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Pflegediagnose

Dr. Berta M. Schrems

veröffentlicht am 20.03.2023

Etymologie: gr. diagnosis Beurteilung, Erkenntnis

Englisch: nursing diagnosis

Mit einer Pflegediagnose werden pflegerelevante Probleme, als Reaktion auf aktuelle und potenzielle Gesundheitsprobleme und/oder Lebensprozesse, benannt. Sie leitet sich aus der Informationssammlung mit Klient_innen ab und stellt die Grundlage für die Planung und Durchführung von Pflegeinterventionen zur Stabilisierung, Verbesserung bzw. Lösung eines pflegerelevanten Problems dar.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Pflegediagnosen als Teil des Pflegeprozesses
  3. 3 Unterschied zwischen medizinischer Diagnose und Pflegediagnose
  4. 4 Die Pflegediagnose als Ergebnis
  5. 5 Struktur von Pflegediagnosen
  6. 6 Pflegesprache und Pflegediagnosenklassifikation
  7. 7 Historische Entwicklung der Pflegediagnose
  8. 8 Wissenschaftliche Erkenntnisse zum Nutzen von standardisierten Pflegediagnosen in der Praxis
  9. 9 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Die Pflegediagnose ist ein Instrument zur Bezeichnung eines für die Pflege relevanten Problems. Sie ist Ausgangspunkt für die Planung und Durchführung von Pflegeinterventionen. Ihre Grundlage ist die Informationssammlung im Rahmen der Pflegeanamnese (Vorgeschichte), aus der aktuelle und/oder potenzielle Pflegediagnosen abgeleitet werden. Im Unterschied zur medizinischen Diagnose richtet sich die Pflegediagnose auf die Reaktionen von Klient_innen auf ein Gesundheitsproblem, wie z.B. Krankheit, oder auf einen Lebensprozess, wie z.B. Alter. Je präziser eine Pflegediagnose formuliert wird, desto besser können die weiteren Schritte des Pflegeprozesses durchgeführt werden, wie die Abstimmung der Pflegeinterventionen auf den Pflegebedarf, die Durchführung der Pflegeinterventionen und die Prüfung der Wirksamkeit. Im Kontext einer evidenzbasierten Pflegepraxis werden die ursprünglich aus der Pflegepraxis stammenden Pflegediagnosen auf wissenschaftlicher Basis weiter-/​entwickelt und in Klassifikationssystemen geordnet.

2 Pflegediagnosen als Teil des Pflegeprozesses

Der Begriff Diagnose war lange Zeit der Medizin vorbehalten und ist auch so in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Der Bedeutung des Begriffs Diagnose folgend, „französisch, von griechisch diágnosis ‚unterscheidende Beurteilung‘, ‚Erkenntnis‘“ (Brockhaus o.J.), sind es aber nicht nur Ärzt_innen, die diagnostizieren, sondern auch Lehrer_innen, Organisationsentwickler_innen oder Mechaniker_innen und so auch Pflegepersonen. Die Entwicklung und Verwendung von Pflegediagnosen zur Bezeichnung eines Pflegeproblems, auch als Pflegephänomen bezeichnet, ist im deutschsprachigen Raum eng verbunden mit der Implementierung des Pflegeprozesses in den 1980er-Jahren. Beim Pflegeprozess handelt es sich um ein strukturierendes und mehrschrittiges Verfahren zur Planung, Durchführung und Beurteilung der Pflege. Die Schritte umfassen die Pflegeanamnese, Pflegediagnose, Zielformulierung, Planung und Ausführung von Pflegeinterventionen sowie die Evaluierung der Zielerreichung. Aus dieser Zeit stammt auch die erste Arbeitsdefinition zu Pflegediagnosen, in welcher der Unterschied zur medizinischen Diagnose deutlich gemacht wird.

„Pflegediagnosen stellen eine klinische Beurteilung der Reaktionen eines Individuums, einer Familie, einer Gruppe oder einer Gemeinschaft auf aktuelle und potenzielle Gesundheitsprobleme und/oder Lebensprozesse dar. Pflegediagnosen bilden die Grundlage für die Auswahl pflegerischer Interventionen, um Ziele zu erreichen, für welche die Pflegefachkraft verantwortlich ist“ (Carroll-Johnson 1993, zit. n. Gordon und Bartholomeyczik 2001, S. 13).

Aus dieser Arbeitsdefinition geht nicht nur der Unterschied zur medizinischen Diagnose hervor, sondern es wird auch ersichtlich, dass der Begriff Pflegediagnose zum einen die Bezeichnung eines Zustands ist, aber gleichzeitig auch den Prozess des Erstellens beinhaltet.

  • Mit der Definition von Pflegediagnosen als „klinische Beurteilung“ wird der Prozess des Diagnostizierens, also die Pflegediagnostik, angesprochen.
  • Mit der Formulierung von Reaktionen eines Individuums, einer Familie, einer Gemeinschaft oder einer Gemeinde wird hingegen das Ergebnis des diagnostischen Prozesses benannt.

3 Unterschied zwischen medizinischer Diagnose und Pflegediagnose

Pflegediagnosen unterscheiden sich von der medizinischen Diagnose darin, dass sie dieser als Reaktion nachgelagert sind. Während in der Medizin Diagnosen anatomische, physiologische oder funktionale Veränderungen abbilden, die eine Krankheit beschreiben oder im Lebensprozess (z.B. Alter, Adoleszenz, Kindheit) auftreten, handelt es sich bei Pflegediagnosen um die individuelle Reaktion der betroffenen Personen auf diese Veränderungen. Die Reaktionen können somatischer Natur sein, wie Mobilitäts- oder kognitive Einschränkungen, Schmerzen, Inkontinenz, Hautschädigungen, Mangelernährung, sie können psychische Phänomene beinhalten, wie Macht- oder Hoffnungslosigkeit, Körperbildstörung, Angst, und auch soziale Phänomene bezeichnen, wie unterbrochene Familienprozesse, soziale Isolation oder Rollenüberlastung pflegender Angehöriger.

Im Unterschied zur medizinischen Diagnose bildet für die Pflegediagnose die Problemursache (z.B. Krankheit oder Alter) den Interpretationshintergrund. So ist es z.B. wichtig zu wissen, ob ein Zustand akut oder chronisch ist, ob und wenn ja, in welcher Weise eine Veränderung oder vollständige Gesundung erwartbar bzw. wie die Prognose insgesamt ist. Ändert sich der Gesundheitszustand oder tritt eine neue Phase im Lebensprozess ein (vom Kind zum Jugendlichen oder vom Alter in die Hochaltrigkeit), ändert sich möglicherweise auch die Reaktion und damit auch die Pflegediagnose. Damit sind Pflegediagnosen als vorläufige Konstruktionen zu sehen, die entsprechend der Veränderung der Reaktion, hervorgerufen durch die Veränderung des Zustandes, anzupassen sind.

4 Die Pflegediagnose als Ergebnis

In der professionellen Pflege können vier Arten von Pflegediagnosen unterschieden werden (Gallagher-Lepak 2021):

  1. Problemfokussierte Pflegediagnosen umfassen die klinische Beurteilung einer unerwünschten menschlichen Reaktion auf einen Gesundheitszustand/​Lebensprozess eines Individuums, einer Familie, einer Gruppe oder Gemeinschaft (z.B. Schmerz).
  2. Risikopflegediagnosen umfassen die klinische Beurteilung der Vulnerabilität oder Verletzlichkeit eines Individuums, der Familie, Gruppe oder Gemeinschaft, eine unerwünschte menschliche Reaktion auf einen Gesundheitszustand/​Lebensprozess zu entwickeln (z.B. Risiko einer Infektion).
  3. Pflegediagnosen der Gesundheitsförderung umfassen die klinische Beurteilung der Motivation und des Wunsches, das Wohlbefinden zu steigern und das menschliche Gesundheitspotenzial zu verwirklichen (z.B. unwirksames Gesundheitsmanagement).
  4. Syndromdiagnosen umfassen die klinische Beurteilung hinsichtlich einer speziellen Gruppe von Pflegediagnosen, die zusammen auftreten und mit ähnlichen Interventionen behandelt werden (z.B. Posttraumatisches Syndrom).

5 Struktur von Pflegediagnosen

Pflegediagnosen werden nach dem sogenannten PES-Schema oder dem erweiterten PESR-Schema formuliert. Dabei steht

  • P für Problem oder die Definition/​Bezeichnung des Problems,
  • E für Einflussfaktoren, oftmals auch als Ätiologie (Ursache) und daher mit Ä bezeichnet,
  • S für Symptome oder charakteristische/​unterscheidende Merkmale, an denen das Problem erkennbar ist, und
  • R für Ressourcen im Hinblick auf die Person sowie das soziale, materielle und räumliche Umfeld betreffend.

Im diagnostischen Prozess werden diese Aspekte umgekehrt wie oben angeführt erfasst. Die Problemdefinition wird von den Symptomen, die einen für die Pflege relevanten Unterschied angeben, wie z.B. eine Abweichung zum Normalzustand, und den Einflussfaktoren, wie z.B. eine medizinische Diagnose oder das Alter, abgeleitet (Ackley et al. 2020). Das PES-Schema wird auch als Gradmesser für die Feststellung der Genauigkeit von Pflegediagnosen herangezogen. Die Angabe eines Problems ohne die damit zusammenhängenden Einflussfaktoren und/oder charakteristischen Merkmalen stellt eine Quelle für Interpretationsfehler dar (Paans et al. 2010).

6 Pflegesprache und Pflegediagnosenklassifikation

In den Anfängen der Verwendung von Pflegediagnosen als Ergebnis wurden diese frei formuliert, d.h. das Pflegeproblem wurde von der Pflegefachkraft mit eigenen Worten benannt. Im Laufe der Jahre setzten sich standardisierte Klassifikationssysteme von Pflegediagnosen durch. Der Prozess der Systematisierung der Pflegediagnosen wird auch als die Entwicklung einer Pflegesprache bezeichnet. Um das pflegerelevante Phänomen in seiner Beschaffenheit erfassen und von anderen unterscheiden zu können, muss es eindeutig und vollständig in der Pflegediagnose abgebildet sein. Ebenso muss es wiederholt und durch verschiedene Personen angewandt und unabhängig vom Kontext zu gleichen Ergebnissen führen. Pflegediagnosen müssen folglich nach den wissenschaftlichen Gütekriterien formuliert sein.

Pflegediagnosen sind aber auch ein Kommunikationsinstrument, indem sie die Verständigung über Pflegephänomene durch eine einheitliche Bezeichnung derselben erleichtern. Allgemein können in der Pflege als Teil des Gesundheitswesens drei zentrale Ebenen der Gesundheitskommunikation unterschieden werden, in denen ein spezielles und einheitliches Vokabular notwendig ist (McCormick und Jones 1998).

  1. Die erste Ebene ist die direkte Kommunikation zwischen Klient_innen und Pflegekräften. Sie erfolgt auf der individuellen Ebene, in der konkreten Pflegesituation. Es handelt sich dabei um die Sprache der pflegerischen Interaktion und Kommunikation mit Klient_innen, die sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben können. So wird z.B. in der Altenpflege ein anderes Vokabular benötigt als in der Intensiv-, der Kinder- oder der psychiatrischen Pflege.
  2. Die zweite Ebene stellt das Netzwerk im Gesundheitssystem dar. Darunter fallen unterschiedliche Pflegebereiche wie die häusliche Pflege, Tageseinrichtungen, die stationäre Altenpflege oder die Akutversorgung. Für die Managementebenen können hieraus Schlüsse für Personalbedarf und Ergebnisqualität gezogen werden. Auf der Grundlage von häufigen Pflegediagnosen können Pflegebedarfe abgebildet, passende Pflegeinterventionen entwickelt oder in spezielle Pflegeangebote, Finanzierungssysteme oder Ausbildungsinhalte übersetzt werden. Sie dienen damit nicht nur der organisationsbezogenen und fachinternen, sondern auch der institutions- und fachübergreifenden Kommunikation.
  3. Die dritte Ebene geht über Individuen und über die Gesundheitseinrichtung hinaus und umfasst nationale und internationale Bereiche. Eine universale Sprache ist für den Bereich der Gesundheitsberichterstattung innerhalb eines Landes und ländervergleichend notwendig, aber auch für die Wissenschaft. So ist es wichtig, sich national und international über die Auswirkungen eines bedrohlichen Virus verständigen zu können.

Die Notwendigkeit der Festlegung und Ordnung von Pflegephänomenen wuchs mit der Professionalisierung der Pflege und dem Zugewinn an Wissen. Die Geschichte der Pflegediagnosen als originäre Pflegesprache geht mit der Entwicklung wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse durch die Pflegeforschung einher. Die Aspekte der wissenschaftlichen Fundierung, der Ordnung und Systematisierung des Pflegewissens sowie der nachvollziehbaren Anwendung im Pflegeprozess können auch als Eckpfeiler des Professionalisierungsprozesses der Pflege bezeichnet werden.

7 Historische Entwicklung der Pflegediagnose

Der Entwicklung der standardisierten Pflegediagnosen geht eine zweihundertjährige Geschichte der Ordnung von Krankheiten voraus. Francisco Boissier de Sauvages nahm Mitte des 17. Jahrhunderts unter dem Titel „Nosologia Methodica“ eine systematische Ordnung von Todesursachen vor. Florence Nightingale forderte im Rahmen des 4. International Statistical Congress im Jahr 1860 in London mit dem „Proposal for a Uniform Plan of Hospital Statistics“, dass nicht nur tödliche Erkrankungen in das Ordnungssystem aufgenommen werden sollen. So entstand eine erweiterte Ordnung unter dem Titel „International Classification of Diseases and Causes of Death“ (Internationale Klassifizierung von Krankheiten und Todesursachen). Sie bestand von 1893 bis 1946.

Ab 1946 übernahm die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Verantwortung für die kontinuierliche Aktualisierung des Ordnungssystems von Krankheiten. Der Begriff Todesursachen wurde aus dem Titel des Ordnungssystems gestrichen und der internationale Diagnoseschlüssel der WHO ist seither unter dem Kürzel ICD (International Classification of Diseases) bekannt. Auf Empfehlung der WHO wurden regionale Komitees gegründet, die landes- und regionsspezifisch die Krankheitsentwicklung (Epidemiologie) und kulturelle Aspekte berücksichtigen und durch Zusammenkünfte in Konferenzen die weltweiten Entwicklungen abbilden können. Ebenso haben sich im Laufe der Zeit für spezifische Krankheitsgruppen oder Disziplinen (psychische Krankheiten, Unfälle, Operationen, Pathologie) eigene, international anerkannte und abgestimmte Systeme entwickelt (Gordon 1998).

Aus der Geschichte der Klassifizierung von Krankheiten und Todesursachen lassen sich Parallelen zur Entwicklung der Pflegeklassifikationen erkennen. So stand am Beginn der Systematisierung des Pflegewissens die Ordnung von Pflegehandlungen, gefolgt von individuellen, aus der Krankheit resultierenden Pflegeproblemen. Später kamen die Aspekte der Gesundheitsförderung und der Einbeziehung von Familien hinzu. Gleiches gilt für die Spezialisierung für bestimmte Bereiche wie Klassifikationssysteme für das Akutsetting, den häuslichen Pflegebereich oder den Langzeitpflegebereich (Gordon 1998; Müller Staub und Georg 2016).

Eine sehr frühe Quelle eines Systematisierungsversuchs des Pflegewissens ist die Publikation von Bertha Harmer, eine kanadische Krankenschwester und Lehrerin, zum Thema „Methods and Principles of Teaching the Principles and Practice of Nursing“ (1938), wenngleich hier nicht der Begriff Pflegediagnosen verwendet wird. Harmer beschäftigte sich mit der Frage, ob das Pflegewissen entsprechend den medizinischen oder anderen Fächern geordnet werden könnte bzw. ob die Arbeit der Pflege ebenso wie die Tätigkeiten der Medizin beschrieben und auf einzelne Patient_innen bezogen werden sollte. Sie verwendete den Begriff der social diagnosis“ (Harmer 1938, S. 117). Ihre Bemühungen blieben zunächst unbeachtet und die Antworten auf ihre Fragen bzw. Taten folgten erst Jahrzehnte später.

Der nächste Schritt in der Entwicklung der Pflegediagnosen wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika Mitte der 1950er-Jahre mit der Implementierung des Pflegeprozesses in die Pflegepraxis gesetzt. Die Pflegewissenschaftlerin Faye Glenn Abdellah entwickelte im Jahr 1959 auf Basis einer Umfrage in Ausbildungseinrichtungen gemeinsam mit diesen ein Ordnungssystem von Pflegeproblemen. Es wurden 21 Pflegeprobleme in Form von Pflegezielen formuliert, die in der Gestaltung von Ausbildungsprogrammen und in der Praxis zur Anwendung kamen. Etwa zur gleichen Zeit begann Virginia Henderson mit der Entwicklung eines Ordnungssystems, das 14 Grundbedürfnisse des Menschen umfasste. Rund 15 Jahre später initiierte die American Nursing Association (ANA) 1973 die „First National Conference on Classification of Nursing Diagnoses“.

Die intensive Auseinandersetzung mit Pflegediagnosen führt in den frühen 1980er-Jahren zur Gründung der North American Nursing Diagnosis Association (NANDA), die eine erste Version von standardisierten Pflegediagnosen vorlegte. Wesentlich an dieser Entwicklung war der Grundgedanke, dass Pflegefachpersonen an der Entwicklung der Systeme beteiligt sein müssen (Gordon 1998; Müller Staub und Georg 2016). Damit stellt NANDA das erste professionell entwickelte Ordnungssystem von Pflegediagnosen dar. Die Basis für die Ordnungssysteme waren Expertisen und Praxiserfahrungen von Pflegefachpersonen und klinischen Expert_innen. Erst nach und nach erfolgte die Ordnung der Pflegediagnosen der NANDA entsprechend einem theoretischen Modell (Gordon 1990) und die Entwicklung von Kriterien zur wissenschaftlichen Fundierung (Kriterien für die Evidenzebene, auch Level of Evidence) (NANDA-I 2022). Etwa um das Jahr 2000 kam es zu einer internationalen Ausrichtung der Organisation, die im Jahr 2002 auch zu ihrer Umbenennung in NANDA International (NANDA-I) führte.

Schrittweise erfolgten weitere Entwicklungen von Systemen und eine Differenzierung für bestimmte Pflege- oder Versorgungsbereiche, wie das Omaha-Klassifikationssystem (benannt nach der Stadt Omaha in den USA) oder das Clinical Care Classification System (CCCS), beide ursprünglich für den häuslichen Bereich. Mittlerweile wird Omaha auch im Langzeitpflegebereich und das CCCS im Akutbereich angewandt. Die Konzentration der Entwicklung auf die Vereinigten Staaten von Amerika veranlasste den International Council of Nursing (ICN) im Jahr 1989 dazu, ein weltweites Projekt mit dem Titel International Classifications of Nursing Practice (ICNP®) zu schaffen. Gleichzeitig wurden im deutschsprachigen Raum Klassifikationssysteme wie ENP (European Nursing care Pathways) in Deutschland und POP (PraxisOrientierte Pflegediagnostik) in Österreich entwickelt (Müller Staub et al. 2016).

Die relativ kurze Geschichte der Pflegediagnosenklassifikation zeigt, dass das bestehende Wissen ständig weiterentwickelt wird und mit neuen Erkenntnissen angereichert werden muss. Dies betrifft nicht nur bestehende Pflegediagnosen, sondern auch pflegerelevante Phänomene, die sich mit demografischen, epidemiologischen sowie gesundheits- und berufspolitischen Entwicklungen verändern bzw. neu entstehen. Eine Gemeinsamkeit aller Systeme muss daher das Streben nach einer wissenschaftlichen Absicherung sein, auch wenn die genannten Klassifikationssysteme hierüber mehr oder weniger transparent sind.

8 Wissenschaftliche Erkenntnisse zum Nutzen von standardisierten Pflegediagnosen in der Praxis

Die Implementierung von Pflegediagnosen Mitte der 1980er-Jahre war Anlass für die kritische Auseinandersetzung mit Vor- und Nachteilen von standardisierten Pflegediagnosen in der Praxis. Die Vorteile wurden vor allem auf der Ebene der Professionalisierung der Pflege gesehen und konzentrierten sich auf die wissenschaftliche Fundierung, Strukturierung und Systematisierung des pflegerischen Wissens, d.h. auf die einheitliche Sprache (Schrems 2021). Nachteile wurden hingegen für den diagnostischen Prozess gesehen. In der Zwischenzeit sind fast vierzig Jahre vergangen, sodass einige Praxiserfahrungen gesammelt und Erkenntnisse gewonnen werden konnten. Bislang gibt es jedoch keine aktuelle und umfassende Evaluation zum Nutzen von standardisierten Pflegediagnosen im deutschsprachigen Raum. Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse sind daher nur als Einblick in internationale Forschungsergebnisse zu sehen, wenngleich durch die Literaturarbeiten die Thematik relativ breit abgebildet werden kann.

In einer Literaturübersicht zur systematischen Integration von Pflegeklassifizierungssystemen finden sich einige Hinweise auf die Vorteile solcher Systeme. Sie unterstützen eine einheitliche Fachsprache, die Dokumentation und die fachinterne Kommunikation. Eine standardisierte Pflegesprache im Zeitalter einer datenbasierten Gesundheitsversorgung vereinfacht die Dokumentation der Pflegeleistungen und damit auch der Datenauswertung sowie die Kommunikation innerhalb der Pflege und mit anderen Gesundheitsdisziplinen (Johnson et al. 2018).

Diese Erkenntnisse werden in zwei weiteren Literaturarbeiten bestätigt. So wurde in einer Arbeit festgestellt, dass der Einsatz von standardisierten Pflegediagnosen in der klinischen Praxis die Kommunikation und die Qualität der Versorgung verbessert sowie die Gesundheitsversorgung und die Wissensgenerierung erleichtert (Fennelly et al. 2021). Die zweite Arbeit kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass sich eine standardisierte Pflegesprache positiv auf die klinische Praxis auswirkt, indem sie das Pflegepersonal bei der Umsetzung von Pflegeplänen, bei der Überwachung von Veränderungen unterstützt und so zur Verbesserung der Gesundheitsergebnisse der Klient_innen sowie zu einer evidenzbasierten Pflegepraxis und zum globalen Austausch von Daten beiträgt (Zhang et al. 2021).

Inwiefern Klient_innen von den Vorteilen einer einheitlichen Pflegesprache einen Nutzen haben, wurde im Rahmen einer weiteren Literaturarbeit untersucht. In dieser Arbeit konnte festgestellt werden, dass mittels Pflegediagnosen die Pflegeergebnisse von Klient_innen sowie jene der Organisation vorhergesagt werden können, z.B. die Dauer des Krankenhausaufenthalts, der Krankenhauskosten, des Ausmaßes an Pflege oder Aspekte der Entlassung. Ebenso konnte ermittelt werden, dass Pflegepläne, die auf Pflegediagnosen basieren, zur Verbesserung der Schlaf- und Lebensqualität sowie der kontinuierlichen Blutzuckerkontrolle beitrugen (Sanson et al. 2017).

Aus den wenigen Ergebnisse kann vorsichtig geschlossen werden, dass Pflegediagnosen einen positiven Beitrag zur Kommunikation, Dokumentation und Pflegequalität leisten.

9 Quellenangaben

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Verfasst von
Dr. Berta M. Schrems
Privatdozentin an der Universität Wien. Freiberuflich tätig in Lehre, Beratung und Forschung.
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Zitiervorschlag
Schrems, Berta M., 2023. Pflegediagnose [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 20.03.2023 [Zugriff am: 13.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/2683

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