Professionalisierung
Prof. (i.R.) Dr. Gudrun Ehlert
veröffentlicht am 15.10.2019
Professionalisierung verweist auf einen zeitlichen Prozess, der auf zwei verschiedenen Ebenen stattfindet: auf der individuellen Ebene bezieht sich Professionalisierung auf den berufsbiografischen Prozess der Qualifizierung und die Erlangung von Professionalität durch eine Fachkraft, auf der kollektiven Ebene ist mit Professionalisierung die fachliche Entwicklung und Profilierung sowie die (potentielle) Akademisierung von ganzen Berufsgruppen und Arbeits- und Handlungsfeldern gemeint, die mit der Etablierung von Professionen verbunden sein kann. Mit Professionalisierung wird zudem auch die erwerbsförmige Formalisierung einer Tätigkeit bezeichnet, die zuvor privat oder ehrenamtlich ausgeübt wurde.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Professionalisierung als Begriff der Professionsforschung
- 3 Professionalisierung und Geschlecht
- 4 Professionalisierung Sozialer Arbeit Anfang des 20. Jahrhunderts
- 5 Aktuelle Professionalisierungsdiskussionen in der Sozialen Arbeit
- 6 Ausblick
- 7 Quellenangaben
- 8 Literaturhinweise
1 Zusammenfassung
Die Professionalisierung Sozialer Arbeit ist eines ihrer Kernanliegen. Fragen der Professionalisierung reichen bis in die Anfänge der Berufsgeschichte zurück. Im Fokus der Debatten um Professionalisierung stehen zum einen Prozesse der Bildung und Entwicklung von Professionalität in einer (berufs-)biographischen Perspektive. Zum anderen kann die kollektive Professionalisierung als Akademisierung und strategische Platzierung von Berufen und deren gesellschaftliche Anerkennung in der beruflichen Hierarchie rekonstruiert werden. Professionalisierungsprozesse und die Etablierung von Professionen sind Teil gesellschaftlicher Machtstrukturen, Verteilungskämpfe und Aushandlungsprozesse. Das bedeutet auch, dass Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Professionalisierung nicht geschlechtsneutral sind.
2 Professionalisierung als Begriff der Professionsforschung
In der gegenwärtigen Professionsforschung wird zwischen den Bedeutungen von Profession, Professionalisierung und Professionalität differenziert (Mieg 2016, Nittel und Seltrecht 2008). Dabei verweist der soziologische Begriff der Profession auf die strukturelle Ebene der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Mit Bezug auf Talcott Parsons (1968) wird die Eigenständigkeit des Professionsprinzips im Verhältnis zur Ökonomie und Bürokratie einer funktional differenzierten Gesellschaft betont. Professionen gelten in dem Verständnis eines merkmalbezogenen Modells als gehobene Berufe mit einer spezifischen akademischen Ausbildung. Sie orientieren sich an zentralen gesellschaftlichen Grundwerten wie beispielsweise Gerechtigkeit und Gesundheit und stützen sich auf eine eigenständige wissenschaftliche Basis und Fachterminologie. Professionen verfügen über einen hohen gesellschaftlichen Status und über Autonomie bei der Berufsausübung. Als weitere Merkmale einer Profession gelten die exklusive Berechtigung der Berufsausübung, das heißt, eine rechtlich formalisierte Lizenzierung sowie berufsständische Normen (code of ethics) und kollegiale Selbstkontrolle. Als klassische Professionen werden Theologie, Rechtswissenschaften und Medizin gesehen.
Unter Professionalität wird eine gekonnte Fachlichkeit als Ausdruck qualitativ hochwertiger Arbeit verstanden. Dabei hat Professionalität sowohl eine normative als auch eine handlungstheoretische Dimension mit einer auf konkrete Situationen bezogenen Perspektive.
Professionalisierung bezieht sich dabei auf die individuelle Fähigkeit der einzelnen Fachkraft und auf den Prozess der Qualifizierung, aber auch auf kollektive Prozesse der fachlichen Entwicklung von Berufsfeldern.
In den Anfängen der soziologischen Professionsforschung bezieht sich Professionalisierung allerdings ausschließlich auf kollektive Phänomene (Nittel und Seltrecht 2008). Eine erste systematische theoretische Auseinandersetzung mit Professionen und Fragen der Professionalisierung findet in den 1930erJahren insbesondere im US-amerikanischen Raum statt. Aus dieser Tradition kommend findet der Begriff der „professionalization“ als Professionalisierung auch Eingang in deutschsprachige Debatten. So schreibt der Rechtssoziologie Hans Albrecht Hesse 1972 in seiner Publikation „Berufe im Wandel“ „professionalization“ sei im lexikalischen Sinne als ein Vorgang zu verstehen, „durch den eine besondere Art von Beruf (calling) geschaffen wird“ (Hesse 1972, 33 f. zitiert nach Nittel und Seltrecht 2008, S. 130). Darüber hinaus beschreibt Hesse (1972) mehrere soziologische Lesarten von Professionalisierung, die Dieter Nittel und Astrid Seltrecht (2008) in vier verschiedenen Bedeutungsdimensionen modifizieren und bündeln.
- In der ersten Variante soziologischer Bestimmungen von Professionalisierung geht es wie in der lexikalischen Beschreibung von Hesse um die Umwandlung eines Berufs (vocation, occupation) zu in einem ‚besonderen‘ Beruf, einer Profession. Hier bleibt offen, worauf der Prozess der Aufwertung konkret zurückzuführen ist – beispielsweise auf eine steigende Entlohnung, auf einen Zuwachs an Macht und Anerkennung oder die Etablierung einer theoretisch und empirisch fundierten Wissensbasis.
- Aus einer makrosoziologischen Perspektive umfasst Professionalisierung in einer zweiten Variante mit einem Blick auf die gesamte Gesellschaft die nachhaltige Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, beispielsweise durch einen überdurchschnittlichen Anstieg von Dienstleistungsberufen, die sich auf wissenschaftliches Wissen stützen (Nittel und Seltrecht 2008, S. 130).
- Eine dritte Auffassung betont den formalen Umwandlungsprozess einer bislang nur theoretischen in eine angewandte Wissenschaft. Dabei stehen Fragen der Selbstorganisation, der Selbstverständigung in einer Berufskultur sowie eine praxisorientierte Akademisierung im Mittelpunkt.
- Die vierte Variante einer Begriffsbestimmung von Professionalisierung ist auch in den gegenwärtigen Debatten zur Professionalisierung Sozialer Arbeit von Bedeutung. In dieser Lesart von Professionalisierung werden Kriterien oder Attribute einer Berufskultur festgelegt, um professionelles Handeln spezifizieren zu können. Dabei wird häufig ein kriteriengestütztes theoretisches Modell der Bestimmung einer Profession angestrebt, verbunden mit der Frage, über welche Attribute eine Berufskultur verfügen sollte, um professionelles Handeln zu ermöglichen und zu gewährleisten. Dazu zählen Kriterien wie die Fundierung des Professionswissens durch eine wissenschaftliche Leitdisziplin, die Absolvierung einer akademischen Ausbildung, die Kodifizierung einer Berufsethik und die professionelle Autonomie. Ist eine Annäherung an die Attribute professionellen Handelns zu beobachten, so gilt das als die Erfüllung einer sich vollziehenden Professionalisierung. Bei Berufsgruppenvergleichen auf der Basis von merkmalsorientierten Professionsmodellen wird dementsprechend der Stand oder Grad der Professionalisierung eines Berufes bewertet.
Die vier soziologischen Modelle von Professionalisierung beziehen sich alle auf kollektive Prozesse, was für die Soziologie auch nicht verwunderlich ist, weil ihr Erkenntnisinteresse Gruppen oder anderen sozialen Einheiten im Kontext gesellschaftlichen Wandels gilt. Die kollektiven Professionalisierungsprozesse werden durch Berufsverbände, durch die Wissenschaft und das Hochschulsystem, durch politische, staatliche und rechtliche Instanzen getragen. Die Erweiterung der Bedeutung von Professionalisierung als einem individuellen Prozess ist seit den 1980er Jahren vor allem durch die von Rudolf Stichweh, Ulrich Oevermann und Fritz Schütze geprägte Professionsforschung erfolgt. So ist es heute selbstverständlich nicht nur von der Professionalisierung der Sozialen Arbeit oder der Pflegeberufe zu sprechen, sondern auch den einzelnen berufsbiografischen Weg und die Entwicklung eines professionellen Habitus als Professionalisierung zu bezeichnen. Die individuelle Professionalisierung bezieht sich dabei sowohl auf die Erlangung von Kompetenzen und formalen Abschlüssen als auch auf die Herausbildung von Professionalität im beruflichen Handeln.
3 Professionalisierung und Geschlecht
Professionalisierungsprozesse und die Etablierung von Professionen sind Teil gesellschaftlicher Machtstrukturen, Verteilungskämpfe und Aushandlungsprozesse. Das bedeutet auch, dass Formen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Professionalisierung nicht geschlechtsneutral sind. So hat Angelika Wetterer (2002) am Beispiel der Professionalisierung der Medizin und der Feminisierung der Pflege herausgearbeitet, wie die Arbeitsteilung und Konstruktion der Geschlechter mit der Formation von Berufen und Professionen korrespondiert. Sie rekonstruiert die bürgerlichen Geschlechterkonstruktionen im Berufsbereich und betont die meritokratische Exklusivität der Professionen, die historisch mit einer rigiden Geschlechterexklusivität einherging, was in der Professionssoziologie meist nicht reflektiert wurde (Wetterer 2002, S. 45). Im traditionellen Professionsverständnis und im Prozess der Ausformung von ‚klassischen‘ Professionen mit (bildungs-)bürgerlichem Arbeitsethos galt nur ‚der Mann‘ mit den entsprechenden Meriten als autonomes Subjekt eines ‚freien Berufes‘. Von den Professionen wurden gleichzeitig andere Formen der Arbeit, wie die Haus- und Sorgearbeit und andere Berufe abgegrenzt. Frauen fanden sich in den sich parallel entwickelnden Frauenberufen wieder (Krankenpflege, Kindererziehung, Soziale Arbeit). Hier zeigt sich, dass die Entwicklung des männlich konnotierten Professionsideals und die Entstehung und Professionalisierung der Frauenberufe auf dem geschlechtsdifferenzierenden Konstruktionsmodus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung im Rahmen eines hierarchisierten Geschlechterverhältnisses basieren (Ehlert 2018). Das wird auch in der abwertenden Bezeichnung für die den Professionen zuarbeitenden Frauenberufe als „Semi-Professionen“ (Etzioni 1969) deutlich. Für die Soziale Arbeit wird der Status als Semi-Profession mit der administrativen Eingebundenheit der Fachkräfte begründet, die deshalb nicht über genügend professionelle Handlungsautonomie verfügen würden.
Die Sozial-, Erziehungs-, Gesundheits- und Pflegeberufe werden nach wie vor mehrheitlich von Frauen ausgeübt. Dies ist mit einer relativ geringen gesellschaftlichen Anerkennung und – im Vergleich zu mehrheitlich von Männern ausgeübten Berufen der gleichen Qualifikationsstufe – geringen Vergütung verbunden (Rabe-Kleberg 1996, Ehlert 2013, Bereswill und Ehlert 2018). Daher verweist der allgemeine Professionalisierungsanspruch der Frauenberufe implizit auch auf die langfristige Notwendigkeit der Veränderung von Anerkennungsverhältnissen in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Explizit werden solche Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen der geschlechtlichen Arbeitsteilung und der Aufwertung und Anerkennung von weiblich konnotieren Care-Tätigkeiten im Kontext der allgemeinen Debatten allerdings kaum. Diese Analyseperspektive wird auch gegenwärtig noch hauptsächlich im Kontext der Geschlechterforschung zu Care und zu Dienstleistungen eingenommen.
4 Professionalisierung Sozialer Arbeit Anfang des 20. Jahrhunderts
Die Geschichte der Sozialen Arbeit verweist auf eine spezifische Entwicklung und Professionalisierung von Frauenberufen und ist unmittelbar mit dem Engagement von Frauen der ersten Frauenbewegung Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden.
Bürgerlichen Frauen, beispielsweise aus höheren Beamten-, Offiziers- und Kaufmannsfamilien, war weder Erwerbsarbeit noch ein Studium erlaubt. Ihnen wurde entsprechend dem Weiblichkeitsideal des 19. Jahrhunderts der Platz im Haus als Ehefrau und Mutter zugewiesen. So wurden soziale Hilfstätigkeiten für die bürgerlichen Frauen ein öffentlich anerkanntes, ehrenamtliches Betätigungsfeld in dem sie sich zunehmend engagierten, so auch Alice Salomon (1872-1948). Sie folgt im November 1893 einem Gründungsaufruf zur Mitarbeit in den „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ in Berlin, in denen erste Qualifizierungen der ehrenamtlichen Arbeit in der Wohlfahrtspflege angeboten werden. Damit beginnt ein Engagement, das sie zu einer der bedeutendsten Wegbereiterinnen der Professionalisierung Sozialer Arbeit in Deutschland macht.
Mit der Gründung der ersten sozialen Frauenschule 1908 durch Alice Salomon auf dem Gelände des Pestalozzi-Fröbel-Hauses in Berlin-Schöneberg wird eine zweijährige Ausbildung etabliert. Sie sollte Kenntnisse und Fähigkeiten sowie eine soziale Gesinnung vermitteln, zu einer moralisch-ethischen Grundhaltung erziehen und gleichzeitig Persönlichkeitsbildung der (bürgerlichen) Frauen sein. Mit dieser Ausbildung an Sozialen Frauenschulen und den späteren Wohlfahrtsschulen in der Weimarer Republik beginnt die Qualifizierung Sozialer Arbeit in Deutschland auf sozialwissenschaftlichen Grundlagen, aber unterhalb der Universitäten.
Als „professionell“ galt den Aktivistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, auch wenn sie den Begriff nicht explizit verwendeten, ein fachlich qualifiziertes Handeln auf Basis einer Ausbildung. So erfolgte die Professionalisierung von Sozialer Arbeit zu Beginn für eine ehrenamtliche Tätigkeit. Im ersten Weltkrieg, im Kontext der neu geschaffenen Kriegsfürsorge und im gesellschaftlichen und politischen Wandel der Weimarer Republik entwickelt sich Soziale Arbeit zu einer bezahlten Tätigkeit, zum Erwerbsberuf, für die die zweijährige Ausbildung qualifiziert. Die Protagonistinnen der bürgerlichen Frauenbewegung führten seit den 1890er Jahren bis zur Machtergreifung der Nationalsozialist*innen bereits Professionalisierungsdiskussionen. Ihre Vorstellungen, was Sozialarbeiterinnen können und wissen sollten, fanden Eingang in Lehrpläne, Prüfungsordnungen und reichsweite Regelungen der Ausbildung (Hammerschmidt und Sagebiel 2010, S. 10). Mit dem Nationalsozialismus wurde die Wohlfahrtstaatlichkeit aufgehoben und bisherige Errungenschaften demontiert, als Jüd*innen diskriminierte und politisch verfolgte Sozialarbeiter*innen und Lehrende wurden von ihren Ämtern ausgeschlossen. Im Mai 1933 wurde die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt für alle Fragen der Fürsorge verantwortlich, Soziale Arbeit wird von der nationalsozialistischen Ideologie bestimmt (Amthor 2012).
5 Aktuelle Professionalisierungsdiskussionen in der Sozialen Arbeit
Der Beginn der gegenwärtigen Professions- und Professionalisierungsdebatten geht einher mit der Einführung von Studiengängen der Sozialen Arbeit an Universitäten und Fachhochschulen. Dies geschah in Westdeutschland ab 1969 zum einen durch die Überführung von höheren Fachschulen in Fachhochschulen, zum anderen durch die Einführung von Studiengängen Diplom-Pädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik an Universitäten und Pädagogischen Hochschulen. Darüber hinaus wurden 1971 in Hessen (Kassel) und 1972 in Nordrhein-Westfalen (u.a. Essen-Duisburg, Siegen, Wuppertal) Gesamthochschulen geschaffen, mit neu konzipierten Studiengängen der Sozialen Arbeit. Mit der Etablierung von Fach- und Gesamthochschulen sollte eine theorie- und praxisorientierte Ausbildung stärker miteinander verknüpft und mehr Durchlässigkeit und Chancengleichheit im Bildungssystem hergestellt werden. Von dieser reformorientierten Bildungs- und Hochschulpolitik profitiert die Professionalisierung Sozialer Arbeit sowohl auf der kollektiven als auch der individuellen Ebene bis heute.
Mit dieser hochschulpolitischen Entwicklung beginnt die Akademisierung und Verwissenschaftlichung der Sozialen Arbeit, und damit ein Professionalisierungsprozess, der nach wie vor im Wandel ist und zu zahlreichen Kontroversen führt. An den Fachhochschulen wurden mehrheitlich Studiengänge etabliert, die nach sechs Semestern zu einem Fachhochschulabschluss (Graduierung und ab den 1980er Jahren Diplomierung) mit einem anschließenden einjährigen Anerkennungsjahr zur staatlich anerkannten Sozialarbeiter*in führten. An den Universitäten umfasste der Studiengang Diplom-Pädagogik (mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik) zehn Semester. Hochschulpolitisch wurden die in den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland etablierten Studiengänge der Sozialen Arbeit nach dem Beitritt der DDR im Rahmen des Einigungsvertrags in Ostdeutschland eingeführt. Die sogenannte „nachholende Professionalisierung“ der Fachkräfte fand in einem abrupten Systemwechsel statt. Mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses und der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen an Fachhochschulen und Universitäten kommt es zu einem hochschulpolitischen Umbruch mit massiven Veränderungen der Rahmenbedingungen der Professionalisierung Sozialer Arbeit. Die Verkürzung der Regelstudienstudienzeit im Bachelorstudiengang auf sechs bzw. sieben Semester und die stärkere Verschulung des Studiums sind Bestandteil eines Prozesses, der zu einer Deprofessionalisierung führen kann.
Die Bachelorstudiengänge der Sozialen Arbeit sind seit Jahrzehnten, mehrheitlich von Frauen, stark nachgefragt. Nach einer Analyse der Studierendenzahlen auf der Grundlage der Daten des statistischen Bundesamts (Meyer und Karsten 2019) beträgt der Frauenanteil im Wintersemester 2017/18 im Bachelor Studiengang Sozialwesen 77,15 %, im Studiengang Soziale Arbeit 76,10 % und im Studiengang Sozialpädagogik 81,36 % der Studierenden. Mit dem Sommersemester 1972 beginnt die Erhebung von Studierendenzahlen der Studiengänge Sozialarbeit und Sozialpädagogik durch das Statistische Bundesamt in Wiesbaden in Westdeutschland (Meyer und Karsten 2019). Bis heute hat die Soziale Arbeit einen rasanten Zuwachs erlebt und gleichzeitig eine deutliche Ausdifferenzierung erfahren. Besonders in den letzten fünf Jahren hat dabei der Anteil von Studierenden der Sozialen Arbeit und der Frühpädagogik an privaten Hochschulen stark zu genommen.
Die mit der Akademisierung der Ausbildung einhergehende Verwissenschaftlichung der Sozialen Arbeit hat dazu geführt, dass sie hochschul- und wissenschaftspolitisch als Disziplin aufgefasst wird, darin herrscht im Fachdiskurs weitgehend Einigkeit. Dabei wird ein Verständnis von Professionalisierung, das sich an den klassischen Professionen und den merkmalsbezogenen Ansätzen orientiert, mehrheitlich in Frage gestellt (Dewe und Otto 2011a). Die Kriterien des merkmalsorientierten Professionsmodells sind an den klassischen Professionen entwickelt worden, sie haben einen normativen Charakter und sind nur begrenzt geeignet, Bedingungen und Merkmale professionellen Handelns der Sozialen Arbeit abzubilden (Scherr 2015, S. 167). Im Vergleich mit den (idealtypischen) Merkmalen des klassischen Professionsmodells erscheint Soziale Arbeit deshalb als unvollständig und professionalisierungsbedürftig. Konstruktiver ist es, sich an Professionsmodellen zu orientieren bzw. diese weiter zu entwickeln, die die Qualität des professionellen Handelns in den Blick nehmen. Dem klassischen Professionsverständnis mit seinem expertokratisch-zweckrationalen Wissen wird so das diskursive Wissen einer „reflexiven Professionalität“ (Dewe und Otto 2011b) gegenübergestellt, das verschiedene Wissensbestände vereint und darauf zielt, die gesellschaftlichen Partizipations- und Zugangsmöglichkeiten von Adressat*innen zu steigern und deren Handlungsoptionen und -fähigkeiten zu erhöhen.
Gleichzeitig blenden die Professionsmodelle die Bedeutung von Geschlecht für die Etablierung von Professionen, für kollektive Professionalisierungsprozesse und das Verständnis von Professionalität aus. In den Professionsdebatten hat dies zur Folge, dass sie einen androzentischen Bias (re-)produzieren, der zu einer verzerrten Wahrnehmung von professionellem Handeln führen kann (Bereswill und Ehlert 2012). Eine systematische Verknüpfung von geschlechtertheoretischen und professionstheoretischen Fragen ist im Professionalisierungsdiskurs der Sozialen Arbeit erst in Ansätzen vorhanden.
6 Ausblick
Als Fazit kann festgehalten werden, dass die Professionalisierung Sozialer Arbeit im Sinne der Akademisierung und Wissenschaftsentwicklung kontinuierlich vorangeschritten ist. Die Antwort auf die Frage, ob Soziale Arbeit eine Profession ist, bleibt von dem jeweiligen Professionsverständnis abhängig. Professionalisierungsprozesse lassen sich empirisch untersuchen und theoretisch fundieren, auch wenn die jeweilige Berufskultur dem Status als Profession nicht entspricht. Für die Soziale Arbeit ist dem Einwand, dass sie über kein eigenes wissenschaftliches Bezugssystem verfüge, vielfach widersprochen worden. Die Position von der „Disziplin und Profession Sozialer Arbeit“ gehört zum Fachdiskurs. Einen weiteren Einwand, dass Soziale Arbeit immer in Organisationen, Bürokratien sowie sozialpolitische Rahmenbedingungen eingebunden und dadurch in ihrer professionellen Handlungsfreiheit eingeschränkt sei, wird auch widersprochen. Als Gegenargument ist von fördernden und professionelles Handeln stützenden Rahmenbedingungen die Rede, in denen sich Professionalität als „organisationskulturelles System“ (Klatetzki 1993) entfalten und Soziale Arbeit die Bezeichnung Profession beanspruchen kann.
Vergleichbare Diskussionen um Professionalisierung, Profession und Professionalität finden in verschiedenen Berufsfeldern statt. Gegenwärtig gibt es eine Reihe von Berufen, die den Wechsel von einer beruflichen Ausbildung zu einer spezifischen hochschulischen Ausbildung vollziehen. Beispiele hierfür sind die frühkindliche Bildung, die Pflegewissenschaft und die Hebammenwissenschaft. Verbunden mit dem jeweiligen Bachelorabschluss sind fachliche Diskurse im Hinblick auf die Akademisierung und Wissenschaftsentwicklung des jeweiligen Feldes und berufspolitische Initiativen, die sich für deren Professionalisierung und Anerkennung engagieren. Die Status- und Einkommensverbesserung dieser mehrheitlich von Frauen ausgeübten, sich professionalisierenden Berufe, bleibt weiterhin umkämpft und deshalb eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
7 Quellenangaben
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8 Literaturhinweise
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Wetterer, Angelika, 2002. Arbeitsteilung und Geschlechterkonstruktionen: „Gender at work“ in theoretischer und historischer Perspektive. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft. ISBN 978-3-89669-787-5
Verfasst von
Prof. (i.R.) Dr. Gudrun Ehlert
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Ehlert, Gudrun,
2019.
Professionalisierung [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 15.10.2019 [Zugriff am: 14.01.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/6019
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