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Pflegediagnostik

Dr. Berta M. Schrems

veröffentlicht am 20.03.2023

Etymologie: gr. diagnosis Beurteilung, Erkenntnis

Englisch: nursing diagnostics

Die Pflegediagnostik dient der Erschließung pflegerelevanter Phänomene. Sie ist ein Kernprozess der Pflege und integraler Bestandteil des Pflegeprozesses als begründetes und prozesshaftes Verfahren zur Erhebung des Pflegebedarfs, zur Planung und Durchführung notwendiger Interventionen und zur Einschätzung der Wirksamkeit der Pflege.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Die Pflegediagnostik, ein Kernprozess der Pflege
  3. 3 Der Prozess des Diagnostizierens
  4. 4 Die Dynamik der pflegerischen Diagnostik
  5. 5 Die Informationsebenen der Pflegediagnostik
  6. 6 Instrumente der Pflegediagnostik
  7. 7 Verstehende Pflegediagnostik
  8. 8 Kernkompetenzen der Pflegediagnostik
    1. 8.1 Kritisches Denken als Grundkompetenz
    2. 8.2 Fachwissen, Beobachtungsfähigkeit und Reflexionsvermögen
    3. 8.3 Kommunikations- und Deutungsfähigkeit
    4. 8.4 Wissenschaftliche Grundkenntnisse
    5. 8.5 Fachliche Eigenverantwortung
    6. 8.6 Ethisches Grundverständnis
  9. 9 Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirkung der Pflegediagnostik in der Praxis
  10. 10 Quellenangaben
  11. 11 Literaturhinweise

1 Zusammenfassung

Die Pflegediagnostik dient der Erschließung von Pflegephänomenen, die mehr (wie z.B. eine erhöhte Temperatur oder eine Hautrötung) oder weniger (wie z.B. Trauer oder Angst) direkt wahrnehmbar bzw. beobachtbar und ausschlaggebend für den Pflegebedarf sind. Die Erhebung des Pflegebedarfs erfolgt auf Basis einer umfassenden Informationssammlung unter Verwendung von Assessmentinstrumenten zur Präzisierung und Bezeichnung des Problems. Die Bezeichnung des Pflegeproblems entspricht der Pflegediagnose. Als Kernprozess der Pflege ist die Pflegediagnostik ausschlaggebend für das Ergebnis der Pflege, denn je genauer die Erfassung des Pflegeproblems ist, desto stimmiger können zielgerichtete Pflegeinterventionen angeleitet werden. Die Grundlagen und Instrumente der Pflegediagnostik wurden in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt und standardisiert, dennoch bleiben einige Herausforderungen bestehen. Diese liegen zum einen in der Dynamik und kontinuierlichen Veränderlichkeit der Pflegediagnosen als eine Reaktion auf einen Gesundheits-/​Lebensprozess und zum anderen auf der Verstehensebene durch die Anwendung standardisierter Instrumente zur Erfassung individueller Probleme. Eine adäquate Pflegediagnostik erfordert demnach intellektuelle, fachspezifische und interaktiv-soziale Fähigkeiten sowie Handlungsspielraum zur Übernahme der Verantwortung fachlicher Entscheidungen.

2 Die Pflegediagnostik, ein Kernprozess der Pflege

Die Pflegediagnostik ist ein Kernprozess der Pflege, ihre Qualität ist ausschlaggebend für alle weiteren Schritte im Pflegeprozess. Der diagnostische Prozess ist gekennzeichnet durch:

  • Wahrnehmung: mit den Sinnen: sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen,
  • Beobachtung: als gerichtete Aufmerksamkeit zur Informationssammlung und Feststellung von pflegerelevanten Unterschieden,
  • Bezeichnung: zur Benennung des Beobachteten mittels Begriffen bzw. einer Fachsprache, und
  • Kommunikation: zum verbalen und nonverbalen Austausch, um Konsens zu erreichen oder sich auf einen Dissens zu einigen (Schrems 2021).

In der Pflegediagnostik richten sich diese Aspekte auf Reaktionen von Individuen, Familien, Gruppen, Gemeinschaften auf Gesundheits- und Krankheitsphänomene bzw. Lebensprozesse. Pflegediagnostik umfasst neben dem intellektuellen Prozess (wahrnehmen, beobachten, bezeichnen) einen interpersonellen Prozess (Kommunikation) und einen fachspezifischen Prozess, wenn es um die Anwendung spezifischer Instrumente, wie z.B. Assessmentinstrumente, und um Fähigkeiten geht, wie z.B. das kritische Denken in der Zusammenführung und Analyse von gesammelten Informationen sowie für die Entscheidungsfindung (Lunney 2007).

3 Der Prozess des Diagnostizierens

Ausgehend von der Bedeutung des Begriffs Diagnose können für den Prozess des Diagnostizierens drei Schritte unterschieden werden.

„Diagnosis, Entlehnung von griech. Diágnõsis […] ‚Unterscheidung, Beurteilung, Erkenntnis, bes. die Beurteilung einer Krankheit durch den Arzt‘, Bildung zu griech. Diagignoskein […] ‚genau, durch und durch erkennen, unterscheiden, beurteilen‘“ (Pfeifer 2000, S. 221).

Die Unterscheidung bezieht sich auf die Gegenstands- oder Zustandsebene. Die Qualität des diagnostischen Prozesses liegt in der differenzierten Unterscheidung und wird durch das Potenzial an Unterscheidungsmöglichkeiten der Beobachter_innen bestimmt. Diese ergeben sich z.B. aus der Kenntnis von Normalzustand und Abweichung oder aus dem Unterschied zwischen zwei Abweichungen. In der Pflege häufig vorkommende Unterscheidungsebenen sind:

  • normal und abweichend (z.B. Hautfarbe)
  • für bestimmte soziale Gruppen zutreffend (z.B. Männer/Frauen, Kinder, alte Menschen)
  • zwischen Phänomenen einer Kategorie (Angst und Furcht)
  • auf der zeitlichen Ebene (tagsüber/nachts, gestern/​heute)
  • im Hinblick auf Wirkung/​Folgen von Handlungen (vor/nach einer Pflegeintervention)

Die Beurteilung von Pflegephänomenen im diagnostischen Prozess erfolgt auf zwei Ebenen. Zum einen geht es um die fachliche Relevanz. Sie wird vor dem Hintergrund von Fachinhalten, wie Theorien, empirischen Erkenntnissen, Standards, Leitlinien, Assessmentinstrumenten etc., und dem Berufsverständnis beurteilt, mit der Frage, was das Pflegerelevante ist und worin der Auftrag einer Pflegenden besteht. Zum anderen geht es um die individuelle Bedeutung vor dem Hintergrund der Bedürfnisse und vorhandenen Ressourcen der betroffenen Klient_innen (mit dieser Bezeichnung sind auch Patient_innen und Bewohner_innen in Altenpflegeeinrichtungen gemeint). Fachliche Relevanz sowie individuelle Bedeutung stehen im Zusammenhang mit dem Kontext, in dem Unterscheidungen getroffen werden.

Die Vermittlung der individuellen Bedeutung und der pflegefachlichen Relevanz eines Phänomens entspricht dem Erkennen, der dritten Kerndimension des Diagnostizierens. Erkenntnis oder Einsicht in eine Sache zu erlangen, bedeutet Schlussfolgern und dient der Begründung des Handelns oder der Unterlassung desselben. Die Abstimmung von individueller Bedeutung und pflegefachlicher Relevanz erfolgt in einem Interpretationsraum, der in der Erfahrung und den daraus erwachsenden Vorstellungen zu Krankheit bzw. bestimmten Lebensprozessen von Klient_innen und Pflegepersonen liegt (Schrems 2018).

4 Die Dynamik der pflegerischen Diagnostik

Diagnostizieren ist kein linearer Prozess, sondern stellt eine Reihe oder Spirale miteinander verbundener und fortlaufender klinischer Begegnungen dar. Pflegediagnostik unterliegt hierbei einer zweifachen Dynamik. Zum einen werden Diagnosen in der Pflege prozesshaft erfasst, so lange, bis sich eine für beide Seiten annehmbare Beschreibung der Situation oder des Problems herauskristallisiert. Zum anderen verändern sich das Verhalten und die Reaktionen im Laufe eines Gesundheits- oder Krankheitsprozesses oder im Lebensprozess, sodass sich immer wieder eine andere oder neue Reaktion bzw. Ist-Situation ergeben kann.

Um dieser Dynamik pflegefachlich begegnen zu können, gilt es in einem ersten Schritt, die Beobachtungen von Pflegepersonen und von Klient_innen zur gegenseitigen Abstimmung zu kommunizieren. In einem weiteren Schritt sind die abgestimmten Beobachtungen mit der Pflegediagnosenklassifikation abzugleichen. Pflegediagnosenklassifikationen sind abstrakte Begriffsordnungen und Kategoriensysteme und vom Kontext unabhängig, weil nur so eine fallübergreifende, fachinterne Kommunikation möglich ist. Pflegediagnosen beziehen sich aber auch auf die Beschreibung einer gesundheitsbezogenen Situation oder eines Phänomens einer konkreten Person. Diese Beschreibung beinhaltet die subjektive Sichtweise und die Zuschreibung der Bedeutung der Situation und ist damit kontextbezogen. Die Kunst des Diagnostizierens liegt also in der Verständigung und im stimmigen Abgleich zwischen dem abstrakten Begriffssystem, der Sicht der Pflegeperson und der Sicht der Klient_innen. Dieser Abstimmungsprozess wiederholt sich bei jeder Veränderung des Gesundheitsproblems oder Lebensprozesses.

5 Die Informationsebenen der Pflegediagnostik

Die Probleme von Klient_innen sind nicht wohlgeordnete Begriffssysteme, wie sie sich in den Klassifikationssystemen finden, sondern definieren sich über die Beziehungen unterschiedlicher Aspekte untereinander bzw. über die Bedeutungen, die sie für die jeweilige Person haben. Selten steht ein Pflegephänomen für sich allein. So können die Auswirkungen von Schmerzen vielfältig sein, wie z.B. schädigende Körperhaltung, Angstzustände, unzureichende Ernährung oder Rückzug aus dem sozialen Geschehen. Im diagnostischen Prozess sind hierzu drei Informationsebenen von Bedeutung, auf denen auf der Analyseebene sowohl für sich stehend als auch in der Beziehung untereinander Information generiert wird (Schrems 2018).

  1. Klassifizierungsinformationen entsprechen der Bezeichnung oder Beschreibung von Phänomenen und deren Ordnung in Kategoriensysteme. Dies sind die einzelnen Pflegediagnosen. Sie sind theoretisch und empirisch fundiert und unterliegen einer ständigen wissenschaftlichen Prüfung.
  2. Relationsinformationen entsprechen der Betrachtung des Zusammenwirkens von Einzelphänomenen und der daraus ersichtlichen Muster. Relationsinformationen finden sich auch in den Kategoriensystemen der Pflegediagnosen, indem auf Verbindungen zu anderen Diagnosen hingewiesen oder Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge hergestellt werden.
  3. Relevanzinformationen entsprechen der Zuschreibung von Bedeutung eines Pflegephänomens für betroffene Personen oder der Herstellung eines Sinnzusammenhangs, der sich nicht aus dem Einzelphänomen erschließen lässt. Im Bereich der Pflege wird hier auch von „subjektiven Krankheitskonzepten“ gesprochen.

6 Instrumente der Pflegediagnostik

Ausgangspunkt für den diagnostischen Prozess ist die Anamnese. Die Anamnese umfasst die Entstehungs- oder Vorgeschichte einer Krankheit, beeinflussende Aspekte im soziokulturellen Umfeld sowie Aspekte der Alltagsbewältigung. Damit wird auch auf die Lebenswelt der betroffenen Person Bezug genommen.

Zur einheitlichen und fundierten Beschreibung eines Phänomens werden im Weiteren Assessmentinstrumente eingesetzt. Mit dem Assessment wird die Ausprägung der kennzeichnenden Merkmale eines Pflegephänomens (z.B. Vorhandensein und Grad eines Druckgeschwürs) erfasst. Assessmentinstrumente müssen den wissenschaftlichen Gütekriterien Objektivität, Reliabilität und Validität gerecht werden, um Unterschiede feststellen zu können. Darüber hinaus muss ein gutes Assessment auch den Anforderungen der Praxis genügen. Hier gelten die Kriterien Effizienz (Aufwand – Nutzen), Nützlichkeit (relevant für die Pflegepraxis) und Praktikabilität (gegebene Strukturen/​vorhandene Ressourcen) (Bartholomeyczik 2009). Assessmentinstrumente stellen das Bindeglied zwischen der Anamnese, d.h. der Vorgeschichte mit Kontextinformationen, und der Diagnose, d.h. der Problemdefinition, dar.

Mit der Pflegediagnose werden anhand von charakteristischen Merkmalen oder Symptomen der Zustand sowie mögliche Ursachen bzw. beeinflussende Faktoren beschrieben. Pflegediagnosen als Instrument und gleichzeitig Ergebnis eines Interaktions- und Kommunikationsprozesses verweisen auf den interpersonellen Aspekt in der Pflegediagnostik.

Das Zusammenspiel der drei Instrumente, Pflegeanamnese, Assessmentinstrumente und Pflegediagnosen, basiert auf Kommunikation, konkret durch Verständigung, Annäherung und kontinuierliche Überprüfung der unterschiedlichen Perspektiven von betroffenen und involvierten Menschen, z.B. durch die Pflegefachperson mit alten oder kranken Menschen, einer bestimmten Zielgruppe, wie an Diabetes erkrankte Menschen, Familien im Rahmen der Familienpflege oder Gemeinschaften im Kontext von Public Health. Die Güte des diagnostischen Prozesses liegt im stimmigen Abgleich der Sichtweisen von Pflegefachperson und involvierten Personen und den abstrakten und wissenschaftlich fundierten Instrumenten und dem Begriffssystem der Pflegediagnosen (Schrems 2021).

7 Verstehende Pflegediagnostik

Ein erweitertes Konzept der Pflegediagnostik stellt die Verstehende Pflegediagnostik dar (Schrems 2018). Sie beruht auf dem Erkenntnisprozess des Diagnostizierens, wobei der Fokus auf die Zusammenführung der Erkenntnisse aus verschiedenen Wissensquellen (Fachwissen, Erfahrungen, Erleben) gelegt wird. „Verstehend“ bezeichnet hierbei einen Vermittlungsprozess zwischen subjektivem Erleben und persönlichen Erfahrungen von Individuen und von objektiven oder objektivierten Erkenntnissen von Wissenschaft und Institutionen. Dabei geht es um die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses der Situation zwischen der Pflegeperson und der zu pflegenden Person.

Ausgangspunkt der Verstehenden Pflegediagnostik ist das Vorverständnis, das geprägt ist durch ein an die Lebenswelt gebundenes Erleben, durch Erfahrungen, durch Normen und Werte sowie durch Wissen, das mehr oder weniger wissenschaftlich fundiert ist. Auch die zu Pflegenden bewerten das Erlebte vor dem Hintergrund ihres Vorverständnisses, versehen es mit Bedeutung und machen es mittels Sprache für andere zugänglich. Im verstehenden Zugang interpretieren Pflegende diese individuellen Bedeutungen von zu Pflegenden vor dem Hintergrund pflegefachlich relevanter Aspekte mit dem Ergebnis, dass eine Situation verstanden wird.

Verstehen vollzieht sich hierbei auf zwei Ebenen: Zuerst im einfachen Verstehen von beobachtbaren Merkmalen und Äußerungen, z.B. eine ständig auf und ab gehende Person. Dem folgt das höhere Verstehen im Hinblick auf die Bedeutung oder den dahinter liegenden Sinn des Beobachteten, z.B., dass die Person versucht, durch die Bewegung ihre Nervosität zu reduzieren. Nervosität ist kein direkt beobachtbares Phänomen, sie muss erschlossen werden. Dies wiederum kann kommunikativ oder deutend erfolgen. Die diagnostische Effektivität zeigt sich im Ergebnis, in dem dieser Prozess in einem „Ein-Verständnis“ resultiert, passende Maßnahmen davon abgeleitet werden, mittels denen dann das gesetzte Ziel erreicht werden kann.

8 Kernkompetenzen der Pflegediagnostik

Der Pflegediagnostik liegt der Prozess der Urteilsfindung zugrunde. In der Literatur finden sich dazu auch Begriffe wie klinisches Urteilsvermögen, Problemlösungsfähigkeit, Entscheidungsfindung und kritisches Denken. Dazu sind verschiedene Kompetenzen (Schrems 2018) erforderlich.

8.1 Kritisches Denken als Grundkompetenz

Allgemein bedeutet kritisches Denken die fundierte und aktive Interpretation und Evaluation von Beobachtungen, Kommunikationen, Informationen, Argumentationen und Schlussfolgerungen (Fisher 2011). In der Pflegediagnostik bezieht sich das kritische Denken auf die Urteils- und Entscheidungsfindung. Die Notwendigkeit des kritischen Denkens ergibt sich aus der Komplexität der Pflege, basierend auf dem pflegerischen Anspruch, den Menschen in seiner Ganzheit und Einzigartigkeit zu betrachten und dessen Integrität zu erhalten. Kritisches Denken erfordert eine Reihe kognitiver Fähigkeiten wie Informationssuche, Unterscheiden, analytisches Denken und die Anwendung von Standards.

Wie diese Fähigkeiten eingesetzt werden, wird durch Normen und Kriterien sowie durch Eigenschaften und Haltungen bestimmt. Mit den Normen und Kriterien wird der Blick auf die kognitiv erfassten Aspekte gelenkt (z.B. Klarheit, Richtigkeit, Exaktheit, Relevanz, Tiefgang, Vernetzung, Logik, Fokussierung und Fairness). Die Aspekte beziehen sich dabei auf den Gegenstand der Betrachtung. Eigenschaften und Haltungen hingegen beziehen sich auf die betrachtende Person (z.B. Selbstvertrauen, kontextuelle Sensibilität, Kreativität, Flexibilität, Neugier, intellektuelle Integrität, Intuition, Offenheit, Beharrlichkeit und Reflexionsvermögen).

Im praktischen Prozess des Erkenntnisgewinns beeinflussen die Normen und Kriterien des kritischen Denkens die sogenannten Eigenschaften und Haltungen und verschmelzen mit den kognitiven Fähigkeiten (Paul und Elder 2003; Lunney 2007).

8.2 Fachwissen, Beobachtungsfähigkeit und Reflexionsvermögen

Konkrete Pflegesituationen zeichnen sich durch eine Vielfalt an aufeinander wirkenden Faktoren aus, die sich auf der Bedeutungsebene der Standardisierung entziehen. Menschliches Handeln, Verhalten und Wahrnehmen basieren auf Normen, Werten und Weltanschauungen. Dies spiegelt sich im Konstrukt der Pflegediagnosen wider, die sich als Reaktionen oder Folgen von Gesundheits- bzw. Krankheitsproblemen gleichlaufend mit denselben verändern können. Für die Praxis der Abstimmung unterschiedlicher Wissensquellen ist ein breites Repertoire an Unterscheidungsmöglichkeiten notwendig, d.h. Fachwissen und Beobachtungsfähigkeiten sowie Selbst- und Fremdreflexion, um den eigenen Anteil in der Urteils- und Entscheidungsfindung erkennen zu können.

8.3 Kommunikations- und Deutungsfähigkeit

Die Pflegediagnostik basiert auf einem kommunikativen Austausch. Kommunikation beschränkt sich dabei nicht auf den verbalen Ausdruck und auf die Ebene der unmittelbar Betroffenen. So können in Situationen, in denen Möglichkeiten der verbalen Mitteilung fehlen oder kognitive Einschränkungen vorliegen, andere Mittel, wie das Deuten des Verhaltens oder körperlicher Reaktionen, und weitere Personen zur Deutung der Situation herangezogen werden. Diese Möglichkeiten zu kennen und zu nutzen, stellt eine weitere Voraussetzung bzw. Kompetenz dar.

8.4 Wissenschaftliche Grundkenntnisse

Das notwendige Fachwissen der Pflegeperson beschränkt sich nicht nur auf Erfahrung und Wissen, das in der Ausbildung vermittelt wurde, sondern umfasst die Kenntnis wissenschaftlicher Grundlagen zur Beurteilung der Qualität und das Verstehen neuer Erkenntnisse. Wissen und Erkenntnis sind demnach nicht nur ein Ergebnis des Diagnoseprozesses, sondern bestimmen als Voraussetzungen die Qualität dieses Ergebnisses.

8.5 Fachliche Eigenverantwortung

In der Zusammenführung der unterschiedlichen Wissensquellen sind die Schlussfolgerung und die daraus resultierende Notwendigkeit, Verständnis für Lösungen zu erzeugen, von Bedeutung. Der Situation angemessene Lösungen stellen etwas Neues dar, sie entsprechen in der Regel weder der reinen wissenschaftlichen Erkenntnis noch alleinig dem unmittelbaren Erleben. Lösungen sind daher nicht immer im Lehrbuch zu finden, sie erfordern einen fachlichen Handlungsspielraum und die Übernahme der Verantwortung für getroffene Entscheidungen. In diesem Freiraum gilt es, die unterschiedlichen Perspektiven für jeden Einzelfall auszuloten, ohne dass dabei die Substanz des Erlebens und der wissenschaftlichen Erkenntnisse verloren geht.

8.6 Ethisches Grundverständnis

Mit zunehmendem Druck auf eine qualitätsvolle und nachvollziehbare Pflegeleistung steigen auch die ethischen Anforderungen an den diagnostischen Prozess. Das ethisch relevante Element in der Pflegediagnostik liegt in den Entscheidungen, die für andere getroffen werden (Bobbert 20022). Im Zentrum steht die Frage, wie (diagnostischer Prozess) und was (Pflegediagnose) entschieden wird. Das „Wie“ des diagnostischen Prozesses erfordert neben pflegerischen Fachkenntnissen auch die Kenntnis der berufsethischen Prinzipien, wie z.B.

  • Respekt vor der Selbstbestimmung
  • Gutes tun, d.h., Gesundheit und Wohlbefinden fördern, wiederherstellen und Leiden lindern
  • Nicht-Schaden, d.h. Krankheit verhindern
  • Gerechtigkeit
  • Für-Sorge (Fölsch 2021)

Darüber hinaus gelten die Grundsätze des ICN-Code of Ethics for Nurses als Grundlage für ethisch relevante Momente in der Pflegediagnostik (International Council of Nursing 2014).

9 Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirkung der Pflegediagnostik in der Praxis

Bei der Einführung der Pflegediagnostik in die Pflegepraxis richtete sich der Blick vornehmlich auf mögliche Konsequenzen standardisierter Pflegediagnosen für den – notwendigerweise – dynamischen Prozess der Pflegediagnostik. So wurde befürchtet, dass sich die Pflegediagnostik zu einer von den Bedürfnissen und Erfahrungen von Klient_innen unabhängigen Benennung des Pflegeproblems entwickelt und damit die Komplexität der Entscheidungsfindung nicht realistisch abgebildet werde (Schrems 2021). Ob sich diese Nachteile für die Praxis bestätigt haben, lässt sich nur bedingt mit Forschungsergebnissen zeigen. Für den deutschsprachigen Raum gibt es kaum Studien dazu, daher kann im Folgenden auf Basis weniger internationaler Studien nur ein kleiner Einblick zur Wirkung standardisierter Pflegediagnosen auf die Pflegediagnostik geliefert werden.

In einer Literaturübersicht wurde der Frage nachgegangen, inwiefern die Verwendung von Instrumenten im Pflege- und speziell im diagnostischen Prozess die Qualität der Pflege und die Lebensqualität der zu Pflegenden in Langzeitpflegeeinrichtungen beeinflusst. Dabei scheint die Konzentration im diagnostischen Prozess auf Verstehens- und Verständigungsprozesse mit Bewohner_innen sowohl auf der Seite der Bewohner_innen als auch auf der Seite der Pflegenden wünschenswerte Auswirkungen auf die Lebensqualität zu haben (Herold-Majumdar et al. 2017).

In einer Studie aus dem psychiatrischen Setting wurde hinterfragt, ob und inwiefern Gesundheitsperspektiven auf der Grundlage der Pflegeklassifikation NANDA-I-Diagnosen für Personen mit Bipolarer Störung enthalten sind. Die Erkenntnis war, dass das Klassifikationssystem grundsätzlich der ganzheitlichen Perspektive entspricht, erkennbar in der Berücksichtigung von gesunden Elementen auch während einer Krankheit. Gesundheit zeigte sich in den Stärken, der Zufriedenheit, dem Verhalten und der Funktionalität der Klient_innen. Die Autoren betonen jedoch, dass die Berücksichtigung der gesunden Elemente die Reflexion der Pflegekräfte erfordert, wenn sie standardisierte Pflegepläne verwenden (Rubensson und Salzmann‐Erikson 2019).

Zur Genauigkeit der Pflegediagnostik finden sich in einer Übersichtsarbeit Unzulänglichkeiten insbesondere bei der Angabe von Pflegediagnosen und bei der Beschreibung des Pflegebedarfs sowie in den Fortschritts- und Ergebnisberichten. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die interne Kommunikation, sondern auch auf die betroffenen Klient_innen (Tuinman et al. 2017).

In einer weiteren Literaturübersicht wird das diagnostische Urteilsvermögen von Pflegepersonen untersucht. Dabei wurden folgende Aspekte herausgefunden, die einen Einfluss auf das Urteilsvermögen haben: eine kognitive Verzerrung, kognitive Strategien, die Voreingenommenheit aufzuheben, und die Anwendung der dualen Prozesstheorie (eine Methode zur Verhaltensveränderung, indem implizite Annahmen explizit gemacht werden) zur Reduzierung von Diagnosefehlern und Schäden. Werden diese Aspekte in die Ausbildung und Praxis von Pflegepersonen aufgenommen, können Diagnosefehler und Schäden vermieden und die Urteilsfindung verbessert werden (Lawson 2018).

Aus den Ergebnissen dieser wenigen Studien kann vorsichtig geschlossen werden, dass ein Klassifikationssystem allein noch keine Qualität ausmacht, sondern diese von der Art der Anwendung, d.h. vom diagnostischen Prozess mitbestimmt wird.

10 Quellenangaben

Bartholomeyczik, Sabine, 2009. Standardisierte Assessmentinstrumente: Verwendungsmöglichkeiten und Grenzen. In: Sabine Bartholomeyczik und Margareta Halek, Hrsg. Assessmentinstrumente in der Pflege: Möglichkeiten und Grenzen. 2., aktualisierte Auflage. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft, S. 13–26. ISBN 978-3-89993-224-9 [Rezension bei socialnet]

Bobbert, Monika, 2002. Patientenautonomie und Pflege: Begründung und Anwendung eines moralischen Rechts. Frankfurt am Main: Campus. ISBN 978-3-593-37128-3

Fisher, Alec, 2011. Critical Thinking: An Introduction. 2. Auflage. Cambridge: Cambridge University Press. ISBN 978-0-521-00984-3

Fölsch, Doris, 2021. Ethik in der Pflegepraxis: Anwendung moralischer Prinzipien im Pflegealltag. 4. überarbeitete Auflage. Wien: Facultas Verlags- und Buchhandels AG. ISBN 978-3-7089-2105-1

Herold-Majumdar, Astrid, Michael Schaller, Steffen Fleischer und Johann Behrens, 2017. Effects of nursing care planning tools on nurses’ and residents’ quality of life in long-term care facilities. In: Journal of Nursing Education and Practice. 7(4), S. 32–42. ISSN 1925-4040. doi:10.5430/jnep.v7n4p32

International Council of Nursing, 2014. ICN-Ethikkodex für Pflegende [online]. [Zugriff am: 10.01.2023]. Verfügbar unter: https://docplayer.org/3800705-Icn-ethikkodex-fuer-pflegende.html

Lawson, Thomas N., 2018. Diagnostic reasoning and cognitive biases of nurse practitioners. In: Journal of Nursing Education. 57(4), S. 203–208. ISSN 0148-4834. doi:10.3928/01484834-20180322-03

Lunney, Margareta, 2007. Arbeitsbuch Pflegediagnostik: Pflegerische Entscheidungsfindung, kritisches Denken und diagnostischer Prozess – Fallstudien und -analysen. Bern: Hans Huber. ISBN 978-3-456-83840-3

Paul, Richard und Linda Elder, 2003. Kritisches Denken: Begriffe & Instrumente [online]. Ein Leitfaden im Taschenformat. Californien: Foundation for Critical Thinking, 2019 [Zugriff am: 10.01.2023]. Verfügbar unter: https://www.criticalthinking.org/files/​german_concepts_tools.pdf

Pfeifer, Wolfgang, Hrsg., 2000. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. München: Deutscher Taschenbuchverlag. ISBN 978-3-423-03358-9

Rubensson, Anton und Martin Salzmann‐Erikson, 2019. A document analysis of how the concept of health is incorporated in care plans when using the nursing diagnosis classification system (NANDA‐I) in relation to individuals with bipolar disorder. In: Scandinavian journal of caring sciences. 33(4), S. 986–994. ISSN 1471-6712. doi:10.1111/scs.12697

Schrems, Berta, 2018. Verstehende Pflegediagnostik. 2 Auflage. Wien: Facultas. ISNB ISBN 978-3-7089-1688-0 [Rezension bei socialnet]

Schrems, Berta, 2021. Der Prozess des Diagnostizierens in der Pflege. Aktualisiert und neu aufgelegt. Facultas: Wien. ISBN 978-3-7089-2046-7

Tuinman, Astrid, Mathieu H. G. de Greef, Wim P. Krijnen, Wolter Paans und Petrie F. Roodbol, 2017. Accuracy of documentation in the nursing care plan in long-term institutional care. In: Geriatric nursing. 38(6), S. 578–583. ISSN 0197-4572. doi:10.1016/j.gerinurse.2017.04.007

11 Literaturhinweise

Doenges, Marilynn E., Frances Moorhouse und Alice C. Murr, 2018. Pflegediagnosen und Pflegemaßnahmen. 6. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bern: Hogrefe. ISBN 978-3-456-85831-9

Klas, Karin, Melitta Horak und Anita Mitterdorfer, 2020. Pflegequalität! Der pflegediagnostische Prozess für das Setting Akutpflege praxisnah aufbereitet. Wien: Facultas Verlags-und Buchhandels AG. ISBN 978-3-7089-1995-9

Verfasst von
Dr. Berta M. Schrems
Privatdozentin an der Universität Wien. Freiberuflich tätig in Lehre, Beratung und Forschung.
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Zitiervorschlag
Schrems, Berta M., 2023. Pflegediagnostik [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 20.03.2023 [Zugriff am: 13.10.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29518

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