Narratives Interview
Dr. Christin Schörmann
veröffentlicht am 06.03.2023
Das narrative Interview ist eine Methode zur Erhebung qualitativer Daten für die Sozialforschung, in deren Mittelpunkt Erzählungen stehen. Darüber hinaus wird es im Kontext der Rekonstruktiven Sozialen Arbeit eingesetzt. Das narrative Interview wurde von Fritz Schütze entwickelt sowie von Gabriele Rosenthal aufgegriffen und erweitert.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Entstehungshintergrund und theoretisch-konzeptionelle Grundlagen
- 3 Phasen des narrativen Interviews
- 4 Relevanz des narrativen Interviews im Rahmen Rekonstruktiver Sozialer Arbeit
- 5 Weitere Formen des narrativen Interviews
- 6 Quellenangaben
- 7 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
In narrativen Interviews sollen Gesprächspartner:innen nach dem Prinzip größtmöglicher Offenheit zu spontanen Stegreiferzählungen veranlasst werden. Beispielsweise werden Lebensgeschichten oder biografische Ereignisse erzählt, die es ermöglichen, einen Zugang zur Erfahrung, zu subjektiven Sichtweisen sowie zu kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu erhalten (Schütze 1983).
Der Begriff „narratives Interview“ wird oftmals synonym zum „biografischen Interview“ verwendet (Nohl 2017, S. 15 ff.; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2021, S. 108). Nach der Auffassung von Werner Fuchs-Heinritz (2009, S. 179 f.) sind biografische Interviews nicht auf eine offen-narrative Herangehensweise festgelegt und können auch teilstandardisiert angelegt sein. Fuchs-Heinritz regt an, die beiden lnterviewformen miteinander zu verbinden (ebd.).
Das narrative Interview ist in der soziologischen, erziehungswissenschaftlichen und sozialarbeiterischen qualitativen Sozialforschung – insbesondere in der Biografieforschung – verbreitet. Darüber hinaus hat es sich als Verfahren der Rekonstruktiven Sozialen Arbeit bewährt.
2 Entstehungshintergrund und theoretisch-konzeptionelle Grundlagen
Fritz Schütze entwickelte das narrative Interview im Kontext seiner Interaktionsfeldstudien in den 1970er-Jahren, in denen er kollektive Veränderungen von Ortsgesellschaften durch Gemeindezusammenlegung erforschte (Schütze 1978). Gegenstand seiner Forschung waren anfänglich noch nicht die gesamten erzählten Lebensgeschichten. Vielmehr interessierten ihn der Prozess kommunaler Entscheidungs- und Machtstrukturen sowie das Handeln von Kommunalpolitiker:innen in diesem Prozess.
Die Entwicklung des narrativen Interviews gründet unter anderem auf dem symbolischen Interaktionismus, für den die Annahme konstituierend ist, dass Gesellschaft von Individuen in symbolischen Interaktionen hervorgebracht und verändert wird. Das geschieht in Kommunikationsprozessen, in denen die Beteiligten stetig gefordert sind, Leistungen des Verstehens und der Verständigung zu erbringen. Mit dieser grundlagentheoretischen Ausrichtung geht ein ausgeprägtes Interesse an den konstitutiven Regeln einher, die das Alltagsleben ordnen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2021, S. 107 f.).
Ausgehend von diesen interaktionstheoretischen Überlegungen entwickelt Fritz Schütze das narrative Interview. Dabei geht er von der Erkenntnis aus, dass die spontan erzählte, nicht vorbereitete Stegreiferzählung einen Zugang zur Erfahrung der Subjekte eröffnet und sie sich daher eignet, die Orientierungsstrukturen des faktischen Handelns zu reproduzieren. Während des Erzählens selbsterlebter Erfahrungen und Ereignisse entwickelt sich eine Eigendynamik, die auf Regeln und Orientierungsmuster von Narrationen sowie auf die Zugzwänge des Erzählens zurückgeführt wird. Letztere tragen dazu bei, dass
- Erfahrungen und Ereignisse detailliert präsentiert werden, damit sie plausibel sowie verständlich erscheinen (Detaillierungszwang);
- die relevantesten Erfahrungen und Ereignisse ausgewählt und aufgrund der begrenzten Erzählzeit auf das Wesentliche verdichtet werden (Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang) und
- das Erzählte in einer geschlossenen Gestalt dargestellt wird (Gestaltschließungszwang) (Schütze 1984).
Die Überlegungen von Fritz Schütze zum narrativen Interview wurden von Gabriele Rosenthal (2008) aufgegriffen und um familiengeschichtliche Aspekte erweitert, indem ebenso familiale Dynamiken und Perspektiven sowie der familiengeschichtliche Hintergrund betrachtet werden.
3 Phasen des narrativen Interviews
Im Verlauf des narrativen Interviews sollen Erzählungen erzeugt werden, in denen die Interviewpartner:innen selbst erlebte Ereignisse und die eigene Beteiligung daran rekonstruieren. Ist das Ziel, eine Stegreiferzählung hervorzulocken, deren Relevanzen die erzählende Person setzt, wird die Interviewperson gebeten, ihre gesamte Lebensgeschichte zu erzählen. Dieses sehr offene Vorgehen eignet sich besonders, um Lebenswelten und ihre Sinndeutungen sowie die subjektiven Wirklichkeitsdeutungen der Erzählenden zu erfassen. Interessieren bestimmte zeitliche Abschnitte, Themenbereiche oder eine Kombination aus beidem, beispielsweise eine Phase der Arbeitslosigkeit, so können diese mit einem darauf abgestimmten Erzählstimulus angesteuert werden.
Das narrative Interview durchläuft in der Regel die folgenden Phasen, in der 1. die Stegreiferzählung entfaltet wird, 2. erzählgenerierende immanente sowie 3. exmanente Nachfragen gestellt und 4. abschließend soziodemografische Daten erhoben werden.
- In der ersten Phase wird zu einer Eingangserzählung aufgefordert, die nicht unterbrochen wird. Zu beachten ist, dass die Erzählaufforderung (Stimulus) auf den interessierenden Erfahrungsbereich, also auf die gesamte Lebensgeschichte oder auf einen Abschnitt bzw. ein Thema, abzielen muss, damit eine für die Fragestellung relevante Erzählung entstehen kann. Auf diese Weise soll der Erzählfluss mithilfe des Stimulus in Gang gesetzt und gegebenenfalls mit erzählgenerierenden Nachfragen aufrechterhalten werden. Wichtig ist, dass die erzählende Person ihre Narration selbst gestalten kann, denn nur so können ihre subjektiven Relevanzen erhoben werden. Die Haupterzählung endet oftmals mit einer Erzählkoda, beispielsweise mit „So, das war’s: nicht viel, aber immerhin“ (Schütze 1983, S. 285).
- Danach werden erzählgenerierende immanente Nachfragen gestellt, mit denen bereits Thematisiertes aufgegriffen wird, das weiter vertieft werden soll.
- Schließlich folgen exmanente Nachfragen. Sie beziehen sich auf nicht angesprochene Themen, die der interviewenden Person bedeutsam erscheinen. Auch in der exmanenten Nachfragephase gilt es, zu Erzählungen zu animieren. Auf die narrativen Nachfragen kann ein argumentativ-beschreibender Frageteil folgen.
- Abschließend können noch relevante soziodemografische Daten erhoben werden (ebd.).
4 Relevanz des narrativen Interviews im Rahmen Rekonstruktiver Sozialer Arbeit
Im Rahmen Sozialer Arbeit ist das narrative Interview, insbesondere im Kontext verstehender beziehungsweise Rekonstruktiver Sozialer Arbeit, bedeutsam. Rekonstruktive Soziale Arbeit ist ein handlungsleitendes Konzept, das auf Fremdverstehen und Selbstverstehen (Völter 2017, S. 21) abzielt. Verstehen wird dabei als nachvollziehendes Annähern an subjektive Perspektiven sowie an soziale Prozesse verstanden.
Als Kernaufgaben Sozialer Arbeit formuliert Bettina Völter (a.a.O., S. 20):
- verstehendes Begleiten und unterstützende Beratung;
- dauerhaftes Auflösen von Fällen;
- Verstehen des Entstehungskontextes und der gesellschaftlichen Entstehungszusammenhänge von Fällen sowie des Prozesses des Überflüssigwerdens professioneller Unterstützung;
- gemeinsame Auseinandersetzung darüber mit Adressat:innen in einem dialogischen Modus;
- Einnahme einer Haltung einfühlender Nähe als auch professioneller und analytischer Distanz;
- kontinuierliches Reflektieren, was das Hilfesystem und professionell Helfende zu der Konstruktion und Aufrechterhaltung des Falles beitragen.
Im Kontext der Rekonstruktiven Sozialen Arbeit wird das narrative Interview als Methode qualitativer Sozialforschung eingesetzt. An dieses Forschungsverfahren schließen verschiedene Handlungsmethoden an, beispielsweise die dialogische Biografiearbeit (Köttig und Rätz 2017), die narrativ-reflexive Beratung (Schulze und Loch 2010) und die narrativ-biografische Diagnostik (Fischer und Goblirsch 2018).
5 Weitere Formen des narrativen Interviews
Das autobiografisch-narrative Interview nimmt die gesamte lebensgeschichtliche Stegreiferzählung in den Blick (Völter 2015, S. 37). Es verzichtet auf das Ansteuern bestimmter lebensgeschichtlicher Themen und Phasen und ist damit die offenste Form des narrativen Interviews.
Das interaktionsgeschichtlich-narrative Interview (Riemann 2016) fokussiert Interaktions- und Beziehungsgeschichten, beispielsweise die gemeinsame Geschichte eines Biografieträgers oder einer Biografieträgerin mit einer Fachkraft der Sozialen Arbeit.
6 Quellenangaben
Fischer, Wolfram und Martina Goblirsch, 2018. Narrativ-biografische Diagnostik. In: Peter Buttner, Silke Birgitta Gahleitner, Ursula Hochuli Freund und Dieter Röh, Hrsg. Handbuch Soziale Diagnostik: Perspektiven und Konzepte für die Soziale Arbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus, S. 246–254. ISBN 978-3-7841-3029-3 [Rezension bei socialnet]
Fuchs-Heinritz, Werner, 2009. Biographische Forschung: eine Einführung in Praxis und Methoden. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. ISBN 978-3-531-16702-2
Köttig, Michaela und Rätz, Regina, 2017. Rekonstruktive Fallbearbeitung in der Kinder- und Jugendhilfe: Dialogische Biografiearbeit in institutionellen Kontexten. In: Bettina Völter und Ute Reichmann, Hrsg. Rekonstruktiv denken und handeln: Rekonstruktive Soziale Arbeit als professionelle Praxis. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 95–110. ISBN 978-3-8474-0060-8 [Rezension bei socialnet]
Nohl, Arnd-Michael, 2017. Interview und Dokumentarische Methode: Anleitungen für die Forschungspraxis. 5., aktualisierte und erweiterte Auflage. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-16079-1
Przyborski, Aglaja und Wohlrab-Sahr, Monika, 2021. Qualitative Sozialforschung: Ein Arbeitsbuch. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage. München, Wien: De Gruyter Oldenbourg. ISBN 978-3-11-071067-0
Riemann, Gerhard, 2016. Annäherungen an das Biografische in der Praxis der Sozialen Arbeit. In: Zeitschrift für Pädagogik 62(2), S. 199–214. ISSN 0044-3247
Rosenthal, Gabriele, 2008. Interpretative Sozialforschung: Eine Einführung. Weinheim: Juventa Verlag. ISBN 978-3-7799-1482-2 [Rezension bei socialnet]
Schulze, Heidrun und Loch, Ulrike, 2010. Narrativ-reflexive Beratung. In: Karin Bock und Ingrid Miethe, Hrsg. Handbuch qualitative Methoden in der Sozialen Arbeit. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 414–421. ISBN 978-3-86649-255-4 [Rezension bei socialnet]
Schütze, Fritz, 1978. Was ist kommunikative Sozialforschung? Thesen zur Arbeitstagung „Regionale Sozialforschung“. In: Adrian Gaertner und Sabine Hering, Hrsg. Regionale Sozialforschung: Modellversuch „Soziale Studiengänge“ an der GhK. Materialien 12. Kassel: Gesamthochschulbibliothek, S. 117–131
Schütze, Fritz, 1983. Biographieforschung und narratives Interview. In: neue praxis. 13(3), S. 283–296. ISSN 0342-9857
Schütze, Fritz, 1984. Kognitive Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens. In: Martin Kohli und Günther Robert, Hrsg. Biographie und soziale Wirklichkeit: Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Stuttgart: Metzler, S. 78–117. ISBN 978-3-476-00548-9
Völter, Bettina, 2015. Biografisch-narratives Interview. In: Regina Rätz und Bettina Völter, Hrsg. Wörterbuch Rekonstruktive Soziale Arbeit. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 37–36. ISBN 978-3-86649-383-4 [Rezension bei socialnet]
Völter, Bettina, 2017. Das Konzept der Rekonstruktiven Sozialen Arbeit in der beruflichen Praxis. In: Völter, Bettina und Ute Reichmann, Hrsg. Rekonstruktiv denken und handeln: Rekonstruktive Soziale Arbeit als professionelle Praxis. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 19–56. ISBN 978-3-8474-0060-8 [Rezension bei socialnet]
7 Literaturhinweise
Griesehop, Hedwig Rosa, Regina Rätz und Bettina Völter, 2012. Biografische Kommunikation und Fallrekonstruktionen: Grundlagen, Arbeitsschritte und Praxisrelevanz. In: Hedwig Rosa Griesehop, Regina Rätz und Bettina Völter, Hrsg. Biografische Einzelfallhilfe: Methoden und Arbeitstechniken. Weinheim: Verlag Beltz Juventa, S. 46–82. ISBN 978-3-7799-2209-4 [Rezension bei socialnet]
Hopf, Christel, 2009. Qualitative Interviews: Ein Überblick. In: Uwe Flick, Ernst von Kardorff und Ines Steinke, Hrsg. Qualitative Sozialforschung: Ein Handbuch. 7. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S. 349–360. ISBN 978-3-499-55628-9 [Rezension bei socialnet]
Küsters, Ivonne, 2009. Narrative Interviews: Grundlagen und Anwendungen. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-531-16153-2
Rosenthal, Gabriele, 2008. Interpretative Sozialforschung: Eine Einführung. Weinheim: Juventa Verlag. ISBN 978-3-7799-1482-2 [Rezension bei socialnet]
Schütze, Fritz, 1983. Biographieforschung und narratives Interview. In: neue praxis. 13(3), S. 283–296. ISSN 0342-9857
Verfasst von
Dr. Christin Schörmann
Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin M. A., Dipl. Sozialarbeiterin/Dipl. Sozialpädagogin
Fachhochschule Bielefeld, Fachbereich Sozialwesen
Vertretung der Professur mit dem Lehrgebiet Sozialarbeitswissenschaft
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Es gibt 2 Lexikonartikel von Christin Schörmann.
Zitiervorschlag
Schörmann, Christin,
2023.
Narratives Interview [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 06.03.2023 [Zugriff am: 28.05.2023].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/767
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