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Prosoziales Verhalten

Prof. Dr. Hans-Werner Bierhoff

veröffentlicht am 23.07.2024

Englisch: prosocial behavior; prosocial behaviour (britisch)

Prosoziales Verhalten ist ein Handlungsmuster, mit dem intendiert wird, die Situation konkreter Hilfeempfänger zu verbessern, ohne dass dienstliche Verpflichtungen dafür vorliegen. Altruismus stellt einen Spezialfall prosozialen Verhaltens dar, der dann gegeben ist, wenn die Motivation der helfenden Person durch Perspektivenübernahme bezogen auf die Hilfeempfänger und Mitgefühl gekennzeichnet ist.

Überblick

  1. 1 Ursachen prosozialen Verhaltens
    1. 1.1 Vorbildwirkung
    2. 1.2 Mitgefühl
    3. 1.3 Soziale Normen
    4. 1.4 Sympathie
  2. 2 Individuelle Unterschiede prosozialen Verhaltens
  3. 3 Gründe des Ausbleibens prosozialen Verhaltens
  4. 4 Intervention als Heldentat
  5. 5 Quellenangaben

1 Ursachen prosozialen Verhaltens

Prosoziales Verhalten beruht auf Hilfsbereitschaft und wird durch mehrere Ursachen ausgelöst, die sich als Ergebnis der Evolution entwickelt haben. Dazu zählen unter anderem: Vorbildwirkung, Mitgefühl, Aktivierung einer sozialen Norm und Sympathie mit dem Opfer. Prosoziales Verhalten kann aber auch gehemmt werden, zum Beispiel durch Gefühlskälte, Diffusion der Verantwortung, Verleugnung der Notlage und Heuchelei.

1.1 Vorbildwirkung

Was die Vorbildwirkung angeht, ist das hilfsbereite Vorbild von anderen Personen geeignet, das eigene prosoziale Verhalten zu aktivieren. Darüber hinaus kann das prosoziale Vorbild der Eltern eine prosoziale Orientierung ihrer Kinder fördern. Das ist umso mehr der Fall, wenn die Eltern die Gründe für ihr prosoziales Verhalten verbalisieren und seine Angemessenheit und soziale Wünschbarkeit der Intervention verdeutlichen.

1.2 Mitgefühl

Eine weitere Ursache für prosoziales Verhalten ist Mitgefühl bzw. Empathie, das die Grundlage für Altruismus darstellt und über das Kinder schon früh in der kindlichen Entwicklung verfügen. Hilfsbereitschaft wurde schon bei zweijährigen Kindern beobachtet. Diese Beobachtung verweist darauf, dass Hilfsbereitschaft frühzeitig in der kindlichen Entwicklung auftritt. Wenn andere Familienmitglieder sich und anderen helfen, stellt das ein Vorbild für das Kind dar, das es nachahmen möchte (Bierhoff 2002).

Die Auslösung von Mitgefühl wird durch die Begegnung mit einer anderen Person, die Schmerzen hat, während ich als beobachtende Person mitleide, veranschaulicht. Ein Fallbeispiel aus dem Sportbereich liefert das Leiden des französischen Stürmers Mbappe in einem Fußballspiel der Europameisterschaft 2024 in Deutschland, der vor laufender Kamera während des Spiels gegen Österreich einen Nasenbeinbruch erlitt, weil er nach einem Kopfballduell unglücklich stürzte. Der blutüberströmte Starspieler, der auf dem Rasen lag, war selbst für Fernsehzuschauer, die nicht unmittelbar vor Ort waren und die ein spannendes Spiel erleben wollten, mitleiderregend.

Natürlich ist in dieser Ausnahmesituation auch eine gefühlskalte Reaktion möglich, indem etwa überlegt wird, dass mithilfe einer Gesichtsmaske weitergespielt werden kann. Mbappe selbst entschärfte die emotionale Reaktion der Zuschauenden dadurch, dass er auf seiner Internetseite humorvoll danach fragte, wie eine Gesichtsmaske für ihn aussehen könnte. Jedenfalls kann das Leiden einer anderen Person ein Mitleiden von Beobachtenden auslösen, das den Impuls auslöst, der anderen Person zu helfen. In solchen Situationen kann durch prosoziales Verhalten das Leiden der Opfer sowie das Mitleiden der Zuschauenden verringert werden.

1.3 Soziale Normen

Darüber hinaus gilt, dass prosoziales Verhalten durch soziale Normen gesteuert wird. Prosoziale Normaktivierung umfasst:

  • die Aufmerksamkeitszuwendung auf ein potentielles Opfer,
  • die Normaktivierung einschließlich der Bildung einer persönlichen Norm zu handeln,
  • die Übernahme von persönlicher Verantwortung („ich sollte eingreifen“),
  • die Bewertung der möglichen Konsequenzen eines Eingreifens (Analyse der Vorteile und Nachteile),
  • und evtl. die Abwehr oder Verdrängung der persönlichen Verantwortung zur Verneinung der Gültigkeit oder Anwendbarkeit der Norm der sozialen Verantwortung.

Die Norm der sozialen Verantwortung schreibt vor, Personen zu helfen, die von der Hilfe abhängig sind, um ihre Notlage zu überwinden. Hilfeleistung ist eine Handlung, die mit den sozialen Normen der Gesellschaft korrespondiert. Die Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen, die sich in Normen niederschlagen, ruft eine soziale Bestätigung bzw. Verstärkung hervor. Dadurch wird ein positives Gefühl erlebt, das auf dem Gedanken beruht, das Richtige getan zu haben.

1.4 Sympathie

Eine weitere Ursache prosozialen Verhaltens ist Sympathie mit einer anderen Person, die sich in einer Notlage befindet. Sympathie lässt sich auf das Gefühl zurückführen, die andere Person zu mögen. Damit wird das Thema der interpersonalen Attraktion angesprochen: Wenn eine Person eine andere mag, wird sie zu prosozialem Verhalten gegenüber dieser Person motiviert (Bierhoff 2002, S. 198). Denn höhere interpersonale Attraktion hängt mit höherer Sympathie zusammen, die wiederum das Gefühl der Empathie fördert.

Menschen unterscheiden sich in ihrer Hilfsbereitschaft. Personen, die eine hohe Disposition haben, Empathie zu erleben und die Perspektive anderer Menschen nachzuempfinden, sind hilfsbereiter als weniger empathische Menschen. Wenn im Gegenteil die dispositionale Empathie sehr gering ausgeprägt ist, kann man von Gefühlskälte sprechen, die prosoziales Verhalten eher unwahrscheinlich macht.

2 Individuelle Unterschiede prosozialen Verhaltens

Außerdem unterscheiden sich Menschen darin, inwieweit sie sozialen Normen Folge leisten. In diesem Zusammenhang ist die Norm der sozialen Verantwortung von großer Bedeutung. Eine stärkere Orientierung an der sozialen Norm der sozialen Verantwortung hängt mit größerer Hilfsbereitschaft zusammen (Bierhoff 2002). Umgekehrt reduziert die Verneinung von Verantwortung die Hilfsbereitschaft (Montada 2001). Eine Person kann zu dem Schluss kommen, dass sie in einer bestimmten Situation Verantwortung für eine andere Person übernehmen sollte, während sie gleichzeitig versucht ist, das nicht zu tun (weil es ihr zu aufwendig zu sein scheint etc.). Verneinung der Verantwortung basiert vielfach auf Rechtfertigungen und Ausreden:

  • Minimalisierung der Notlage des Opfers,
  • Schuldzuschreibung auf das Opfer (nach dem Motto „Das Opfer ist selbst schuld“),
  • Diffusion der Verantwortung unter mehreren potentiellen Helfern (z.B. eine andere Person steht näher dran)
  • und Feststellung der Nicht-Zuständigkeit aufgrund bestimmter Merkmale (z.B. Versorgung von Kindern).

Verneinung der Verantwortung reduziert vielfach die Sympathie mit der hilfsbedürftigen Person. Darüber hinaus ist zu beachten, dass trotz Verneinung der Verantwortung Gefühle der Gerechtigkeit aufrechterhalten werden können. Gerechtigkeit beruht auf der Annahme, dass die Ereignisse in der Welt gerecht verlaufen (Glaube an eine gerechte Welt). Die Verneinung von Verantwortung ermöglicht es der Person, weiter an das Bestehen einer gerechten Welt zu glauben. Man kann Hilfe vermeiden und gleichzeitig daran glauben, dass es in der Welt gerecht zugeht. Das kann zu einer moralischen Heuchelei führen (Batson et al. 1999).

Es sei noch angemerkt, dass die Hilfsbereitschaft tendenziell höher ist, je schlechter die räumlichen und ökologischen Rahmenbedingungen sind. Das lässt sich z.B. in Kriegsgebieten beobachten oder in Wohngebieten, in denen der Lebensstandard niedrig ist oder wenn eine Hitzewelle stattfindet, in der extrem hohe Temperaturen auftreten. In jedem dieser Beispiele besteht die Tendenz zu einer besonders hohen Hilfsbereitschaft.

3 Gründe des Ausbleibens prosozialen Verhaltens

Wenn Helfende sich durch die Schwierigkeit der Situation überfordert fühlen oder wenn eine Intervention sie in Gefahr bringt, sinkt die Hilfsbereitschaft. Hemmungen einzugreifen bestehen beispielsweise in Gefahrensituationen, die unüberschaubar sind. Damit in solchen Situationen die Sicherheit von Helfern und Hilfeempfängern gewährleistet ist, haben Erste-Hilfe-Kurse, wie sie z.B. bei Führerscheinprüfungen angeboten werden, eine wichtige Vorbereitungsfunktion. In diesen Kursen werden Notlagen simuliert und Techniken effektiver Interventionen gelehrt. Dadurch lernen die Teilnehmenden, welche Interventionen zur Beseitigung der Notlage vielversprechend sind.

Wenn mehrere potenzielle Helfer:innen anwesend sind, sinkt die individuelle Betroffenheit der einzelnen Helfenden. Die wahrgenommene Verantwortung wird unter den Zeug:innen aufgeteilt und verringert sich in der Tendenz bei jedem einzelnen Zuschauenden (Bierhoff und Rohmann 2017). Diese Diffusion der Verantwortung kann die individuelle Betroffenheit unter einen kritischen Schwellenwert sinken, sodass Hilfeleistung unwahrscheinlich wird. Eine Gegenmaßnahme ist die persönliche Zuschreibung von Verantwortung. So kann das Opfer eine bestimmte Person unter den Zeugen ansprechen, um der Gefahr der Diffusion der Verantwortung durch Fokussierung der Verantwortung zu begegnen.

4 Intervention als Heldentat

In Situationen, die Zivilcourage erfordern, sind die Helfenden mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Oft stellt die Hilfeleistung dann eine Heldentat dar. Das kann zum Beispiel ein Verkehrsunfall sein oder eine Situation, in der eine andere Person durch Fremdenfeindlichkeit bedroht oder physisch angegriffen wird. Zivilcourage beinhaltet eine aktive Intervention zugunsten von Opfern. Für eine psychologische Analyse ist daher das Verständnis der entsprechenden Handlungsmuster wichtig. Dieses lässt sich auf der Grundlage des sequentiellen Ablaufs der Handlung darstellen, der von der Wahrnehmung einer Notlage bis zu der Intervention zugunsten des Opfers führt. Dabei spielen handlungsleitende Kognitionen eine zentrale Rolle. Diese beziehen sich vor allem

  • auf die Situationsinterpretation (Liegt eine Bedrohung für das Opfer vor?),
  • die wahrgenommene Kompetenz (Besitze ich die notwendigen Fähigkeiten, um eine Intervention erfolgreich durchzuführen?),
  • die Zuschreibung von Verantwortung (Fühle ich für das Opfer Verantwortung und bin ich bereit sie zu übernehmen?)
  • und die Entscheidungssicherheit (Ist die Situation eindeutig, sodass ich mit großer Sicherheit feststellen kann, was zu tun ist?). Die Entscheidungssicherheit ist besonders bedeutsam, weil Zivilcourage bedeutet, unter Stress zu handeln und die Folgen des Eingreifens zu bewerten.

Darüber hinaus stellen wir aber auch fest, dass fremden Menschen wie Erdbebenopfern auf einem anderen Kontinent geholfen wird. Das liegt unter anderem an der medialen Wirklichkeit. In diesem Zusammenhang spielen Fernsehprogramme und soziale Medien eine bedeutsame Rolle. Insbesondere lässt sich feststellen, dass die Bedeutung sozialer Medien wie Facebook für die gesellschaftliche Kommunikation erheblich zugenommen hat. Soziale Medien erhöhen vielfach die Betroffenheit der Teilnehmenden, die hautnah miterleben, welche bedrückenden Folgen beispielsweise Naturkatastrophen für die unmittelbaren Opfer in weit entfernten Ländern haben.

Die psychologische Distanz wird durch Berichte in sozialen Medien erheblich verringert. Nach Naturkatastrophen wird in den Medien vielfach dargestellt, wie hilflos die Opfer sind, die z.B. durch Hunger und Kälte in ihrer Gesundheit bedroht werden. Nach schweren Erdbeben zeigen die sozialen Medien, wie bedroht die Menschen in ihrer Situation sind und wie schleppend Hilfe vor Ort eintrifft. Dadurch werden Mitgefühl und Sorge um das Wohlergehen der Menschen ausgelöst.

Diese Emotionen erhöhen die Hilfsbereitschaft, wie sie in Spenden an Wohltätigkeitsorganisationen zum Ausdruck kommt, die das Leid der Opfer mildern. Tatsächlich ist die Spendenbereitschaft nach großen Naturkatastrophen vielfach sehr hoch. In zukünftigen Untersuchungen kann getestet werden, inwieweit die Spendenbereitschaft nach Naturkatastrophen durch die Kommunikation über soziale Medien erhöht werden kann.

5 Quellenangaben

Batson, C. Daniel, Elisabeth R. Thompson, Greg Seuferling, Heather Whitney und Jon A. Strongman, 1999. Moral hypocrisy: Appearing moral to oneself without being so. Journal of Personality and Social Psychology. (34)77, S. 525–537. ISSN 0022-3514

Bierhoff, Hans Werner & Elke Rohmann, 2017. Diffusion von Verantwortung. In: Ludger Heidbrink, Claus Langbehn & Janina Loh, Hrsg. Handbuch Verantwortung. Wiesbaden: Springer VS, S. 911–931. ISBN 978-3-6580-6109-8

Bierhoff, Hans Werner, 2002. Prosocial behavior. Hove: Psychology Press. ISBN 978-0-86377-774-5

Montada, Leo, 2001. Denial of responsibility. In: Ann Eliabeth Auhagen und Hans Werner Bierhoff, Hrsg. Responsibility: The many faces of a social phenomenon. S. 79–92. London: Routledge. ISBN 978-0-4152-3530-3

Verfasst von
Prof. Dr. Hans-Werner Bierhoff
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Zitiervorschlag
Bierhoff, Hans-Werner, 2024. Prosoziales Verhalten [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 23.07.2024 [Zugriff am: 11.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/2758

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