiligt wurde, unverzichtbar. Auch hier gab es – wie in der Integrationsbewegung – Kindertagesstätten, die zu Vorreiterinnen einer guten Krippenpädagogik wurden.

Das Besondere am Münchener „Modellprojekt Frühförderung von Kleinstkindern durch Unterstützung junger Familien bei der Erziehungsaufgabe und durch pädagogische Qualifizierung von Krippen“, häufig kurz „Beller Projekt“ genannt, war, dass Veränderungen in der Praxis gemeinsam im Dialog zwischen den wissenschaftlichen MitarbeiterInnen und den Fachkräften in der Praxis entwickelt und erprobt wurden. So wurde auch das Eingewöhnungsmodell in der Praxis entwickelt. Kuno Beller stand damals in fachlichem Austausch mit vielen Kolleginnen und Kollegen, darunter auch Loris Malaguzzi. Die professionellen Haltungen und pädagogischen Grundprinzipien der Reggiopädagogik beeinflussten die Arbeit in München nachhaltig (Winner und Erndt-Doll 2013).

Charakteristisch für das Münchener Eingewöhnungsmodell ist, dass alle Beteiligten, vor allem auch die Kinder, die die Kindertageseinrichtung bereits besuchen, aktiv in die Gestaltung der Eingewöhnung miteinbezogen werden. Eltern und Kinder können den Alltag der Kindertagesstätte etwa zwei Wochen lang miterleben, bevor eine erste Trennung stattfindet.

Das Handlungskonzept gliedert sich in drei Kernphasen: Kennenlernen – Sicherheit – Vertrauen. Mit jeder Phase sind Ziele verknüpft. Je nach Alter der Kinder, der familiären Situation, den Bedingungen in der Kindertagesstätte werden diese Ziele methodisch unterschiedlich erreicht.

2 Theoretische Grundlagen

Das Münchener Eingewöhnungsmodell versucht nicht eine bestimmte Theorie in die Praxis „umzusetzen“, es nutzte und nutzt vielmehr verschiedene Theorien und Ansätze, um die Entwicklung von Kindern zu verstehen. Die Praxis wird aufgrund einer umfassenden Analyse entwickelt und immer wieder neu überdacht. Einige wesentliche theoretische Grundlagen und pädagogische Haltungen, die das Modell prägen, werden im Folgenden kurz skizziert.

2.1 Die Kinderkrippe als familienergänzende Bildungseinrichtung

Die Kinderkrippe oder Tageseinrichtung für Kleinkinder stellt die erste Bildungseinrichtung für Kinder dar. Gut geführte Kinderkrippen sind wie Kindergärten eine Bereicherung für die gesamte Familie. Kinder begegnen hier Gleichaltrigen, finden eine anregende Umgebung und werden von kompetenten professionellen Fachkräften gut betreut und in ihrer Entwicklung gut unterstützt. Physische wie psychische Bedürfnisse werden individuell befriedigt. Eltern werden in ihren Familienaufgaben unterstützt und entlastet und können sich mit anderen Eltern vernetzen.

2.2 Kleinkinder sind abhängig, aber nicht hilflos

Wenn man Menschenkinder mit Tieren vergleicht, erscheint es so, als ob Säuglinge wenig könnten. Sie können sich nicht aufrichten, weglaufen oder zur Nahrungsquelle krabbeln. Dieser Vergleich prägte die Vorstellung von einem hilflosen, passiven, unpersönlichen Mängelwesen, das vollkommen abhängig von Erwachsenen vor allem betreut und behütet werden muss. Demgegenüber steht ein Bild von einem „kompetenten Säugling“, dem dieses Eingewöhnungsmodell folgt und auf das sich nahezu alle modernen pädagogischen Ansätze berufen. Der scheinbare Mangel, wenig zu können, erweist sich in der Realität als Stärke. Der menschliche Säugling kann alles lernen, was er in seiner konkreten menschlichen Umgebung braucht. Kleinkinder sind individuelle Persönlichkeiten und kommen bereits mit den wesentlichen, für Menschen typischen Kompetenzen auf die Welt (Hille et al. 2016). Menschen sind von Geburt an aktiv und lernbegierig. Sie sind in der Lage Beziehungen aufzubauen, Sprache zu entwickeln und Sinnzusammenhänge zu erkennen. Solche Kompetenzen werden auch als Lebenskompetenzen bezeichnet. Natürlich sind Säuglinge und Kleinkinder auf die Fürsorge Erwachsener angewiesen. Aber auch Erwachsene brauchen andere Menschen. Kinder sind nur auf eine andere Art abhängig. Den jungen Menschen fehlt es also weniger an Kompetenzen, es fehlt ihnen vor allem an Erfahrung. Um zu verstehen, was Kinder in bestimmten Situationen brauchen, ist es hilfreich sich als Erwachsene in eine Situation zu versetzen, in der auch wir Erwachsene unerfahren sind, eine Situation, die uns selbst neu ist.

2.3 Psychische Grundbedürfnisse

Richard M. Ryan und Edward L. Deci entwickelten in den 1980er-Jahren an der Universität von Rochester, USA die Selbstbestimmungstheorie (Self-Determination Theory, abgekürzt SDT; Deci und Ryan 2012). Diese Theorie beschreibt folgende universelle Grundbedürfnisse:

  1. Competence, das Bedürfnis nach Kompetenzerleben
  2. Autonomy, das Bedürfnis nach Autonomie, Selbstbestimmung
  3. Relatedness, wird meist übersetzt mit: das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer menschlichen Gemeinschaft oder auch Eingebundensein in eine Gemeinschaft.

In der Stressforschung wird zudem von einem Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit, Verlässlichkeit, Kontrollierbarkeit gesprochen. In der Pädagogik wird dies meist als Bedürfnis nach psychischer Sicherheit bezeichnet.

Man könnte also von vier universellen psychischen Grundbedürfnissen sprechen: Kompetenzerleben, Autonomie, Eingebundensein in eine Gemeinschaft und Sicherheit.

Alle Menschen, in allen Kulturen und in jedem Alter besitzen diese Bedürfnisse. Allerdings werden diese Bedürfnisse in verschiedenen Kulturen unterschiedlich gewichtet und auch nicht allen Personen zugestanden. Vor allem das Bedürfnis nach Autonomie wurde und wird Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen oder Frauen oft nicht zugestanden. Zudem stehen diese Bedürfnisse in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander. Sie nähren sich gegenseitig und sie „streiten“ sich. Wer sich als kompetent erlebt, wird selbstsicher und stillt somit auch das Bedürfnis nach Sicherheit. Wer Kompetenzen weiterentwickeln möchte, muss Sicherheiten aufgeben und das Sicherheitsbedürfnis zurückstellen. Auch junge Kinder wollen autonom sein und ihr Leben selbst bestimmen. Beller wünschte sich bei den pädagogischen Fachkräften in den Kinderkrippen einen Autonomie gewährenden und responsiven Erziehungsstil.

2.4 Transition

Mit Transitionen bezeichnet man in der Entwicklungspsychologie bedeutende, Veränderung mit sich bringende, Übergänge im Leben eines Menschen. In der Biografie von Familien versteht man darunter krisenhafte Phasen, die durch erst- oder einmalige markante Ereignisse ausgelöst werden. Das ganze familiäre Gefüge gerät aus dem Gleichgewicht. Die Alltagsroutinen passen nicht mehr, es muss in relativ kurzer Zeit viel Neues gelernt werden. Meist wird diese Zeit von heftigen Gefühlen begleitet, die Personen sprechen von einem Gefühlsspagat, einerseits Freude und Neugier andererseits Unsicherheit und Ängste. Die Personen scheinen sich in einem Schwebezustand zwischen verschiedenen Phasen zu befinden: „Sie sind nicht mehr … und noch nicht …“. Es findet ein Identitätswandel statt. Solche Transitionen begleiten uns ein Leben lang, sie sind unvermeidlich. Der Eintritt in die Kinderkrippe ist so eine Transition.

Sah man lange in den Transitionen vor allem die Risikofaktoren, rücken gegenwärtig die Chancen stärker in den Fokus (Niesel und Griebel 2015). Krisen sind nicht per se negativ, es kommt auf ihre Bewältigung an. Werden Transitionen gut bewältigt, führt dies zu einer Stärkung der Person. Erfahrungen werden auf weitere Transitionen übertragen. Die Eltern sind in diesen Transitionen doppelt gefordert. Sie befinden sich selbst in einer Transition und sind gleichzeitig die wichtigste Unterstützungsressource für ihre Kinder bei der Bewältigung ihrer Transition. Familienergänzende Einrichtungen müssen deshalb auch die Eltern unterstützen.

3 Das Handlungskonzept

Welche Erfahrungen sollten also Kleinkinder während der Eingewöhnungszeit machen, damit sie von sich „sagen“ können: „Ich kenne die Situation, ich kann die Abläufe vorhersehen und ich kann sie auch ein Stück mitbestimmen. Ich finde hier eine Gemeinschaft, zu der ich mich zugehörig fühle, die mir hilft, wenn ich etwas brauche. Ich sehe hier Lernherausforderungen, die mich weder über- noch unterfordern, hier spüre ich meine Kompetenzen und kann mich weiterentwickeln, ich bin selbstsicher. Ich darf auch nein sagen, meine Meinung wird gehört, meine Entscheidungen werden respektiert. Ich werde nicht als Objekt behandelt, an dem etwas ausprobiert wird. Ich werde informiert und in Entscheidungen, die mich betreffen mit einbezogen.“ Bei der Entwicklung eines Eingewöhnungskonzeptes wurde nun nach einem Handlungsrahmen gesucht, der der theoretischen Analyse entspricht und alle an der Eingewöhnung Beteiligten aktiv in den Prozess mit einbezieht.

Da Menschen Individuen sind und in unterschiedlichen Lebenswelten agieren und auch die Kinderkrippen individuelle Profile zeigen und nach unterschiedlichen Konzepten arbeiten, sollte das Handlungskonzept zwar eine Struktur vorgeben, aber flexibel angepasst werden können.

Deshalb wird die Eingewöhnung als Weg beschrieben. Auf einem Weg kann man Pausen machen, ein paar Schritte zurückgehen oder mal einen Sprint einlegen. Zwischen der Vorbereitung, die vor allem der Abklärung der vertraglichen Bedingungen mit den Eltern und einer ersten Einführung in das Eingewöhnungskonzept dient und der Auswertung, in der die Eltern sowie die Erzieherinnen und Erzieher die gemeinsame Zeit reflektieren und einen Blick in die Zukunft werfen, liegen die Kernphasen der Eingewöhnung, die mit den Worten Kennenlernen – Sicherheit – Vertrauen überschrieben sind.

3.1 Phase 1: Kennenlernen

Meist beginnt diese Phase an einem Dienstag und wird manchmal auch Schnupperwoche genannt. In dieser Phase sollen die neuen Eltern und ihr Kind den Alltag der Kinderkrippe kennenlernen. Aber auch die Kinder und eventuell deren Eltern, die bereits die Kinderkrippe besuchen, sollen das neue Kind und ihre Eltern kennenlernen und erfahren, dass sie sich immer noch auf ihre Erzieherinnen und Erzieher verlassen können. Sie sollen erleben, dass sie nicht nur Rücksicht nehmen müssen, sondern nach wie vor ihren Alltag leben können, so wie sie es gewöhnt sind. Es sind ja schließlich diese Kinder, die das neue Kind in ihre Gemeinschaft aufnehmen werden. Die Erzieherinnen und Erzieher, die für diese Eingewöhnung als Gastgeberinnen und Gastgeber bestimmt wurden, brauchen Zeit und Gelegenheit das neue Kind kennenzulernen, aber auch zu beobachten, wie sich die „alten“ Kinder gegenüber dem neuen Kind verhalten. Und man darf nicht vergessen, dass sich die Eltern des neuen Kindes auch in einer Transition befinden. Für die Eltern ist es eine doppelte Herausforderung: Sie müssen ihr Kind bei der Bewältigung der Transition unterstützen und selbst die Transition bewältigen. Für die Eltern ist deshalb der „sichere Hafen“ in der Kinderkrippe zuerst die Bezugserzieherin bzw. der Bezugserzieher. Die Erwachsenen brauchen also auch viele Gelegenheiten sich kennenzulernen, damit die pädagogischen Fachkräfte einschätzen können, wie sie die Eltern in dieser schwierigen Phase unterstützen können. Für das neue Kind ist es viel wichtiger, dass es spürt „die Erzieherin bzw. der Erzieher mag meine Mutter/meinen Vater“, als dass es spürt „die Erzieherin bzw. der Erzieher mag mich“.

3.1.1 Sich einlassen auf unterschiedliche Individuen

Weil Menschen Individuen sind, kann man sich auf das Kennenlernen nur bedingt vorbereiten. Es erfordert viel professionelles Fingerspitzengefühl und ein Team, das sich austauscht, immer wieder reflektiert und unterstützt. Die Bezugserzieherin bzw. der Bezugserzieher sollte diese Arbeit nicht alleine bewältigen müssen. Bereits während der Kennenlernphase wird den Eltern vermittelt, dass die pädagogischen Fachkräfte trotz Arbeitsteilung im Team agieren. Die Bezugserzieherin bzw. der Bezugserzieher übernimmt die Gastgeberrolle. Sie leiten die Eingewöhnung, geben die Regeln vor, stehen für Fragen und Antworten zur Verfügung und achten auf die individuellen Bedürfnisse. Darf die Mutter oder der Vater sich an den alltäglichen Arbeiten beteiligen oder mischt sie oder er sich zu sehr ein? Sollen die Eltern ihr Kind mitnehmen, wenn sie ein unaufschiebbares Bedürfnis haben oder ist es akzeptabel, wenn das Kind solange allein in der Gruppe bleibt? Viele Fragen und Aufgaben werden entstehen, für die es keine vorgefertigten Lösungen, sondern nur eine gemeinsame Suche nach Antworten gibt.

Neben der Bereitschaft, sich auf das Kennenlernen einzulassen erfordert die Kennenlernphase daher auch Zeit. Junge Kinder können noch nicht über Broschüren oder Filme informiert werden. Sie müssen die Situation konkret mit allen Sinnen wahrnehmen und erforschen können. Um einen Tagesablauf verstehen und vorhersehen zu können, muss ein Kind diesen im wahrsten Sinne des Wortes ablaufen. Gemeinsam mit der Mutter und/oder dem Vater besucht das neue Kind deshalb für mehrere Stunden am Tag die Einrichtung. Das muss nicht gleich am ersten Tag solange dauern, man kann die Zeiten auch langsam erhöhen. Das Kind sollte aber die Zeit, die es nach der Eingewöhnung alleine in der Kinderkrippe verbringen soll, auch gemeinsam mit den Eltern erleben.

3.1.2 Kennenlernen ohne Stress

Damit das Kennenlernen stressfrei verläuft, müssen mehrere Aspekte berücksichtigt werden. Es findet in dieser Zeit keine Trennung von den Eltern statt, wenn diese nicht, wie in den bereits erwähnten Situationen, von dem Kind ausdrücklich gestattet wird. Das Kind wird zu keiner Aktivität gedrängt. Es kann einfach dasitzen und beobachten, es kann auch alle Räume erkunden und sich dort aufhalten, wo es möchte. Es kann am Stuhlkreis teilnehmen oder abseits mit der Mutter und/oder dem Vater sitzen, es kann beim Essen am Tisch sitzen, aber nichts essen. Wird das Kind müde, kann es im eigenen Kinderwagen schlafen, die Eltern bleiben dabei. Bekommt das Kind Hunger, reichen die Eltern dem Kind ihr Essen oder werden von der Einrichtung mit einem Gläschen, je nach Alter des Kindes, versorgt. Die Bedürfnisse des Kindes, vor allem auch das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung, werden berücksichtigt. Die Eingewöhnung findet im Alltag der Kindertageseinrichtung statt, die Kindergruppe wird aktiv in die Gestaltung miteinbezogen. Am Modell der anderen Kinder können Eltern und Kinder erfahren, wie Kinder hier ihre Zeit verbringen, welche Erfahrungsmöglichkeiten die Räume und Personen bereit halten, wie die Erwachsenen mit den Kindern und die Kinder untereinander interagieren und kommunizieren.

3.1.3 Die (Zurück-)Haltung der Erzieherin oder des Erziehers

Die Erzieherinnen und Erzieher der Einrichtung laden die neuen Eltern und Kinder in ihren professionellen Alltag ein. Sie lassen sich im Berufsalltag zuschauen, weil sie wissen, dass sich ihre Arbeit sehen lassen kann. Gemeinsam mit den Kindern wird der Tagesablauf wie üblich gestaltet. Gegenüber dem neuen Kind bleiben sie vorerst beobachtend und zurückhaltend. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, laden sie das Kind ein, sich an Aktivitäten zu beteiligen. Sie vermeiden es aber das Kind zu locken oder zu drängen. Dieses Verhalten sollte Eltern im Vorfeld erklärt werden, damit sie es nicht als Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Kind fehlinterpretieren. Diese Vorgehensweise hat sich bewährt, da die Erziehenden damit den Respekt, vor dem Tempo mit dem das Kind auf andere Menschen oder Dinge zugeht, signalisieren. Das Kind kann selbst aktiv werden, es bleibt Subjekt.

3.1.4 Willkommenskultur unter Kindern

Eine wichtige Rolle im Münchener Eingewöhnungsmodell spielen die Kinder, die bereits die Einrichtung besuchen. Sie sind es, die das Kind in ihre Gemeinschaft aufnehmen. Sie werden auf die Eingewöhnung vorbereitet. Sie erfahren, wann welche Kinder neu kommen. Die Kinder können Fragen stellen, wie heißt das Kind, ist es noch ein Baby etc. Gemeinsam mit den Erziehenden können sie überlegen, welchen Garderobenplatz das Kind bekommen soll, wo es schlafen wird, welches Windelfach ihm gehören soll. So entsteht bei den Kindern schon so etwas wie eine Willkommenskultur: Sie sind neugierig und interessiert das Kind kennenzulernen. Häufig sind es auch die Kinder, die dem neuen Kind Spielsachen bringen, Mutter und/oder Vater und Kind durchs Haus führen, Lieblingsplätze im Garten verraten und zeigen, wie sie ihre Schlafplätze aufbauen, auch wenn sie dann doch wollen, dass das neue Kind noch nicht mitschläft und die Eltern des neuen Kindes beim Einschlafen nicht zusehen. So beteiligt, erleben sich die Kinder als kompetent und autonom.

3.1.5 Dauer der ersten Phase

Die Eingewöhnung dauert meist etwa drei Wochen. Man könnte denken, das bedeutet für jede Phase eine Woche. Es kann aber auch sein, dass sich die Verhältnisse ändern und die Kennenlernphase erheblich länger dauert, während die weiteren Phasen verkürzt ablaufen. Fast alle Kinder brauchen mindestens fünf Tage, um sich gut in der Einrichtung orientieren zu können. Manche Kinder lösen sich auch nach fünf Tagen noch kaum von ihren Eltern, bleiben in beobachtendem Abstand und lassen sich noch nicht auf Aktivitäten wie Essen, Spielen oder Morgenkreis ein. Manchmal sind es auch die Eltern, die sich noch nicht sicher fühlen, die immer in der Nähe ihres Kindes bleiben und ihre Kinder eher zurückhalten. Auch sie sind ja in einer Transition und brauchen Unterstützung. Manchmal reagieren die pädagogischen Fachkräfte dann paradox. Anstatt gelassen dem Kind und den Eltern Zeit zu geben, drängen sie auf den Ablöseprozess zwischen Eltern und dem Kind: „Das Kind muss sich jetzt doch auch einmal lösen, die Mutter muss doch jetzt auch einmal loslassen.“ Sie versuchen dann das Kind mit attraktivem Spielzeug vom begleitenden Elternteil weg zu locken, es abzulenken und in Aktivitäten einzubinden. Manchmal schicken sie die Mutter und/oder den Vater sogar vor die Tür, damit das Kind merkt, dass es nicht so schlimm ist, wenn der Elternteil geht, er kommt ja wieder. Diese Interventionen gehen meist schief. Das Kind und der Elternteil werden verunsichert und klammern noch mehr, denn sie fühlen sich nicht verstanden und auch nicht kompetent. Wie sollen sie jetzt agieren? Ähnliche Auswirkungen hat das auch auf die pädagogischen Fachkräfte. Sie merken, dass ihr Verhalten die gewünschte Wirkung verfehlt. In Folge sind sie in ihrer Fachkompetenz dann oft verunsichert und mit sich und eben auch dem neuen Kind und der Mutter und/oder dem Vater unzufrieden. Diese allgemeine Verunsicherung überträgt sich auch auf die „alten Kinder“. So ein Verhalten wird meist dadurch provoziert, weil die pädagogischen Fachkräfte Sorge haben, dass „das ewig so weitergeht“, wenn jetzt nicht gehandelt wird. Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen aber, dass es umgekehrt ist, Sicherheit kann man nicht erzwingen. Gibt man dem Kind und dem begleitenden Elternteil Zeit sich zu orientieren, spüren sie, dass ihre Bedürfnisse wahr und ernst genommen werden. Sie werden so sicherer und können sich auf die weiteren Phasen einlassen.

3.2 Phase 2: Sicherheit

Diese Phase ist vor allem durch ein verändertes Verhalten der Erwachsenen gekennzeichnet. Der Tagesablauf ändert sich nicht. Nach wie vor besuchen Mutter und/oder Vater und Kind gemeinsam die Einrichtung für mehrere Stunden am Tag. Während der Kennenlernphase konnte das Kind am Modell der anderen Kinder die Rolle und Aufgaben der pädagogischen Fachkraft erleben. Jetzt zeigt die Erzieherin bzw. der Erzieher, dass sie auch für das neue Eingewöhnungskind in gleicher Weise da ist und Aufgaben übernimmt, die bisher den Eltern vorbehalten waren. Vor allem in den Pflegesituationen übernimmt die Erzieherin bzw. der Erzieher jetzt gemeinsam mit den Eltern und schließlich allein Aufgaben. Auch in Spielsituationen wird das Kind nun aktiv einbezogen was zeigt, dass die Bezugserzieherin bzw. der Bezugserzieher die Vorlieben und Stärken des Kindes kennt. Das Kind erlebt sich als verstanden und kompetent. Das stärkt das Vertrauen in die Erzieherin bzw. den Erzieher. Je nach Alter des Kindes wird der, auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmte Tagesablauf nun immer mehr von den Erziehenden gestaltet. Sie unterstützen das Kind in Konflikten mit anderen Kindern, trösten es nach kleinen Unfällen, helfen beim An- und Ausziehen, reagieren wenn das Kind müde wird und legen es bei Bedarf in den Kinderwagen etc. Der begleitende Elternteil bleibt anwesend, zieht sich aber aus der aktiven Rolle immer mehr zurück. Durch das Verhalten der Mutter und/oder des Vaters wird dem Kind gezeigt, dass sie gut finden, was passiert und dass sie sich über die neue Sicherheit des Kindes in der Beziehung zur den Erziehenden freuen. Erst wenn dies in gewissem Sinne zur Routine geworden ist, kann die dritte Phase beginnen.

3.3 Phase 3: Vertrauen

Das Kind spürt nun, dass es ein Krippenkind ist. Auch die Eltern haben die Transition weitgehend bewältigt und die neue Identität gut in die alte integriert. Sie sind jetzt „Krippenkindeltern“. Der Besuch der Krippe ist jetzt schon zweiwöchige Routine. Das Kind kennt die Abläufe, es hat bereits guten Kontakt zu einigen Kindern, es sieht hier neue Herausforderungen und Lernchancen für sich und fühlt sich angenommen und gut betreut. Jetzt kann der Schritt beginnen, dies alles auch ohne die Begleitung der Eltern zu wagen. Vertrauen bedeutet, dass die Eltern und die pädagogischen Fachkräfte dem Kind eine Trennung zutrauen, dass die Eltern sich trauen und es sich zutrauen, das Kind in der Kinderkrippe alleine zu lassen. Sie können jetzt ehrlich ihrem Kind signalisieren: „Ich weiß du bist hier gut aufgehoben. Ich habe das mit eigenen Augen gesehen, ich kann mich darauf verlassen.“ Die Entscheidung für die erste Trennung treffen die Erwachsenen, das Kind bestimmt mit, weil die Erwachsenen diese Entscheidung von der Beobachtung des Kindes abhängig machen (Entscheidungskriterien siehe Winner und Erndt-Doll 2013, S. 59). Wichtig ist, dass die Verabschiedung von den Erziehenden sowie Mutter und/oder Vater eingeleitet und dem Kind erklärt wird. Häufig fällt die Trennung den Eltern schwerer als den Kindern. Die erste Trennung dauert meist eine Stunde. Die Eltern bleiben in Rufweite. Entscheidend für die positive Einschätzung der Trennung ist nicht, dass das Kind nicht geweint hat, sondern dass es sich nach kurzer Zeit wieder beruhigt und wieder in ein Spiel findet oder sich von der Bezugserzieherin oder dem Bezugserzieher oder anderen Kindern ansprechen und einbeziehen lässt. Da das Kind ja den Krippenalltag kennt, braucht es meist nur wenige Tage und das Kind kann die ganze Buchungszeit anwesend sein. Signalisiert das Kind, dass es auf seine Eltern noch nicht verzichten kann, ist es wichtig, dass die Eltern weitere Tage in der Einrichtung bleiben. So spürt das Kind abermals, meine Bedürfnisse werden ernst genommen, wenn ich etwas sage, wird das gehört. Oft brauchen diese Kinder nur wenige Tage mehr und sie entscheiden, dass die Eltern gehen können. Nun ist die Eingewöhnung weitgehend abgeschlossen und der Krippenalltag kann beginnen.

Diese Eingewöhnungsstruktur erfordert sowohl von Eltern und als auch pädagogischen Fachkräften großes Engagement. Dieser Aufwand ist gerechtfertigt: Teams berichten u.a., dass die Eltern in dieser gemeinsamen Zeit eine große Hochachtung vor der Arbeit in den Kinderkrippen entwickelten. Dies ist der Start einer guten Bildungs- und Erziehungspartnerschaft. Eine Erzieherin bestätigt dies: „Nach diesen drei Wochen musste ich keinem Elternteil mehr erklären, warum wir Matschhosen brauchen und warum es schade ist, wenn Eltern zu spät kommen und in den Morgenkreis platzen.“

4 Fazit

Wann kann man von einer erfolgreichen Eingewöhnung sprechen? Erfolgreich in diesem Modell gilt eine Eingewöhnung dann, wenn die Transition von Kind und Eltern aktiv und erfolgreich bewältigt wurde. Wenn beide in der Kinderkrippe eine entwicklungsförderliche Ergänzung zum familiären Leben sehen, wenn das Kind die Bildungsangebote der Kinderkrippe wahrnehmen kann, wenn es die Kindergruppe als tragfähiges Netzwerk erlebt, gerne mit einigen Kindern zusammen ist und sich von den Fachkräften gut betreut fühlt. Wenn es sich also wohl fühlt und die Eltern ihr Kind mit einem guten Grundgefühl in die Kinderkrippe bringen. Sich Wohlfühlen schließt Konflikte mit ein; denn ohne Konflikte keine Entwicklung.

5 Quellenangaben

Deci, Edward L. und Richard M. Ryan, Hrsg., 2002. Handbook of Self-Determination Research. Rochester: Boydell & Brewer Ltd. ISBN 978-1-58046-108-5

Hille, Katrin, Petra Evanschitzky und Agnes Bauer, 2016. Das Kind – die Entwicklung in den ersten drei Lebensjahren. Bern: hep der Bildungsverlag. ISBN 978-3-03822-019-0 [Rezension bei socialnet]

Niesel, Renate und Wilfried Griebel, 2015. Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der Familie in die Kindertagesbetreuung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. ISBN 978-3-17-024341-5 [Rezension bei socialnet]

Winner, Anna und Elisabeth Erndt-Doll, 2013. Anfang gut? Alles besser! Ein Modell für die Eingewöhnung in Kinderkrippen und anderen Tageseinrichtungen für Kinder. 2. Auflage. Weimar: das Netz ISBN 978-3-86892-015-4

Verfasst von
Dr. Anna Winner
Psycholinguistin, München
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