Peer Counseling
Dr. Klaus-Peter Pfeiffer
veröffentlicht am 19.10.2023
Peer Counseling meint die Beratung (Counseling) von „Peers“ (Gleichen).
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Der Begriff Peer Counseling
- 3 Kriterien für Peer Counseling
- 4 Wissenschaftliche Evaluation
- 5 Peer Counseling bei Menschen mit Behinderung: rechtliche Grundlagen
- 6 Eine besondere Form des Peer Counseling: Tandem-Beratung
- 7 Qualifizierung von Peer Counselorn
- 8 Evaluation der Qualifizierung
- 9 Grenzen des Peer Counseling
- 10 Zukunft des Peer Counseling
- 11 Quellenangaben
- 12 Literaturhinweise
- 13 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Die Begriffe Peer Beratung, Peerberatung, Peer-to-Peer Beratung und Peer2Peer Beratung werden zum Teil synonym verwendet. Abzugrenzen von Peer Counseling ist Peer Support bzw. Peer Unterstützung und Peer Education. Der gebräuchlichere Begriff ist Peer Counseling. Damit ist gemeint, dass „Peer“, also „Gleiche“, z.B. alleinerziehende Mütter, Menschen mit Behinderung beraten. Der Fokus liegt auf Counseling (Beratung) mit klarer Rollenverteilung. Dies unterscheidet Peer Counseling von Selbsthilfegruppen.
2 Der Begriff Peer Counseling
Der Begriff „Peer“ ist unbestimmt. Damit sind in der Regel „Gleiche“, gleichgestellte Personen oder „Betroffene“ gemeint. Peer Counseling liegt dann vor, wenn „Gleiche“ andere „Gleiche“ beraten. Peers verfügen von vornherein über einen gemeinsamen Erfahrungshorizont. Jede menschliche Erfahrung ist subjektiv und einzigartig und niemals „gleich“. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten, die Menschen in bestimmten Lebenssituationen teilen. Als in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Peer Counseling aufkam, traf dies auf Senior*innen, alleinerziehende Mütter, Alkoholiker*innen und später durch die Independent Living Bewegung auf Menschen mit Behinderungen zu. Die jeweilige Gruppe teilt idealtypisch ähnliche Probleme und Herausforderungen sowohl persönlicher Art als auch z.B. durch gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung. Es entstand die Einsicht, dass diese Erfahrungen, auch die Erfahrungen des Umgangs mit diesen Herausforderungen eine Kompetenz ist, unabhängig von professionellen Hilfesystemen wie Ärzt*innen, Therapeut*innen, Sozialarbeiter*innen.
Im Grunde ist der Peergedanke nicht neu. Immer schon haben sich Menschen in ähnlichen Situationen unterstützt. In Ausbildungen für Coaches, Therapeut*innen ist es üblich, Peergruppen zu bilden, um das Gelernte in Kleingruppen vor Ort zu üben. Auch die Wirtschaft erkennt inzwischen, wie wertvoll Peergruppen sind (Groysberg und Halperin 2022, S. 131–141). Bei diesen Peergruppen handelt es sich nicht um Peer Counseling im engeren Sinne. Ein Peer Counseling ist klar definiert durch jemanden, der bzw. die „Rat“ sucht, und jemanden, den bzw. die Peer Counselor, der bzw. die „Rat“ gibt. Beide haben eine ähnliche Lebenssituation, Einschränkung etc., aber die Beratung geht immer vom Beratenden zum Ratsuchenden und nicht umgekehrt. In der Praxis trifft man Peer Counseling dergestalt, dass z.B. Menschen mit Behinderung andere Menschen mit Behinderung beraten. Das wird sogar noch spezifiziert, indem Menschen mit Körperbehinderung andere Menschen mit Körperbehinderung, Menschen mit psychischen Erkrankungen andere Menschen mit psychischen Erkrankungen beraten usw.
Dies kann eine problematische Einengung des Beratungsansatzes darstellen. Da es niemals um die identisch geteilte Erfahrung gehen kann, sondern immer nur um ein Abstraktum davon, könnten auch andere Menschen durch Peer Counseling beraten werden, auch wenn sie nicht über eine Behinderung verfügen. Wer wegen seines Aussehens, Körpergewichts oder seiner Hautfarbe Diskriminierung erfährt, teilt diese Erfahrung mit Menschen mit Behinderung. Insofern können beide Peer sein und die Beratung wäre eine Peer Beratung. Die Erfahrung in Ausbildungsgruppen hat gezeigt, dass auch Menschen ganz allgemein Erfahrungen machen wie geringes Selbstwertgefühl, mangelnde Zugehörigkeit etc., die sie zu Peers in einer Beratung mit z.B. Menschen mit Behinderung machen können.
Das Kriterium dafür ist, auf welchen gemeinsamen Erfahrungshorizont man sich bezieht und ob beide Seiten sich als Peer wahrnehmen. Kennzeichen eines Peer Counseling bleibt, dass beide Seiten eine im weitesten Sinne gemeinsame Erfahrung mit besonderen Herausforderungen haben. Peer Counseling unterscheidet sich damit grundsätzlich von anderen Beratungsformen, bei denen diese Voraussetzung nicht notwendigerweise gegeben sein muss. Der Grundgedanke besteht darin, dass Menschen mit einer gleichen oder ähnlichen Erfahrung eine Kompetenz haben können, um anderen Menschen in ähnlichen Situationen helfen und unterstützen zu können. Das dem Peer Counselor aufgrund des gemeinsamen Erfahrungshorizonts entgegengebrachte Vertrauen kann neue, bislang ungenutzte Beratungsräume eröffnen. Mehr noch: Der Peer Counselor kann als positives Rollenmodell fungieren.
3 Kriterien für Peer Counseling
Wie jede andere Beratung auch unterliegt die Peer Beratung gewissen Kriterien, von denen einige nachfolgend genannt werden. Peer Counseling für und von Menschen mit Behinderung ist laut Gisela Hermes als Methode an vier Grundsätze geknüpft:
- Betroffenheit: Als Berater*innen können ausschließlich Menschen mit Behinderung tätig sein. Dieses Kriterium ist unerlässlich, weil die Akzeptanz der Beratung ganz wesentlich von der eigenen Betroffenheit abhängig ist.
- Parteilichkeit: Parteilichkeit wird in diesem Zusammenhang so verstanden, dass sich die Beratung ausschließlich an den Bedürfnissen des Menschen mit Behinderung orientiert.
- Ganzheitlichkeit: Damit ist gemeint, dass sich die Beratung nicht nur auf behinderungsbedingte Aspekte beschränkt, sondern die gesamten Lebenssituationen umfassen soll.
- Emanzipation: Dieser Grundsatz bringt zum Ausdruck, dass die Beratung darauf ausgerichtet ist, den Menschen mit Behinderung dabei zu unterstützen, unabhängig von der Unterstützung Dritter zu werden (Hermes 2006).
Will man diese Grundsätze auf Peer Counseling allgemein übertragen, so sind einige Ergänzungen sinnvoll:
- Betroffenheit: Grundlegend für Peer Counseling ist, dass Beratende und Ratsuchende eine gemeinsame Erfahrung im Sinne einer als besonders empfundenen Lebenssituation haben. Die Akzeptanz und der Erfolg einer Beratungsbeziehung hängt nicht allein davon ab, dass dem Ratsuchenden mit exakt gleichen Lebensbedingungen begegnet wird. Auch Menschen ohne Behinderung können prinzipiell das „Peer in sich“ entdecken. Ob die Passung – auch die Peer-Passung – stimmt, entscheidet der bzw. die Ratsuchende immer selbst.
- Parteilichkeit: Jede Beratung orientiert sich an den Bedürfnissen der Ratsuchenden. Insofern ist dieser Grundsatz nicht genuin dem Peer Counseling eigen, öffnet somit den Brückenschlag zur gängigen Beratungspraxis und somit zu einem inklusiven Ansatz.
- Ganzheitlichkeit: Dies ist grundsätzlich richtig und sollte auch in jeder Beratungspraxis vorhanden sein. Wie in anderen Beratungsformen auch können sich Peer Counselor auf bestimmte Themen spezialisieren oder aufgrund der eigenen Lebenssituation oder Kompetenz andere Themen ausschließen.
- Emanzipation: Prinzipiell teilen auch andere Beratungsansätze das Ziel, dass die Klient*innen zu mehr Eigenständigkeit und Selbstwirksamkeit finden. Der systemische Ansatz bezieht immer den Menschen in der Familie und Gesellschaft ein. Dadurch entsteht auch der gesellschaftliche Bezug von Beratung. Er ist speziell im Peer Counseling bedeutsam, da die Ratsuchenden oft ausgegrenzt sind. In letzter Konsequenz geht es auch um Empowerment und die Gestaltung einer inklusiven Gesellschaft. Insofern hat Peer Counseling immer auch einen politischen Horizont.
4 Wissenschaftliche Evaluation
Der Landschaftsverband Rheinland (LVR) führte von 2014 bis 2018 das „Modell- und Forschungsprojekte Peer Counseling im Rheinland“ durch (Auftrag der politischen Vertretung des LVR, Antrag 13/227, s. Brautmann et al. 2017). Gefördert wurden insgesamt zehn Anlauf- und Beratungsstellen im Rheinland; davon zwei in Aachen, zwei in Viersen, drei in Köln, eine jeweils in Bonn, Bergisch Gladbach und Wermelskirchen. Die Projektträger wurden absichtlich heterogen ausgewählt, d.h. einige waren schon länger in der Beratung tätig, andere erprobten diese erstmals im Rahmen des Projekts. Ferner wurde Peer Counseling für Menschen mit körperlicher, seelischer und – noch eher ungewohnt – auch für Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung angeboten. Das Projekt war ergebnisoffen angelegt und gab jedem Projektträger die Möglichkeit und Unterstützung, Peer Counseling zu erproben.
Die Universität Kassel (Lehrstuhl Prof. Dr. Wansing) in Kooperation mit der Prognos AG begleiteten und evaluierten das Projekt. Beratungen wurden in Dokumentationsbögen erfasst und ausgewertet. In Fokusgruppen mit Peer Counselorn und Ratsuchenden wurden weitere Befragungen durchgeführt. Es war das Ziel, Wirkfaktoren für erfolgreiches Peer Counseling zu ermitteln. Ein externes Expertenpanel unterstützte das Projekt. Eine solche Studie ist bis dato bundesweit einzigartig.
Die Evaluation ergab, wie einige der folgenden Tabellen zeigen, eine hohe Resonanz und Wirksamkeit für das Peer Counseling-Angebot.
5 Peer Counseling bei Menschen mit Behinderung: rechtliche Grundlagen
Im Allgemeinen besteht das Ziel von Peer Counseling darin, durch eine Beratung von Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung diese unabhängiger von der Unterstützung durch „professionelle“ Dienste werden zu lassen und ihnen ein Mehr an Selbstbestimmung und Teilhabe zu ermöglichen. Dabei gilt es zu betonen, dass es hier nicht darum geht, andere Beratungsformen zu ersetzen. Peer Counseling ist ein eigenständiges, niedrigschwelliges Angebot.
In der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) findet sich ein entsprechender Anknüpfungspunkt im Artikel 26, Absatz 1 (Habilitation und Rehabilitation), in der sich die Vertragsstaaten verpflichten, Menschen mit Behinderung (auch) durch die Unterstützung anderer Menschen mit Behinderung „in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren“ (BMAS 2020). Dieser Verpflichtung wird in Deutschland bislang nur sehr unzureichend nachgekommen (Kreutz et al. 2013, S. 272 f.).
6 Eine besondere Form des Peer Counseling: Tandem-Beratung
Im Kontext von Peer Counseling, bei der Menschen mit Behinderung andere Menschen mit Behinderung beraten, wird die Metapher Tandem (Fahrrad) oft verwendet, um eine Beratung zu umschreiben, in der ein Mensch mit Behinderung und ein Mensch ohne Behinderung gemeinsam beraten. Damit ist gemeint, dass der Mensch mit Behinderung – im eigentlichen Sinne der Peer Counselor – sozusagen vorn auf dem Fahrrad sitzt und die Richtung der Beratung bestimmt. Der Tandempartner sitzt – bildlich gesprochen – hinten auf dem Sattel und hat eine unterstützende Funktion. Eine wahrscheinlich treffendere Bezeichnung für diese Form der Tandemberatung wäre dann assistierte Beratung. Dies ist aber nur eine Form einer Tandemberatung.
Der Begriff Tandemberatung in diesem Kontext ist umstritten. Theoretisch könnte es sein, dass der Mensch ohne Behinderung vorn sitzt und der Mensch mit Behinderung nur eine beiläufige, quasi Alibi-Funktion hat. Auch wenn dies vorkommen mag, so ist diese Kritik unberechtigt. In einem solchen Fall würde es sich nicht mehr um eine Peer Beratung handeln. Denn eine Peer Beratung besteht genau darin, dass ein Peer einen anderen Peer berät, mit einem anderen Wort: Es ist eine Peer-to-Peer Beratung. Dies kann von einer nicht behinderten Fachkraft nicht geleistet werden. Ein weiterer Kritikpunkt an einer Tandemberatung im Sinne der assistierten Beratung besteht darin, dass im Kontext der Beratung überhaupt ein Mensch ohne Behinderung anwesend ist und damit latent die Gefahr bestehen könnte, dass der Mensch mit Behinderung nicht mehr eigenständig berät. Zur grundsätzlichen Berechtigung, eine Unterstützungsperson in die Beratung einzubeziehen, hat die wissenschaftliche Begleitforschung des Projekts „Peer Counseling im Rheinland“ Folgendes festgestellt:
„Eine Unterstützung in der Beratungssituation ist auf Wunsch der Peer Counselors zu ermöglichen.
Zugrunde liegende Ergebnisse:
- Über alle empirischen Zugänge hinweg wird deutlich, dass sich einige Beratende – insbesondere mit kognitiven Beeinträchtigungen – (noch) nicht in der Lage sehen, allein und selbstständig zu beraten. Sie haben daher in der Beratungssituation personelle Unterstützung gewünscht und erhalten.
- Dies wird von den Beratenden durchgängig als hilfreich bewertet.
- Zugleich können sich viele Beratende vorstellen, auf diese Unterstützung sukzessive zu verzichten, wenn sie genügend Beratungserfahrung gesammelt haben.
- Auch aus der Perspektive der Ratsuchenden zeigt sich: Peer Beratung, die von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung bzw. mit personeller Unterstützung angeboten wird, wird nachgefragt und führt zu den intendierten Ergebnissen und Wirkungen. Die Anwesenheit einer dritten Person in bzw. im Hintergrund der Beratungssituation wird von keinem Ratsuchenden als störend empfunden.
- Sowohl die Ratsuchenden als auch die Beratenden weisen darauf hin, dass es ein wichtiges Qualitätskriterium von Peer Beratung ist, dass der Peer Counselor über Erfahrungen mit ähnlichen Lebenssituationen verfügt“ (Brautmann et al. 2017, S. 131).
Ein Peer Counselor hat das Recht, auf Wunsch eine assistierende Person in der Beratung zu haben. Hierbei liegt die Betonung auf „Wunsch“. Eine „verordnete“ Assistenz würde insinuieren, dass Peer Counselor eine Beratung ohne Assistenz nicht leisten können. Damit würde genau jenes Paradigma bedient – Behinderung als Defizit –, das auch durch einen Peer Counseling-Ansatz überwunden werden soll. Die Entscheidungshoheit, ob und in welcher Weise und in welchem Umfang eine nicht behinderte Person Unterstützung leistet, liegt ausschließlich beim Peer Counselor selbst.
Nun könnte geargwöhnt werden, was auch schon geschehen ist, dass der Wunsch nach einer Unterstützung in der Beratung nicht ein ursprünglicher Wunsch des Menschen mit Behinderung ist, sondern ihm von der Fachkraft „eingeflößt“ wurde zur Wahrung eigener Herrschaftsinteressen. Auch wenn man unterstellt, dass dies in der Praxis vorkommen kann, so muss vor einer Verallgemeinerung entschieden gewarnt werden. Denn in letzter Konsequenz würde das bedeuten bzw. dazu führen, dass man einem Menschen mit Behinderung die Fähigkeit zur selbstbestimmten Äußerung von Bedürfnissen abspricht.
Wenn gefordert wird, dass Kriterien für die Eignung als Peer Counselor entwickelt und etabliert werden (Pfeiffer 2017, S. 18), so gilt dies in gleicher Weise für die in einer Peer Beratung tätige nicht behinderte Fachkraft. Wenn das Vorliegen einer Behinderung als alleiniges Kriterium für eine Peer Beratung nicht ausreicht, so gilt ebenso, dass ein abgeschlossenes Studium und/oder eine langjährige Beratungstätigkeit nicht genügt, um als Tandempartner*in in einer Peer Beratung tätig zu sein. Ein/e nicht behinderte/r Tandemberater*in muss die eigene Rolle hinterfragen, die Sicht auf Behinderung reflektieren, latente und offenkundige Machtstrukturen abbauen und grundsätzlich das praktizieren, was Peer Counseling ausmacht: Kommunikation auf Augenhöhe. Ist der Paradigmenwechsel von der Betreuungsperspektive (Behinderung als Defizit) hin zu einer Ressourcenperspektive (Behinderung als Chance) nicht vollzogen, ein/e potenzielle/r, nicht behinderte/r Tandempartner*in dazu nicht fähig oder willens, ist er/sie für eine Beratung im Sinne des Peer Counseling nicht geeignet.
Neben der assistierten Beratung kann man drei weitere Beratungsformen unter den Begriff Tandemberatung fassen:
- Zwei Menschen mit Behinderung beraten gemeinsam. Dies hat den Vorteil, dass beide Beratenden einander in ihren Stärken unterstützen und „Schwächen“ ausgleichen können. Eine solche Beratungsform ohne eine zusätzliche Assistenz-Person erhöht erfahrungsgemäß das Selbstvertrauen in die eigene Kompetenz und ermöglicht die Erfahrung der Selbstwirksamkeit.
- Ein anderes Modell, das die Lebenshilfe Dresden in dem Projekt WOHNMEISTEREI erprobt hat, besteht darin, dass ein Mensch mit und ein Mensch ohne Behinderung gleichberechtigt und gleichzeitig beraten. Auch dies kann als Peer Beratung gelten, da der Peer Counselor dem ratsuchenden Peer in jenen Punkten beraten kann, die die Fachkraft aufgrund der eigenen Lebensgeschichte nicht abdecken kann. Umgekehrt kann die Fachkraft die Beratung mit Informationen bereichern. Die Kernkompetenz als Peer Counselor besteht nicht darin, Zahlen, Daten, Fakten über z.B. Wohnformen, Betreuungsschlüssel, Antragsformulare und Zuständigkeit der Behörden etc. zu haben. Je nach Behinderung und Ausbildung kann dies auch ein Peer Counselor leisten. Die Kernkompetenz besteht aber in der reflektierten Erfahrung von Behinderung. Darin kann er/sie auch Vorbild und Rollenmodell sein.
- Ein weiteres Beratungsangebot besteht darin, dass die Beratung durch die Fachkraft und die Beratung durch einen Peer Counselor als ein Gesamtberatungspaket angeboten wird. Der bzw. die Ratsuchende geht zunächst zur Fachberatung und dann zum Peer Counselor oder umgekehrt. Dies hat z.B. den Vorteil, dass man in der vertrauten Atmosphäre der Peer-to-Peer Beratung Fragen und Probleme ansprechen kann, die man in Anwesenheit einer Fachkraft ungern anspricht. Mit einem Peer spricht man anders und oft auch über anderes. Dennoch ist die teilweise nötige Fachberatung integraler Bestandteil dieses Beratungskonzepts. Peer Counselor und Fachkraft können sich unter Wahrung der Schweigepflicht über die Belange des Ratsuchenden austauschen und aus der jeweils anderen Perspektive produktive Lösungsansätze entwickeln.
Bei allen Ansätzen von Tandemberatung ist es unerlässlich, dass sich beide Partner*innen aufeinander einstimmen, Absprachen treffen und lernen, ein funktionsfähiges Team zu bilden. Dies geschieht nicht von selbst, sondern bedarf eigener Anstrengung, Übung und Schulung.
7 Qualifizierung von Peer Counselorn
Die Erfahrung einer besonderen Lebenssituation ist die für Ratsuchende und Ratgebenden gemeinsame Grundlage. Ein Mensch mit einer besonderen Lebenssituation erwirbt sich eine Erfahrungs-Kompetenz, insofern die eigenen Lebensumstände reflektiert wurden. Dadurch wird jemand zumr Experten bzw. zur Expertin in eigener Sache. Eine Erfahrungs-Kompetenz ist keine Beratungs-Kompetenz. Peer Counseling erhebt zu Recht den Anspruch, eine eigenständige, ergänzende und niederschwellige Beratung zu sein. Dann gehört dazu zwingend, dass die Peer Counselor Beratungs-Kompetenz erwerben. Ohne diese können sie ggf. als Peer Unterstützende oder in der Selbsthilfe tätig sein. Das ist noch keine Beratung im engeren Sinne. Beratung, auch eine Peer Beratung, unterliegt bestimmten Kriterien und erfordert Beratungsfähigkeiten.
Daher ist eine Ausbildung oder je nach Vorkenntnissen eine Weiterbildung unerlässlich. Dafür gibt es verschiedene Anbieter am Markt, die unterschiedliche Zielgruppen und Inhalte anbieten. Für die inhaltliche Gestaltung der Ausbildung ist es sinnvoll, sich an den Anforderungen und Regularien anderer Beratungsausbildungen oder Coachingausbildungen zu orientieren und neueste Entwicklungen in diesen Bereichen zu berücksichtigen. Dies setzt eine hohe Anforderung an die Trainer*innen voraus, die als solche qualifiziert und erfahren sein müssen.
Die Kriterien und Regularien, wie sie z.B. die Deutsche Gesellschaft für Beratung vorschreibt, sind sinnvoll, aber z.B. für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen zu modifizieren. Ein Hochschulabschluss ist im Allgemeinen sicher sinnvoll, wenn nicht notwendig. Für Peer Counseling, bei der die besondere Lebenserfahrung Grundlage und Voraussetzung ist, ist dies nicht unbedingt nötig oder gar möglich. Ebenso verhält es sich mit der Forderung nach schriftlicher Bewerbung für die Ausbildung, Dokumentation oder Abschlussarbeiten. Das ist für manche Peer Counselor wegen körperlicher, psychischer oder kognitiver Beeinträchtigung nicht möglich. Solche Zielgruppen wegen der nicht zu erbringenden Voraussetzungen auszuschließen, käme einer strukturellen Diskriminierung gleich. Stattdessen sind Alternativmodelle zielgruppenspezifisch zu erarbeiten, die das gleiche Ziel erfüllen. Für manche Interessierte ist auch eine länger als zehn Tage dauernde Qualifizierung nicht möglich oder löst Ängste aus, die dann dazu führen, sich gar nicht erst als Peer Counselor anzumelden.
8 Evaluation der Qualifizierung
Die Frage ist berechtigt, ob eine Peer Counseling-Ausbildung unter den oben geschilderten besonderen Rahmenbedingungen überhaupt Beratungsfähigkeiten entwickelt. Ein von Klaus-Peter Pfeiffer entwickeltes Schulungskonzept wurde von Reinold Zervas unter Zuhilfenahme des KODE-Verfahrens evaluiert (Zervas 2023). KODE steht für Kompetenz-Diagnostik und -Entwicklung (Erpenbeck und Sauter 2020; KODE GmbH 2023; Zervas 2023). KODE ermittelt konkrete Handlungsfähigkeiten und gibt Anregungen zur Kompetenzentwicklung von Personen, Gruppen, Teams und Organisationen. KODE geht von der Einmaligkeit jedes Einzelnen aus und hilft, das individuelle Handlungspotenzial zu entdecken, die individuelle Talententwicklung zu fördern sowie Stärken auszubauen.
Sowohl zu Beginn als auch am Ende der Ausbildung wurde ein Test durchgeführt. Die Analyse zeigte in allen untersuchten Fällen eine eindeutige Verbesserung der persönlichen Kompetenzprofile der Proband*innen, welche im Rahmen der Peer Counseling-Ausbildung geschult wurden. Konkret bedeutet dies, dass:
- In jedem einzelnen Fall ist ein deutlicher, in manchen Fällen auch ein extremer Effekt des Empowerments festzustellen.
- Proband*innen entwickeln im Rahmen der Schulungsreihe neue personale Strategien für den Umgang mit Stressoren und stressigen Situationen.
- Aufgrund der Nähe der Inhalte der Schulung zu Einzelkategorien des KODE-Kompetenzatlasses lässt sich jedem einzelnen Fall der Schulungserfolg der Ausbildungsreihe nachweisen.
Hiermit wurde erstmals der Erfolg einer Peer Counseling-Weiterbildung nachgewiesen. Die Evaluation und das Konzept wurden 2019 jeweils mit dem KODE Best Practice Award ausgezeichnet.
9 Grenzen des Peer Counseling
Ausgehend davon, dass Peer Counselor von qualifizierten Trainer*innen ausgebildet wurden und ihre Beratungskompetenz unter Beweis gestellt haben und soweit möglich regelmäßige Supervision erfahren, kann von folgenden Grenzen dieser Beratungsmethode ausgegangen werden:
- Äußerlich: Peer Counselor dürfen keine Rechtsberatung durchführen. Diese ist nur einem bestimmten Kreis juristisch ausgebildeter Personen vorbehalten. Genauso verhält es sich mit medizinischen oder psychiatrischen oder psychotherapeutischen Fragestellungen. Sollten solche Themen in der Beratung auftauchen, muss der Peer Counselor weiter verweisen.
- Innerlich: Der Peer Counselor sollte im Laufe seiner Ausbildung ein Profil der eigenen Stärken und Themen entwerfen, zu denen er/sie beraten kann. Genauso wichtig ist es, Themen zu benennen, zu denen er/sie nicht beraten kann oder beraten möchte. Die Vorteile von Peer Counseling können zugleich die Achillesferse sein. Da Beratende und Ratsuchende ähnliche Erfahrungen gemacht haben, kann die Schilderung von problematisch empfundenen Erfahrungen eine Retraumatisierung auslösen. Damit wäre der Peer Counselor in seiner eigenen Geschichte gefangen und könnte ggf. nicht mehr zwischen eigener und fremder Geschichte unterscheiden. Damit ist eine Beratung unmöglich. Daher ist es in der Ausbildung entscheidend, Methoden der Selbstfürsorge zu erlernen und die Fähigkeit zu entwickeln, Grenzen ziehen zu können. Dies stellt eine besondere Herausforderung aufgrund der gemeinsamen Erfahrungen dar.
10 Zukunft des Peer Counseling
Eine weitere Professionalisierung des Beratungsansatzes Peer Counseling ist erforderlich. Um die Akzeptanz dieser Beratungsform zu erhöhen, sollte Peer Counseling aus dem Nischendasein, zugänglich nur für bestimmte Zielgruppen, heraustreten und sich mit anderen Beratungsmethoden verknüpfen und vernetzen. Dazu gehört u.a., dass die Qualifikation der Trainer*innen von Peer Counseling-Ausbildungen sichergestellt wird. Das Vorhandensein einer qualifizierten Trainerausbildung bei den Ausbilder*innen ist leider bislang eher die Ausnahme.
Ein weiterer Punkt ist die Finanzierung der Arbeit der Peer Counselor. Peer Counseling ist eine besondere Form der Beratung. Die Anerkennung dieser Leistung erfordert eine angemessene Bezahlung der qualifizierten Peer Counselor. Allzu oft erfolgt dies nicht oder nur im Rahmen von Ehrenamtspauschalen. Eine Instrumentalisierung von Peer Counselorn, die – zumal im Bereich der Behinderung – oft selbst in prekären finanziellen Situationen leben, für andere Zwecke wie Imagepflege etc., ist dann nicht auszuschließen. Peer Counseling und Peer Counselor sind kein Feigenblatt für das Image von Einrichtungen und Kostenträgern.
11 Quellenangaben
Brautmann, Jan, Andreas Heimer, Micah Jordan, Jakob Maetzel, Mario Schreiner und Gudrun Wansing, 2017. Evaluation von Peer Counseling im Rheinland: Endbericht [online]. Berlin: Prognos AG und Universität Kassel [Zugriff am: 04.08.2023]. Verfügbar unter: https://www.lvr.de/media/​wwwlvrde/​soziales/​menschenmitbehinderung/​1_dokumente/​peer_counseling/​170717_Peer_Counseling_Endbericht.pdf
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), 2020. Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen [online]. Berlin: BMAS, 01.02.2021 [Zugriff am: 06.05.2023]. Verfügbar unter: https://www.bmas.de/DE/Soziales/​Teilhabe-und-Inklusion/​Politik-fuer-Menschen-mit-Behinderungen/​un-behindertenrechtskonvention-rechte-von-menschen-mit-behinderungen-langtext.html
Erpenbeck, John und Werner Sauter, 2020. Kompetenz [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 18.09.2020 [Zugriff am: 04.08.2023]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/654
Groysberg, Boris und Robert Russman Halperin, 2022. How to get the most out of the Peer Support Groups. In: Harvard Business Review. May-June 2022, S. 131–141. ISSN 0017-8012
Hermes, Gisela, 2006. Peer Counseling: Beratung von Behinderten für Behinderte als Empowerment-Instrument. In: Heike Schnoor, Hrsg. Psychosoziale Beratung in der Sozial- und Rehabilitationspädagogik. Stuttgart: Kohlhammer, S. 74–85. ISBN 978-3-17-019297-3 [Rezension bei socialnet]
KODE GmbH, 2023. Entwickeln Sie erfolgreiche Menschen – mit KODE®! [online]. Herrsching a. Ammersee: Kode GmbH [Zugriff am: 04.08.2023]. Verfügbar unter: https://www.kodekonzept.com/
Kreutz, Marcus, Klaus Lachwitz und Peter Trenk-Hinterberger, 2013. Die UN-Behindertenrechtskonvention in der Praxis. Köln: Luchterhand. ISBN 978-3-472-08048-0
Pfeiffer, Klaus-Peter, 2017. Peer Counseling im Rheinland: eine Erfolgsgeschichte? Erfahrungen und Erkenntnisse aus Sicht der Projektleitung. In: LVR-Dezernat Soziales, Hrsg. Peer Counseling im Rheinland: Dokumentation: Fachtagung – Blick zurück nach vorn [online]. Köln: LVR-Dezernat Soziales, S. 13–19 [Zugriff am: 04.08.2023]. Verfügbar unter: https://docplayer.org/77187091-Peer-counseling-im-rheinland.html
Zervas, Reinold, 2023. Evaluation der Peer Counseling-Ausbildung [online]. Köln: Klaus-Peter Pfeiffer [Zugriff am: 04.08.2023]. Verfügbar unter: https://dr-pfeiffer.de/wp-content/​uploads/2023/07/Zervas_Evaluation-der-Peer-Counseling-Ausbildung.pdf
12 Literaturhinweise
Ein ausführliches Literaturverzeichnis findet sich im Anlageband des Endberichts der Evaluation von Peer Counseling im Rheinland:
Prognos AG und Universität Kassel, 2017. Evaluation von Peer Counseling im Rheinland: Endbericht [online]. Köln: LVR [Zugriff am: 24.02.2023]. Verfügbar unter: https://dom.lvr.de/lvis/lvr_recherchewww.nsf/0/C3E2B5123A65715DC1258186002866BF/$file/Vorlage14_2125.pdf
13 Informationen im Internet
Verfasst von
Dr. Klaus-Peter Pfeiffer
Selbstständiger Trainer, Coach und Autor. Neben der Arbeit für Führungskräfte bietet er u.a. Coaching- und Peer Counseling-Ausbildungen in deutscher und englischer Sprache an. Die Arbeit für und mit Menschen mit Behinderung ist ihm aufgrund seiner Sehbehinderung ein besonderes persönliches Anliegen.
Website
Mailformular
Es gibt 1 Lexikonartikel von Klaus-Peter Pfeiffer.
Zitiervorschlag
Pfeiffer, Klaus-Peter,
2023.
Peer Counseling [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 19.10.2023 [Zugriff am: 20.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/27910
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Peer-Counseling
Urheberrecht
Dieser Lexikonartikel ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion des Lexikons für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.