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Pflegschaft für Minderjährige

Henriette Katzenstein, Leon Schlotfeldt

veröffentlicht am 25.08.2023

Synonym: Ergänzungspflegschaft

Englisch: guardianship for minors

Rechtlicher Disclaimer: Herausgeberin und Autor:innen haften nicht für die Richtigkeit der Angaben. Beiträge zu Rechtsfragen können aufgrund geänderter Rechtslage schnell veralten. Sie ersetzen keine individuelle Beratung.

Die synonym verwendeten Begriffe Ergänzungspflegschaft und Pflegschaft bezeichnen die Übertragung der Sorge für bestimmte Angelegenheiten einer minderjährigen Person auf eine erwachsene Person nach § 1809 BGB. Dies geschieht entweder, weil die Eltern darin gehindert sind, diese Angelegenheiten selbst zu regeln, oder weil bei bestehender Vormundschaft bestimmte Sorgeangelegenheiten auf Dritte übertragen werden (§§ 1776, 1777 BGB).

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 „Pflegschaft“ oder „Ergänzungspflegschaft“?
  3. 3 Pflegschaft bei Entzug eines Teils der elterlichen Sorge
    1. 3.1 Wirkungskreise
    2. 3.2 Vor- und Nachteile im Vergleich zu Vormundschaften
  4. 4 Pflegschaft bei bestehender oder zu bestellender Vormundschaft
  5. 5 Pflegschaft bei Vertretungsausschluss der Eltern im Strafverfahren (§ 52 StPO)
  6. 6 Pflegschaft bei (potenziellem) Interessengegensatz in Rechtsgeschäften (§ 181, 1824 BGB)
  7. 7 Quellenangaben
  8. 8 Literaturhinweise
  9. 9 Informationen im Internet

1 Zusammenfassung

Eine Ergänzungspflegschaft bzw. Pflegschaft (§ 1809 BGB) wird eingerichtet, wenn Eltern bestimmte Angelegenheiten der elterlichen Sorge nicht selbst wahrnehmen können. Diese werden dann vom Familiengericht auf eine geeignete erwachsene Person als (Ergänzungs)pfleger:in übertragen. Gründe, die zu einer Ergänzungspflegschaft führen, bestehen im Wesentlichen, wenn:

  • ein Familiengericht den Eltern Teile der elterlichen Sorge entzogen hat, sodass die betreffenden Angelegenheiten nicht mehr durch Eltern wahrgenommen werden können,
  • eine ehrenamtliche Vormundschaft besteht oder diese zu bestellen ist, jedoch im Interesse des Kindes ein:e zusätzliche:r Pfleger:in bestimmte (schwierige) Angelegenheiten für das Kind regeln soll (§ 1776 BGB),
  • eine Vormundschaft besteht, aber Pflegeeltern Teile der Sorge wahrnehmen können und wollen (§ 1777 BGB) oder
  • potenzielle Interessengegensätze zwischen Eltern oder Vormund:in und Kind bestehen, bei denen die Eltern/Vormund:in gesetzlich von der Vertretung des Kindes ausgeschlossen sind (§§ 181, 1824 BGB).

Ein:e (Ergänzungs)pfleger:in, der oder die in solchen Fällen die Verantwortung für bestimmte Sorgeangelegenheiten übertragen wird, hat „die Pflicht und das Recht, die ihr übertragenen Angelegenheiten im Interesse des Pfleglings zu dessen Wohl zu besorgen und diesen zu vertreten“ (§ 1809 Abs. 1 S. 2 BGB). Mit nur zwei Ausnahmen, die die Benennung eines Vormunds oder einer Vormundin durch die inzwischen verstorbenen Eltern betreffen, finden die Vorschriften des Vormundschaftsrechts auch auf (Ergänzungs)pflegschaften Anwendung (§ 1814 BGB).

2 „Pflegschaft“ oder „Ergänzungspflegschaft“?

Der Begriff „Ergänzungspflegschaft“ signalisiert nach seinem Wortlaut, dass die „Pflegschaft“ ergänzend eintritt, also die elterliche Sorge nicht, wie durch Vormundschaft oder bei Adoption ersetzt wird, sondern diese lediglich ergänzt. Der Umfang einer Ergänzungspflegschaft kann hierbei unterschiedlich umfassend sein. Wenn zentrale Anteile der elterlichen Sorgepflichten, wie das Aufenthaltsbestimmungsrecht oder die Gesundheitssorge, auf eine:n Ergänzungspfleger:in übertragen werden (s. Abschnitt 3), erscheint der Sorgerechtseingriff vergleichsweise groß. Wenn hingegen die Eltern aufgrund potenzieller Interessengegensätze, etwa in Rechtsgeschäften, von der Vertretung ihres Kindes in einer einzelnen Angelegenheit ausgeschlossen sind und für diese eine Ergänzungspflegschaft bestellt wird, verbleiben die zentralen Elemente der elterlichen Sorge bei den Eltern. In beiden Fällen hat sich in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe der Begriff der „Ergänzungspflegschaft“ weitgehend durchgesetzt. Im Recht wird hingegen überwiegend der Begriff „Pflegschaft“ gebraucht, wobei auch hier zum Teil beide Begriffe synonym auftauchen. In der Vorschrift des § 1809 BGB wird beispielsweise in der Überschrift von Ergänzungspflegschaft und im Text von Pflegschaft gesprochen.

3 Pflegschaft bei Entzug eines Teils der elterlichen Sorge

Der häufigste Fall einer Ergänzungspflegschaft ist zurzeit der Entzug von Teilen der elterlichen Sorge in einem Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung (§§ 1666, 1666a BGB). In solchen Fällen ist das Familiengericht zu dem Schluss gekommen, dass die Gefährdung des Kindes einerseits nur durch einen Sorgerechtsentzug abzuwenden ist, es dafür aber andererseits ausreicht, den Eltern nur einen Teil der Sorge zu entziehen. Laut Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darf in das Elternrecht nur so weit eingegriffen werden, wie es notwendig ist, um die Gefährdung eines Kindes abzuwenden (§ 1666a BGB).

Im Jahr 2022 wurden laut Statistischem Bundesamt bei Kindeswohlgefährdung in 7.810 Fällen Teile der elterlichen Sorge auf eine:n (Ergänzungs)pfleger:in übertragen, während in 7.145 Fällen die gesamte Sorge den Eltern entzogen und auf ein:e Vormund:in übertragen wurde. Nicht inbegriffen sind hierbei Fälle von Ergänzungspflegschaften aufgrund von Interessenkollisionen zwischen Eltern und Kind. Aus der Statistik ergibt sich darüber hinaus nicht, welche spezifischen Angelegenheiten jeweils auf Pfleger:innen übertragen wurden. Insgesamt hatten 32.919 Kinder und Jugendliche im Jahr 2021 eine:n Ergänzungspfleger:in (Statistisches Bundesamt 2023b).

3.1 Wirkungskreise

Für die Umschreibung derjenigen Angelegenheiten der elterlichen Sorge, die gerichtlich entzogen und auf einen Elternteil übertragen werden, hat sich der Begriff der „Wirkungskreise“ durchgesetzt (etwa Locher 2023, § 1813 BGB Rn 21). Die übertragenen Sorgeangelegenheiten (bzw. Wirkungskreise) müssen bei Bestellung des Pflegers oder der Pflegerin durch das Familiengericht genau bestimmt und eingegrenzt werden. In der Rechtsprechung haben sich bestimmte Wirkungskreise herausgebildet, die in Verfahren wegen Kindeswohlgefährdung häufig übertragen werden. Zu diesen gehören das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitssorge und das Recht, öffentliche Hilfen zu beantragen bzw. in Anspruch zu nehmen.

Die auf eine:n Pfleger:in übertragene Befugnis der Aufenthaltsbestimmung umfasst das Recht, den grundsätzlichen Aufenthalt des Kindes, bspw. bei Pflegeeltern, zu bestimmen oder auch zu verbieten. Alltägliche Entscheidungen über den Aufenthalt auf einem Spielplatz oder bei einer Freundin sind dagegen Angelegenheiten der Alltagssorge, die von der unmittelbaren Erziehungsperson, bei der das Kind lebt, etwa der Pflegemutter entschieden werden. Nicht von der Aufenthaltsbestimmung umfasst ist die Befugnis zur Umgangsbestimmung (§ 1632 Abs. 2 BGB), die einen eigenen Wirkungskreis bildet. Zu Angelegenheiten der Gesundheitssorge gehören notwendige Einwilligungen in ärztliche und psychotherapeutische Behandlungen, einschließlich Operationen (zur Aufenthaltsbestimmung, Umgangsbestimmung und Gesundheitssorge s. Hoffmann 2018, §§ 8, 9, 10).

Die Befugnis, öffentliche Hilfen zu beantragen und in Anspruch zu nehmen, befugt den oder die Pfleger:in, beim Jugendamt Hilfen zur Erziehung zu beantragen sowie Hilfen anderer Behörden für das Kind oder den Jugendlichen in Anspruch zu nehmen (dazu etwa OVG NRW vom 23.12.2012 - 12 B 1596/11).

Zur Klärung von Kindeswohlgefährdungen im gerichtlichen Verfahren werden daneben auch Ergänzungspflegschaften eingerichtet, die bspw. die Befugnis zur Schweigepflichtentbindung der Ärzte oder Ärztinnen des Kindes betreffen. Eine Alternative dazu ist die gerichtliche Ersetzung der Schweigepflichtentbindung.

3.2 Vor- und Nachteile im Vergleich zu Vormundschaften

Im Vergleich mit Vormundschaften betrachtet, kann die Ergänzungspflegschaft in der Praxis Vorteile, aber auch Probleme mit sich bringen:

  • Ein grundsätzlicher Vorteil der Einrichtung einer Ergänzungspflegschaft besteht darin, dass dadurch eine rechtliche Grundlage für die Kooperation zwischen Eltern und Erziehungspersonen des Kindes, das nicht mehr bei seinen Eltern lebt, geschaffen wird. Denn junge Menschen profitieren in der Regel von einer guten Zusammenarbeit, die ihnen erlaubt, sich sowohl ihrer Herkunfts- als auch ihrer Pflegefamilie zugehörig fühlen zu können (Thrum 2007, zitiert nach Kindler et al. 2011, S. 166 f.). Voraussetzung dafür ist jedoch, dass Pflegeeltern oder Betreuer:innen und Eltern sich gegenseitig respektieren (lernen), dass beide Seiten gemeinsam Grundsätze für eine gute Kooperation erarbeiten und Konflikte mit Blick auf die Interessen des Kindes bearbeiten. Jedoch können sich einer guten Kooperation Hindernisse entgegenstellen, etwa durch (unbearbeitete) Trauer, Hilflosigkeitsgefühle oder Scham der Eltern, denen die Sorge entzogen wurde, aber auch schlicht durch die örtliche Distanz zwischen Eltern und Kind sowie durch Abläufe und Gewohnheiten innerhalb einer Pflegefamilie oder Wohngruppe, die Eltern ggf. als Barrieren erleben, wenn es darum geht, die Beziehung zu ihrem Kind zu gestalten und bspw. Einfluss auf dessen Bildungsgang zu nehmen.
    Anzumerken ist hierzu noch, dass die Freizeitgestaltung, Hobbys, die Anmeldung in einem Sportverein sowie alltägliche Besorgungen (z.B. Einkäufe) Gebiete sind, auf denen eine Beteiligung der und Kooperation mit Eltern gut denkbar ist, auch wenn deren Kinder ihren Lebensmittelpunkt nicht bei ihnen haben. Hier hilft ein nur teilweiser Sorgerechtsentzug dennoch nicht weiter. Denn diese Angelegenheiten können Eltern bei der Einrichtung einer Ergänzungspflegschaft wegen Kindeswohlgefährdung nicht belassen bleiben. Sie gelten als Angelegenheiten des täglichen Lebens, die Pflegeeltern oder Betreuer:innen, bei denen das Kind lebt, ohne Beteiligung des Sorgeberechtigten entscheiden dürfen.
  • Grundsätzlich besteht ein – nicht nur subjektives – Problem darin, dass die Möglichkeiten der Eltern, verbliebene Teile des Sorgerechts auszuüben, deutlich eingeschränkt sind, wenn ihr Kind in einer Einrichtung oder Pflegefamilie lebt. Auch wenn die Eltern formalrechtlich noch über die Befugnis der Religionsbestimmung, zur Regelung der schulischen Angelegenheiten oder der Umgangsbestimmung verfügen, ist es bspw. nur sehr eingeschränkt möglich, diese Befugnisse (kindgerecht) auszuüben, wenn das Kind weit entfernt lebt, die Einrichtung oder Pflegeeltern nur bestimmte Zeiten für Besuchskontakte zur Verfügung stellen wollen und die Eltern zudem wenig Einblick in den Alltag des Kindes haben. Es ist bisher nicht üblich, wäre aber daher wünschenswert, dass im gerichtlichen Verfahren und in der Entscheidung des Gerichts nicht nur der Entzug bestimmter Teile der elterlichen Sorge angeordnet wird, sondern im Vorfeld auch erörtert wird, welche Befugnisse den Eltern insbesondere verbleiben und ob und wie sichergestellt werden kann und soll, dass sie diese auch ausüben können. Andernfalls läuft der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der durch den nur teilweisen Eingriff in die Sorge gewahrt werden soll, möglicherweise ins Leere, da die Eltern nur formal Sorgerechtsanteile behalten, die sie tatsächlich jedoch nicht ausüben können.
  • Umgekehrt kann das Belassen bestimmter Sorgebereiche bei den Eltern jedoch auch erhebliche Probleme für den oder die Pfleger:in sowie die Erziehungspersonen im Alltag beinhalten, wenn eine tragfähige Kooperationsfähigkeit nicht entwickelt werden kann, unabhängig davon, warum dies der Fall ist. Im Fall, dass etwa elterliche Unterschriften bspw. für schulische oder Ausbildungsangelegenheiten erforderlich sind, die Eltern aber nicht erreichbar oder gar nicht auffindbar sind, kann es zu einem hohen Arbeitsaufwand und/oder Verzögerungen hinsichtlich wichtiger Entscheidungsprozesse für das Kind kommen. Im Falle eines hohen Konfliktniveaus zwischen den Eltern, dem Pfleger oder der Pflegerin und der Einrichtung oder Pflegefamilie und beiderseitigem Beharren auf unterschiedlichen Vorstellungen, bspw. zu der Gestaltung von Besuchskontakten, kann es zu Loyalitätskonflikten und großen Belastungen des betroffenen Kindes oder Jugendlichen kommen.

Aus Gründen einer Gefährdung des Kindes, etwa durch Nicht-Reagieren der Eltern oder aufgrund von Konflikten zwischen Eltern, Pfleger:in und Erziehungsperson, kann eine Erweiterung des Sorgerechtsentzugs beim Familiengericht angeregt werden. Ebenso ist es möglich, anzuregen, den Eltern bestimmte Sorgerechtsanteile, die sie (wieder) ausüben können, zurück zu übertragen.

4 Pflegschaft bei bestehender oder zu bestellender Vormundschaft

Im Rahmen der „großen Vormundschaftsrechtsreform“ (Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 4. Mai 2021), die am 1. Januar 2023 in Kraft trat, wurden zwei neue Vorschriften eingeführt, die eine Pflegschaft neben einer bestehenden Vormundschaft ermöglichen.

Neu ist zum einen der „zusätzliche Pfleger“ nach § 1776 BGB. Dieser ermöglicht es, einzelne Arten von Sorgeangelegenheiten bei bestehender ehrenamtlicher Vormundschaft an eine:n zusätzliche:n Pfleger:in zu übertragen, sofern dies dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen dient (§ 1776 Abs. 1 BGB). Das kann der Fall sein, wenn bspw. eine Verwandte die ehrenamtliche Vormundschaft übernehmen kann, sich aber mit Angelegenheiten wie der Vermögenssorge, der Beantragung von Opferentschädigung oder auch der Regelung des Umgangs, überfordert sieht. Die Rückübertragung dieser Sorgeangelegenheiten auf den oder die ehrenamtliche:n Vormund:in kann durch Antrag des Vormunds bzw. der Vormundin oder der Pflegerin bzw. des Pflegers, sowie der oder des Jugendlichen, sofern dieser das 14. Lebensjahr vollendet hat, erfolgen und bedarf der gegenseitigen Zustimmung. Zudem ist die zusätzliche Pflegschaft aufzuheben, wenn sie dem Wohl des Mündels widerspricht (§ 1776 Abs. 2 BGB).

Eine weitere Neuerung der Vormundschaftsrechtsreform ist die Einführung von Pflegepersonen als Ergänzungspfleger:innen neben einer bestehenden Vormundschaft. In diesem Fall werden auf Antrag von Vormund:in, eines Pflegeelternteils oder der bzw. des mindestens 14 Jahre alten Jugendlichen einzelne Sorgeangelegenheiten auf die Pflegeeltern/​einen Pflegeelternteil übertragen (§ 1777 Abs. 1 BGB). Dabei müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

  1. Das Kind bzw. der oder die Jugendliche muss seit Längerem bei den jeweiligen Pflegeeltern/​Pflegeelternteil leben oder bereits vor dem Pflegeverhältnis eine persönliche Bindung zu ihnen haben,
  2. Pflegeperson und Vormund:in müssen dem Antrag zustimmen und
  3. die Übertragung der Sorgeangelegenheiten muss dem Wohl des Kindes oder der bzw. des Jugendlichen dienen.

Der Wille des Kindes bzw. der oder des Jugendlichen ist zu berücksichtigen.

Die Besonderheit an dieser Vorschrift ist, dass Sorgeangelegenheiten mit erheblicher Bedeutung nur von Pflegeperson und Vormund:in gemeinsam wahrgenommen werden können. In der Praxis führt das zu einem Vieraugenprinzip zwischen Vormund:in und Pfleger:in, bei der alle wichtigen Entscheidungen gemeinsam getroffen werden müssen.

Diese Art der Kombination von Vormundschaft und Pflegschaft bringt daher keine Entlastung für Pflegeeltern mit sich, die etwa über Angelegenheiten der Gesundheitssorge gerne selbst entscheiden wollen, sei es, weil sie das Kind besser kennen oder sei es, weil die (häufige) Einholung von Unterschriften der Vormundin oder des Vormunds mit Aufwand verbunden ist. Andererseits kann ein solches Vieraugenprinzip im Fall von Entscheidungen mit hohem Risiko oder Entscheidungen am Lebensende sinnvoll sein und die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen. Ob und wie die Vorschrift in der Praxis Anwendung finden wird, wird die künftige Rechtsprechung erst zeigen.

5 Pflegschaft bei Vertretungsausschluss der Eltern im Strafverfahren (§ 52 StPO)

Innerhalb von Strafverfahren werden Ergänzungspflegschaften eingerichtet, wenn die jeweiligen Sorgeberechtigten von der Vertretung eines Kindes ausgeschlossen sind. Dies ist beispielsweise der Fall bei häuslicher Gewalt oder körperlicher Misshandlung, wenn sich das Strafverfahren gegen einen oder beide Sorgeberechtigte oder auch gegen ein erwachsenes Geschwister oder einen Stiefelternteil richtet. Das Kind ist in solchen Fällen grundsätzlich berechtigt, die Aussage zu verweigern, darf aber aussagen. Nach §§ 52 Abs. 2, 81c Abs. 3 S. 3 StPO sind sowohl der beschuldigte als auch der andere Elternteil von der Entscheidung ausgeschlossen, ob ihr Kind, eine Aussage macht oder nicht.

Grund hierfür sind mögliche Interessenkonflikte zwischen Sorgeberechtigten und Kind, da die Interessen der Eltern nicht unbedingt denen des Kindes entsprechen. Es könnte etwa sein, dass ein junger Mensch möchte, dass sein Bruder wegen sexualisierter Gewalt verurteilt wird, die Eltern ihn jedoch schützen oder die Augen davor verschließen wollen, dass sexualisierte Übergriffe in der Familie vorgekommen sein könnten.

Es ist dann Aufgabe der Ergänzungspflegerin oder des Ergänzungspflegers zu entscheiden, ob das jeweilige Kind im Strafverfahren aussagt. Weitere Aufgaben im Rahmen einer Pflegschaft können Entscheidungen über die Mitwirkung an körperlichen und psychologischen Begutachtungen sein. Auch die Entscheidung, ob Ärzt:innen und Therapeut:innen von ihrer Schweigepflicht entbunden werden sollen, kann übertragen werden. Je nach Fall und übertragenen Aufgaben kann auch die Beantragung einer anwaltlichen Vertretung für das Kind zu den Aufgaben im Rahmen der Ergänzungspflegschaft gehören. Grundsätzlich soll bei all diesen Entscheidungen der oder die Pfleger:in das Interesse des Kindes bzw. jungen Menschen im Vordergrund stehen, was auch bedeutet, dass Wille und Interesse der oder des Minderjährigen so weit wie möglich einbezogen werden sollten (Ladenburger und Lörsch 2022, S. 3 f.).

6 Pflegschaft bei (potenziellem) Interessengegensatz in Rechtsgeschäften (§ 181, 1824 BGB)

Eine letzte Fallgruppe von Ergänzungspflegschaften bilden diejenigen, die wegen Interessenkollisionen zwischen Eltern und Kind bzw. Vormund:in und Kind bei Rechtsgeschäften miteinander eingerichtet werden (§§ 181, 1824, 1629 Abs. 2 BGB iVm § 1824 BGB).

Potenzielle Interessengegensätze zwischen Eltern und Kind, die zu einem Vertretungsausschluss führen, liegen grundsätzlich bei sogenannten Insichgeschäften nach § 181 BGB vor. Damit wird ausgeschlossen, dass eine Person gleichzeitig beide Parteien eines Rechtsgeschäfts vertritt. Das wäre etwa der Fall, wenn ein Elternteil seinem eigenen Kind Dinge abkauft, die es von anderen Verwandten geerbt hat, oder erben würde. Nach § 1824 BGB sind Betreuer:innen, Vormund:innen und Elternteile auch dann von der Vertretung des Kindes ausgeschlossen, wenn es um ein Geschäft einer Person in gerader Verwandtschaftslinie oder zwischen der Ehegattin bzw. dem Ehegatten und dem Kind geht (§ 1824 Abs. 1 Nr. 1 BGB). Dasselbe gilt für ein Rechtsgeschäft, das eine Forderung der oder des Betreuten gegen ihre oder seine Betreuer:in oder des Kindes gegen seinen Elternteil/​Vormund:in zum Gegenstand hat (§ 1824 Abs. 1 Nr. 2 BGB). Ebenso ist die Vertretung in entsprechenden Rechtsstreitigkeiten zwischen Kind oder gesetzlich betreuter Person auf der einen Seite und Elternteil, Vormund:in oder gesetzlichem:r Betreuer:in auf der anderen Seite nicht zulässig.

Auch in Abstammungssachen wie im Vaterschaftsanfechtungsverfahren kann ein Interessengegensatz zwischen Eltern und Kind vorliegen, der die Vertretung des Kindes ausschließt: „Im Verfahren der Anfechtung der Vaterschaft ist der anfechtende (rechtliche) Vater von der gesetzlichen Vertretung des minderjährigen Kindes kraft Gesetzes ausgeschlossen“ (BGH vom 21.3.2012 – XII ZB 510/10, Leitsatz). Dasselbe gilt für die mit dem Vater verheiratete oder gemeinsam sorgeberechtigte Mutter.

In allen diesen Fällen ist eine Ergänzungspflegschaft einzurichten, die das Kind oder die betreute Person in dem Rechtsgeschäft bzw. der Rechtsstreitigkeit vertritt.

Diese Gruppe von Ergänzungspflegschaften ist im Vergleich mit den wegen Kindeswohlgefährdung bestellten oder zusätzlich zur Vormundschaft eingerichteten Pflegschaften nicht nur auf einen weit engeren Kreis von Angelegenheiten, sondern auch zeitlich auf die Abwicklung des Rechtsgeschäfts bzw. die Dauer des Rechtsstreits begrenzt.

7 Quellenangaben

Hoffmann, Birgit, 2018. Personensorge: rechtliche Erläuterungen für Beratung, Gestaltung und Vertretung. 3. Auflage. Baden-Baden: Nomos. ISBN 978-3-8487-4602-6

Ladenburger, Petra und Martina Lörsch, 2022. Ergänzungspflegschaft im Strafverfahren [online]. Heidelberg: Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft e.V. [Zugriff am: 23.07.2023]. Verfügbar unter: https://vormundschaft.net/assets/​uploads/2022/04/FAQs_Ergaenzungspflegschaften_im_Strafverfahren_final.pdf

Locher, Matthias, 2023. § 1813 BGB Rn. 21. In: Wolfram Viefhues, Hrsg. juris PraxisKommentar BGB Band 4 Familienrecht. 10. Auflage. Saarbrücken: Juris GmbH

Statistisches Bundesamt, Hrsg. 2023a. Adoptionen und Sorgerecht – Maßnahmen des Familiengerichts für Kinder und Jugendliche [online]. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt [Zugriff am: 22.08.2023]. Verfügbar unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/​Gesellschaft-Umwelt/​Soziales/​Adoptionen/​Tabellen/​entzug-elterlichen-sorge.html?nn=446512

Statistisches Bundesamt, Hrsg. 2023b. Statistik der Pflegeerlaubnis, Vormundschaften etc. [online]. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt [Zugriff am: 22.08.2023]. Verfügbar unter: https://www-genesis.destatis.de/genesis/​online?operation=statistic&levelindex=0&levelid=1692734555045&code=22522

8 Literaturhinweise

Beckmann, Janna, 2021. Vormundschaft und Ergänzungspflegschaft: Was wird aus den Elternrechten. In: Stefan Wedermann, Henriette Katzenstein, Jacqueline Kauermann-Walter, Katharina Lohse und Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft e.V., Hrsg. Vormundschaft: sozialpädagogischer Auftrag, rechtliche Rahmung, Ausgestaltung in der Praxis. Frankfurt am Main: Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen. ISBN 978-3-947704-25-5 [Rezension bei socialnet]

Bode, Eva, 2021. Das neue Vormundschaftsrecht: Einführung, Erläuterungen, Materialien, Schnellüberblick. Köln: Reguvis Fachmedien GmbH. ISBN 978-3-8462-1230-1
Diese Einführung in das neue Vormundschaftsrecht thematisiert u.a. den zusätzlichen Pfleger nach § 1776 BGB und die Übertragung von Sorgeangelegenheiten auf die Pflegeperson als Pfleger nach § 1777 BGB.

Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, 2023. Arbeits- und Orientierungshilfe für den Bereich der Amtsvormundschaft und -pflegschaft [online]. Köln: Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter [Zugriff am: 17.08.2023]. Verfügbar unter: www.bagljae.de/assets/​downloads/​161-orientierungshilfe-amtsvormundschaft-pflegschaft.pdf
In der Arbeits- und Orientierungshilfe werden neben der Vormundschaft auch Ergänzungspflegschaften vorgestellt, insbesondere die Umgangsbestimmungspflegschaft und die hier nicht besprochene Pflegschaft für ein ungeborenes Kind.

Bundesministerium der Justiz, Hrsg. 2023. Das Vormundschaftsrecht [online]. Berlin: Bundesministerium der Justiz [Zugriff am: 24.07.2023]. Verfügbar unter: https://www.bmj.de/SharedDocs/​Publikationen/DE/Broschueren/​Vormundschaftsrecht.pdf?__blob=publicationFile&v=7.
In dieser Broschüre wird neben der Vormundschaft auch die Ergänzungspflegschaft für junge Menschen und Eltern verständlich dargestellt.

Heinz, Björn, Hrsg., 2022. Geteilte Sorgeverantwortung in der Vormundschaft und die Stärkung des Ehrenamts. Eine qualitative Studie am Beispiel der rechtlichen Betreuung im Tandem [online]. Siegen: Universitätsbibliothek der Universität Siegen [Zugriff am: 22.08.2023]. Verfügbar unter: http://dx.doi.org/10.25819/ubsi/10252 In dieser Arbeit werden die Chancen einer geteilten Sorgeverantwortung zwischen Vormund:in und Pfleger:in ausgehend von möglichen Tandemmodellen im Betreuungsrecht ausgelotet.

Hoffmann, Birgit, 2021. Der zusätzliche Pfleger nach § 1776 BGB in der Fassung des Gesetzes zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts. In: FamRZ – Zeitschrift für das gesamte Familienrecht. 68(22), S. 1773. ISSN 0044-2410

Mitschke, Caroline, Katharina Lohse und Susanne Achterfeld, 2020. Umgangsbestimmungen durch Vormund*innen und Zusammenwirken mit den sozialen Diensten und Betroffenen [online]. Heidelberg: Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft e.V. [Zugriff am: 22.08.2023]. Verfügbar unter: https://vormundschaft.net/assets/​uploads/2020/05/Expertise-Umgangsbestimmung-Bundesforum-1.pdf
Die Expertise untersucht, unter welchen rechtlichen und tatsächlichen Prämissen die Umgangsbestimmung als Teil der elterlichen Sorge ausgeübt wird, wenn das Kind seinen Lebensmittelpunkt nicht bei den Eltern hat.

Schneider, Angie, 2022. Inhalt und Grenzen der Ergänzungspflegschaft. In: FamRZ – Zeitschrift für das gesamte Familienrecht. 69(23), S. 1821. ISSN 0044-2410

Socha, Ingo, 2023. Vormundschaft und Pflegschaft in der Rechtspraxis: das neue Recht ab 1.1.2023. Bielefeld: Verlag Ernst und Werner Gieseking. ISBN 978-3-7694-1275-8

9 Informationen im Internet

Verfasst von
Henriette Katzenstein
Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft e.V.
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Leon Schlotfeldt
Bundesforum Vormundschaft und Pflegschaft e.V.
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