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Posttraumatische Belastungsstörung

Alexander Korittko

veröffentlicht am 21.06.2021

Abkürzung: PTBS

Synonym: Posttraumatisches Stresssyndrom

Etymologie: lat. post nach, gr. trauma Verletzung

Englisch: posttraumatic stress disorder (PTSD)

ICD-10: F43.1

Medizinischer Disclaimer: Herausgeberin und Autor:innen haften nicht für die Richtigkeit der Angaben. Beiträge zu Gesundheitsthemen ersetzen keine ärztliche Beratung und richten sich nur an Fachleute.

Unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) versteht man spezifische Symptome, die sich sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern nach physisch oder psychisch extrem bedrohlichen Ereignissen oder einer Serie von bedrohlichen Ereignissen herausbilden können. Diese bedrohlichen Ereignisse beinhalten psychische Traumata, auch „Verletzungen der Seele“ genannt.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Symptome einer PTBS
  3. 3 Symptome einer komplexen PTBS
  4. 4 Risiko- und Schutzfaktoren
  5. 5 Neurobiologische Aspekte
  6. 6 Verlaufsformen
  7. 7 Therapie und Beratung
  8. 8 Quellenangaben
  9. 9 Literaturhinweise
  10. 10 Informationen im Internet

1 Zusammenfassung

Eine Posttraumatische Belastungsstörung kann bei Vorliegen spezifischer Symptome diagnostiziert werden, ebenso eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung. Ob eine PTBS nach einem traumatischen Ereignis entwickelt wird, hängt davon ab, wie hoch die Risikofaktoren des Ereignisses sind, wie schnell psychosoziale Unterstützung und wie schnell persönliche Selbstwirksamkeit erfahren wird. Bei jeder Traumatisierung und bei der Erinnerung an ein Trauma spielen neurobiologische Aspekte eine Rolle. Bei der Entstehung einer PTBS sind verschiedene Verlaufsformen bekannt. Beratung und Therapie beinhalten zum größten Teil Stabilisierung und Affektsteuerung zum besseren Gelingen des Alltags.

2 Symptome einer PTBS

In Abgrenzung zu einer akuten Belastungsstörung, die meist nach wenigen Wochen wieder abklingt, handelt es sich bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung um chronische Folgestörungen nach einem psychischen Trauma. Klinisch kann eine PTBS diagnostiziert werden, wenn die folgenden Symptome berichtet werden:

  1. Ein ungewünschtes Wiedererleben des traumatischen Ereignisses als lebendige Erinnerungen, auch in Form eines Filmes (Flashback) oder als Alptraum, typischerweise begleitet von überwältigender Angst und von Horror, d.h. ebensolchen Gefühlen, wie sie während des traumatischen Ereignisses erlebt wurden.
  2. Ein Vermeiden von Gedanken und Erinnerungen an das Ereignis (oder die Ereignisse), oder die Vermeidung von Aktivitäten, Situationen oder Personen, die daran erinnern könnten.
  3. Ein anhaltendes Gefühl von Bedrohung, einhergehend mit erhöhter Wachsamkeit oder besonderer Schreckhaftigkeit, wie z.B. bei unerwarteten Anblicken oder Geräuschen.

Ein traumatisches Ereignis muss zur Diagnosestellung zwingend vorangegangen sein. Die Symptome müssen mehr als zwei Monate anhalten und bedeutsame Beeinträchtigungen im persönlichen Erleben, in der Familie, in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Kontexten zur Folge haben (ICD 11; WHO 2021).

3 Symptome einer komplexen PTBS

Nach sequentiellen Traumata, also nach Traumata, die sich über einen langen Zeitraum wiederholen und aus denen es unmöglich ist, zu entkommen (z.B. Folter, Sklaverei, Krieg und Bürgerkrieg, häusliche Gewalt, körperliche oder sexuelle Gewalt in der Kindheit) kann sich eine komplexe Posttraumatische Stressbelastung entwickeln. Neben allen Symptomen einer PTBS (siehe oben) zählen hierbei zusätzlich folgende Auffälligkeiten:

  • Ernsthafte und dauerhafte Probleme der Affektregulation, z.B. durch selbstverletzendes oder fremdgefährdendesVerhalten.
  • Anhaltende negative Annahmen über sich selbst als schmutzig, ungenügend und wertlos, verbunden mit anhaltenden Schuld-, Scham- und Versagens-Gefühlen bezüglich des traumatischen Ereignisses.
  • Anhaltende Probleme, Beziehungen aufrechtzuerhalten und sich anderen Menschen nahezufühlen.

Die Symptome müssen mehr als zwei Monate anhalten und bedeutsame Beeinträchtigungen im persönlichen Erleben, in der Familie, in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Kontexten zur Folge haben (ICD 11; WHO 2021).

4 Risiko- und Schutzfaktoren

Nicht alle Menschen entwickeln nach bedrohlichen Erlebnissen eine Posttraumatische Belastungsstörung. Das höchste Risiko einer PTBS besteht nach Folter (ca. 80 %), bei politischen Flüchtlingen (ca. 50–70 %), nach Vergewaltigungen (ca. 55 %) und bei Soldaten in Kriegen (ca. 40 %). Ein verhältnismäßig geringes Risiko besteht nach Verkehrsunfällen (ca. 15 %), nach schweren Organerkrankungen (ca. 15 %), bei Zeugen von schweren Unfällen (ca. 7 %) und nach Naturkatastrophen (ca. 4 %). Als wesentlicher Faktor einer raschen Genesung nach einem Monotrauma gilt soziale Unterstützung. Erwachsene, die unmittelbar nach einem bedrohlichen Erlebnis durch Familienmitglieder, Lebenspartner*innen oder Freund*innen wohlwollend unterstützt werden, haben eine vielversprechende Chance ohne chronische Symptome weiter zu leben. Je schneller Betroffene wieder Selbstwirksamkeit erlangen, ihrem Alltag Struktur geben können und durch körperliche Aktivitäten aus der Schockstarre des Körpers herausfinden, erholen sie sich nach einmaligen Traumatisierungen von den Nachwirkungen bedrohlicher Erlebnisse. In den ersten Tagen und Wochen danach, sind Symptome des Wiedererlebens, Vermeidungsverhalten und körperliche Übererregung normale Reaktionen auf ein unnormales Ereignis (Kessler et al. 1995; Flatten et al. 2004).

Bei Kindern unter 12 Jahren birgt das Miterleben von häuslicher Gewalt, das Erleiden von sexueller und/oder körperlicher Gewalt, sowie schwere Vernachlässigung das höchste Risiko für eine PTBS, oft begleitet von Entwicklungs- und Bindungsstörungen. Als Erwachsene zeigen sie häufig die Symptome eine komplexen PTBS (Hamblen und Barnett 2009).

5 Neurobiologische Aspekte

Erleidet ein Mensch eine traumatische Bedrohung, sind die filigranen feinvernetzten Areale des Großhirns überfordert. Die vorgeburtlich entwickelten Bereiche, die schon gut herangebildet sind, wenn wir auf die Welt kommen, das Stammhirn und das Limbische System, sorgen dann mit Reflexen und Instinkten für das Überleben der Betroffenen. Ein kleiner Teil des Limbischen Systems, die Amygdala, speichert minimale Fragmente: einen Anblick, ein Geräusch, ein Geruch, eine Körperempfindung. Wie ein Frühwarnsystem schlägt der „heiße“ Speicher der Amygdala erneut Alarm, wenn ein ähnlicher Anblick, ein ähnliches Geräusch, ein ähnlicher Geruch, ein ähnliches Körpergefühl wahrgenommen wird, oft in völlig harmlosen Situationen. Dieser Vorgang wird mit „angetriggert“ bezeichnet. Der Trigger ist der halbrunde Abzugshebel bei Gewehren oder Pistolen. Schnell wie ein Schuss schiebt sich die alte bedrohliche Situation emotional in die Gegenwart. Es fühlt sich an, als passiere es erneut und das Notfallprogramm des Körpers wird wieder aktiviert (Hüther et al. 2010).

Erleben Kinder wiederholt traumatische Situationen, wirken die Alarm-Reaktionen des Stammhirns und des limbischen Systems unmittelbar auf die Entwicklung des Gehirns ein. Sie entwickeln sich dann zu jungen Menschen, deren Reflexe und Instinkte sie zu tapferen kleinen Überlebenskünstlern geformt haben. Durch ihre permanente Wachsamkeit und ihre gut ausgebildete Flucht- und Kampfbereitschaft sind sie jedoch für den ganz normalen Alltag nicht gut ausgestattet. Sie benötigen dauerhaft warmherzige Bezugspersonen, die es ihnen ermöglichen, ihre emotionale Katastrophen-Ausrüstung abzulegen (Hüther 2005).

6 Verlaufsformen

Bei Erwachsenen und Jugendlichen sind verschiedene Verlaufsformen bekannt. Nach Naturkatastrophen und anderen Monotraumata entwickeln ca. 70 % der Betroffenen keine chronischen Symptome. Nach Flucht und anderen sequenziellen außerfamiliären Traumata entwickeln 30 % sofort eine PTBS, 20 % erholen sich nach einigen Monaten davon. Weitere 50 % entwickeln subsyndromale Störungen, z.B. ausschließlich Vermeidungsverhalten oder ausschließlich sich aufdrängende Erinnerungen, von denen sie sich nach einiger Zeit jedoch wieder erholen. Problematisch werden weitere 20 % erachtet, die zunächst nur äußerst geringe oder keine Symptome entwickeln. Es scheint, als hätte sie ihre Traumata gut „verkraftet“, doch sie entwickeln erst Monate oder Jahre später das Vollbild einer PTBS (Osofski et al. 2015)

Einige Autor*innen berichten von posttraumatischem Wachstum. Diese positiven Veränderungen durch die Auseinandersetzung mit Lebenskrisen befinden sich in Co-Existenz mit posttraumatischem Stress. Sie betreffen oft ein verändertes Gefühl in Beziehungen oder eine veränderte Lebensphilosophie. Vorher Normales erfährt intensivere Wertschätzung, neue Prioritäten werden gesetzt. Posttraumatisches Wachstum passiert nicht universell (Zöllner et al. 2006)

7 Therapie und Beratung

Wer unter psychischen Beschwerden und/oder unter belastenden Trauma-Erinnerungen leidet, erhebliche Einschränkungen in der Bewältigung des Alltags und/oder Schwierigkeiten in der Gestaltung von Beziehungen erlebt, sollte professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen. Dann sind die Selbsthilfekräfte erschöpft. Es besteht eine Vielzahl von beraterischen und therapeutischen traumabezogenen Angeboten, die man beispielsweise über die örtlichen Psychotherapeutenkammern erfragen kann. Häufig wird in Erstgesprächen nach diagnostischen Gesprächen Psychoedukation angeboten. Im zweiten Schritt ist typischerweise Stabilisierung und Affektsteuerung der Fokus von Interventionen. Erst im dritten Schritt wird Traumaexposition angeboten, d.h. die begleitete kontrollierte Begegnung mit der ursprünglichen Bedrohung, meist in Gedanken und Gesprächen und in Erinnerungsbildern, äußerst selten in realen Konfrontationen. Nach sequentiellen Traumatisierungen und nach Entwicklungstraumatisierungen nimmt erfahrungsgemäß die Phase der Stabilisierung den längsten Zeitraum ein, in der Traumatherapie ebenso wie in der Traumaberatung und der Traumapädagogik. Ziel wäre dabei, Phasen von Übererregung und Phasen von Untererregung (auch Dissoziation genannt) zu reduzieren und die bewusste Wahrnehmung in der Gegenwart so zu trainieren, dass Traumafragmente zukünftig geringere Kraft entwickeln und das Notfallprogramm seltener aktiviert wird (Huber 2020). Sind Kinder durch außerfamiliäre Traumata betroffen, sind Angebote zu bevorzugen, die die erwachsenen Bezugspersonen einschließen. Bei akuten innerfamiliären Traumata (sexuelle Gewalt, körperliche Gewalt, emotionale Gewalt, schwere Vernachlässigung) ist äußere Sicherheit das primäre Ziel aller Interventionen (Korittko 2017, S. 116 ff.).

8 Quellenangaben

Flatten Guido, Ursula Gast, Arne Hofmann, Peter Liebermann, Luise Reddemann, Torsten Siol, Wolfgang Wöller und Ernst Petzold, 2004. Posttraumatische Belastungsstörung – Leitlinie und Quellentext. Stuttgart: Schattauer. ISBN 978-3-7945-2009-1

Hamblen, Jessica und Erin Barnett, 2009. PTSD in Children and Adolescents [online]. Washington DC: U.S. Department of Veterans Affairs [Zugriff am: 25.02.2021]. Verfügbar unter: https://www.ptsd.va.gov/professional/​treat/​specific/​ptsd_child_teens.asp

Huber, Michaela, 2020. Trauma und die Folgen: Trauma und Traumabehandlung I. Paderborn: Junfermann TB. ISBN 978-3-7495-0139-7 [Rezension bei socialnet]

Hüther, Gerald, 2005. Biologie der Angst: Wie aus Stress Gefühle werden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN 978-3-525-01439-4

Hüther, Gerald, Alexander Korittko, Gerhard Wolfrum und Lutz Besser, 2010: Neurobiologische Grundlagen der Herausbildung psychotraumabedingter Symptomatiken. In: Trauma & Gewalt. 4(1), S. 18–31. ISSN 1863-7167

Kessler Ronald C., Amanda Sonnega, Evelyn Bromet, Michael Hughes und Christopher B. Nelson, 1995. PTSD in the National Comorbidity Survey. In: Arch Gen Psychiatry [online]. 52(12), S. 1048–1060 [Zugriff am: 25.02.2021]. Verfügbar unter: https://doi.org/10.1001/archpsyc.1995.03950240066012

Korittko, Alexander, 2017. Posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen. 2. Auflage. Heidelberg: Carl Auer. ISBN 978-3-8497-0114-7

Osofsky, Joy D., Howard J. Osofsky, Carl F. Weems, Lucy S. King und Tonya C. Hansel, 2015. Trajectories of post-traumatic stress disorder among youth exposed to both natural and technological disasters. In: Journal of Child Psychology and Psychiatry [online]. 56(12),S. 1347–1355 [Zugriff am: 27.08.2015]. Verfügbar unter: http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/jcpp.12420/full

World Health Organization (WHO), 2021. ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics (Version: 05/2021) [online]. Genf: World Health Organization [Zugriff am: 20.06.2021]. Verfügbar unter: https://icd.who.int/en

Zöllner, Tanja, Lawrence G. Calhoun und Richard G. Tedeschi, 2006. Trauma und persönliches Wachstum. In: Andreas Maercker und Rita Rosner, Hrsg. Psychotherapie der Posttraumatischen Belastungsstörungen. Stuttgart: Thieme Verlag, S. 36–45. ISBN 978-3-13-141111-2

9 Literaturhinweise

Hantke, Lydia und Hans J. Görges, 2012. Handbuch Traumakompetenz: Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik. Paderborn: Junfermann. ISBN 978-3-87387-868-6 [Rezension bei socialnet]

Herman, Judith, 2003. Die Narben der Gewalt. Paderborn: Junfermann. ISBN 978-3-87387-525-8 [Rezension bei socialnet]. Orig.: Trauma and Recovery. 1992, Basic Books, New York

Kolk, Bessel van der, 2015. Verkörperter Schrecken: Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann. Lichtenau: Probst. ISBN 978-3-944476-13-1 [Rezension bei socialnet]. Orig.: 2014. The Body Keeps the Score: Brain, Mind and Body in the Healing of Trauma. New York: Penguin Random House Company

Korittko, Alexander, 2021. Das Elternbuch: Posttraumatische Belastung bei Kindern und Jugendlichen: Erkennen, verstehen, lösen. Heidelberg: Carl Auer. ISBN 978-3-8497-0382-0 [Rezension bei socialnet]

Sack, Martin, Ulrich Sachsse und Julia Schellong, 2013. Komplexe Traumafolgestörungen: Diagnostik und Behandlung von Folgen schwerer Gewalt und Vernachlässigung. Stuttgart: Schattauer. ISBN 978-3-7945-2878-3

Seidler, Günter H., Harald J. Freyberger und Andreas Maercker, Hrsg. 2015. Handbuch der Psychotraumatologie. Stuttgart: Klett-Cotta. ISBN 978-3-608-94825-7 [Rezension bei socialnet]

10 Informationen im Internet

Verfasst von
Alexander Korittko
Dipl. Sozialarbeiter, Systemischer Lehrtherapeut, Autor von zahlreichen Zeitschriftenartikeln zum Trauma-Thema und vier Fachbüchern.
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