socialnet Logo

Psychodrama

Thomas Wittinger

veröffentlicht am 03.10.2023

Ähnlicher Begriff: Soziodrama

Etymologie: gr. psyche Seele, gr. drama Handlung

Englisch: psychodrama

Psychodrama ist ein komplexes Rollenspielverfahren, das den Fokus auf das innere Erleben der i.d.R. von den Spielern selbst vorgegebenen real erlebten oder antizipierten Situationen legt, jedoch nicht auf deren künstlerisch-ästhetische Darstellung. Als Verfahren besteht das Psychodrama aus den Formen Protagonistenspiel, Soziodrama und Soziometrie.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Grundlagen
  3. 3 Aufbau und Durchführung des psychodramatischen Spiels
    1. 3.1 Erwärmungsphase
    2. 3.2 Protagonistenspiel
    3. 3.3 Aktionsphase
      1. 3.3.1 Exploration und Auftragsklärung
      2. 3.3.2 Das szenische Spiel
    4. 3.4 Integrationsphase
  4. 4 Soziodrama
  5. 5 Soziometrie
  6. 6 Theoretische Grundlagen im Überblick
    1. 6.1 Philosophie
    2. 6.2 Morenos Welt- und Menschenbild
    3. 6.3 Interpretationsfolien (Buer)
  7. 7 Anwendungen
  8. 8 Abgrenzungen
  9. 9 Quellenangaben
  10. 10 Literaturhinweise
  11. 11 Informationen im Internet

1 Zusammenfassung

Das Psychodrama nach J. L. Moreno ist originär eine Konzeption eines Gruppenverfahrens. Es ist ein szenisches Verfahren in den drei wesentlichen Formen Protagonistenspiel, Soziodrama und Soziometrie (triadisches System). Im protagonistenzentrierten Psychodrama steht die Thematik eines Einzelnen (Protagonist) im Fokus. Er gibt mit seinem Thema die Szene und die Rollen vor. Die Gruppenmitglieder unterstützen ihn, indem sie die von ihm vorgegebenen Rollen (Hilfs-Ich) in der Szene mitspielen. Im Soziodrama spielt die ganze Gruppe ihr eigenes oder das von ihr gewählte Thema (z.B. eine gesellschaftspolitisches Thema). Die Soziometrie misst die unbewussten Gruppenstrukturen und die Gruppendynamik einer Gruppe. Durch die im Psychodrama vollzogene Handlung soll „die Wahrheit der Seele“ (Moreno 1959, S. 77) des Einzelnen oder der Gruppe ergründet, greifbar und damit Veränderungen des Einzelnen oder der Gruppe in der Zukunft ermöglicht werden. Folglich geht die szenische Arbeit oftmals mit einer hohen emotionalen Intensität einher. Das Ziel dieser Inszenierungen ist die Heilung des Einzelnen im Rahmen einer Gruppe, von Gruppen, bis hin zur ganzen Gesellschaft als Gesamtheit von Gruppen.

Zentral für die psychodramatische Arbeit ist i.d.R. kein von der Leitung oder einem gruppenfremden Autor vorgegebener Text, sondern die szenische Umsetzung

  • eines dramatisch erlebten Anliegens eines Einzelnen oder einer Gruppe,
  • einer biografisch erlebten Situation,
  • eines gruppenspezifischen oder gesellschaftlichen Konflikts,

um jeweils nach einer Weiterentwicklung zu suchen. Folglich ist das Psychodrama meist in einer therapeutischen Anwendung bekannt. Es hat sich aber darüber hinaus in vielen Bereichen der Beratung, der Therapie, der Bildung und der Entwicklung von Menschen und Organisationen etabliert.

2 Grundlagen

Jakob Levi Moreno war der Begründer des Psychodramas, der Soziometrie und der Gruppenpsychotherapie – der Begriff Psychodrama wurde erstmals in der frühen 1940er Jahren von ihm verwendet. Er hat das Psychodrama mit seinen vielen Arrangements und Techniken im Verlauf von Jahrzehnten entwickelt. Verschiedene Wissenschaften und spätere Generationen von Psychodramatiker:innen haben dies als Impulse aufgegriffen und weiterentwickelt.

Der Begriff Drama weist auf Gemeinsamkeiten mit dem Theater hin, d.h. das Psychodrama ist ein szenisches Verfahren. Auch hier gibt es eine:n Leiter:in, eine Bühne, die Spieler:innen und einen Zuschauerraum. Außer in bestimmten Formen des Soziodramas wird kein vorgegebener Text, sondern

  • ein dramatisch erlebtes Anliegen eines Einzelnen oder einer Gruppe,
  • eine biografisch erlebte Situation,
  • ein gruppenspezifischer oder
  • gesellschaftlicher Konflikt

erkundet und bearbeitet, um eine Weiterentwicklung bzw. eine Lösung zu ermöglichen, die für alle Beteiligten akzeptabel ist.

Mit seinen eigenständigen Methoden, seiner eigenen Philosophie und seinen Interpretationsfolien für die Deutung individueller und gruppenspezifischer Erfahrungen wird das Psychodrama in vielen personenbezogenen Anwendungsbereichen angewendet.

Es gibt viele Formen einer Inszenierung. Die jeweilige Form hängt von der Erzählung eines Einzelnen oder der Gruppe ab. Meist ist das Psychodrama als Protagonistenspiel bekannt. Auch das Soziodrama und die Soziometrie sind von erheblicher Bedeutung. Im Folgenden wird der Ablauf einer psychodramatischen Arbeit mit dem Schwerpunkt auf das Protagonistenspiel in seinen Grundzügen beschrieben.

3 Aufbau und Durchführung des psychodramatischen Spiels

Grundsätzlich ist das Psychodrama ein Gruppenverfahren. Dies gilt auch für das Protagonistenspiel, weil auch hier die Gruppenmitglieder den/die Protagonist:in unterstützen.

Der Ablauf des psychodramatischen Prozesses folgt gewissermaßen einem therapeutischen Ritual (Buer und Sugimoto 1994, S. 119–140), mit drei Phasen:

  1. Erwärmungsphase
  2. Aktionsphase
  3. Integrationsphase

In der Erwärmungsphase wird die Gruppe auf das Spiel und die dort thematisierten emotionalen Erfahrungen vorbereitet. Die Aktionsphase meint die Arbeit auf der Bühne. Dazu gehören im Protagonistenspiel das Interview des Protagonisten und das szenische Spiel. Die soziometrischen Messungen können als Sonderform des Spiels angesehen werden. Die Integrationsphase dient dem Entrollen, der Verarbeitung und Reflexion der im Spiel gemachten Erfahrungen. Für jede der genannten Phasen steht der Leitung eine Reihe von Arrangements und Techniken zur Verfügung, die den Gruppenmitgliedern einen geschützten Rahmen für ihre innere Auseinandersetzung bieten.

Die einzelnen Phasen sind allerdings nicht schematisch voneinander in dem Sinne abzugrenzen, dass z.B. die Erwärmung mit der Eröffnung der Sitzung durch die Leitung beginnt und durch die Arbeit auf der Bühne abgeschlossen wird. Vielmehr ist der gesamte Ablauf im Sinne Morenos als ein Prozess zu verstehen (psychodramatischer Prozess), in dem z.B. die Erwärmung bereits mit der Anreise zu einer Veranstaltung oder einer Therapiesitzung beginnt. Auch während eines Seminars ist für jede einzelne Arbeitseinheit erneut eine Erwärmung nötig. Entsprechend sind viele psychodramatische Arrangements und Techniken nicht nur als Impuls anzusehen. Für viele explizit psychodramatische Formen (z.B. das soziale Atom) gilt, dass sie bereits selbst Arrangements einer inhaltlichen Arbeit darstellen und somit der Übergang zur Aktionsphase fließend ist.

Im Folgenden wird dies am Beispiel des Protagonistenspiels näher dargestellt. Für das soziodramatische Spiel wird hier auf den entsprechenden Artikel verwiesen.

3.1 Erwärmungsphase

Ziele der Erwärmungsphase sind:

  • die einzelnen Gruppenmitglieder in ihrer jeweiligen Befindlichkeit „abzuholen“ und auf ein einigermaßen gleiches emotionales Niveau zu bringen;
  • die emotionale, soziale und körperliche Bereitschaft für eine konzentrierte inhaltliche Zusammenarbeit (Gruppenkohäsion) zu ermöglichen. Diese ist nicht nur zu Beginn einer mehrtägigen Veranstaltung z.B. eines Seminars, sondern auch erneut zu Beginn jeder weiteren Arbeitseinheit nötig;
  • die Findung bzw. Klärung eines Themas oder eines Feinziels im Rahmen eines Gesamtthemas;
  • die Wahl der Arbeitsform (Protagonistenspiel, gruppenzentriertes Spiel, thematisches oder gesellschaftspolitisches Soziodrama).

Um diese Ziele zu erreichen, steht der Leitung eine ganze Reihe von psychodramatischen Arrangements zur Verfügung. Hierzu zählen vor allem zahlreiche Varianten (soziometrischer) Aufstellungen, das Vorstellen aus einer anderen Rolle heraus (z B. eines Kollegen) oder Skulpturenarbeiten. Geeignet sind aber auch Formen aus dem Darstellenden Spiel, Phantasiereisen oder Medien z.B. Bilder oder alte Fotografien. (Die Erwärmung erfolgt hier, indem die Teilnehmer erzählen, warum sie das jeweilige Bild gewählt haben.) Die Auswahl der Arrangements durch die Leitung hängt von der institutionellen Rahmung der Veranstaltung ab.

An folgendem Beispiel wird der weitere Ablauf eines Protagonistenspiels illustriert. Ausgangssituation: Frau F. berichtet von einer Auseinandersetzung mit ihrem Chef. Sie wollte sich flexible Arbeitszeiten erbitten, um neben der Berufstätigkeit auch ihren Kindern gerecht zu werden. Der Chef hatte ihre Bitten abgelehnt und gesagt, dies stünde den betrieblichen Abläufen entgegen. Der Betriebsrat hat ihren Interessen inhaltlich zwar zugestimmt, gleichzeitig ihr aber kein konkretes Angebot einer Unterstützung gemacht. (In den folgenden Ausführungen beziehen sich die genderbezogenen Formulierungen immer auf dieses Beispiel.)

3.2 Protagonistenspiel

Das Protagonistenspiel wird oft als die klassische psychodramatische Arbeit bzw. als erstes Element des Triadischen Systems des Psychodramas betrachtet. Die Protagonistin ist gewissermaßen die Autorin und Regisseurin, nach deren Drehbuch die Szene mit den dafür maßgeblichen Rollen gespielt wird. Sie gibt eine von ihr konflikthaft erlebte Situation mit allen für die Situation maßgeblichen Rollen vor. Für die szenische Umsetzung wird sie von der Leitung begleitet.

Für die konkrete szenische Arbeit stellen sich die übrigen Gruppenmitglieder als Hilfs-Ichs zur Verfügung. Sie spielen ihre Rollen so, wie sie von der Protagonistin vorgegeben werden (Einrollen). Für eine erfolgreiche Arbeit ist es nötig, dass die Thematik auch von der Gruppe getragen wird. Dadurch ist das Protagonistenspiel gleichzeitig immer ein Spiel der Gruppe.

3.3 Aktionsphase

Die Aktionsphase findet auf der Bühne statt. Die Leitung markiert hierfür einen freien Ort im Raum. Im Sinne des oben beschriebenen fließenden Übergangs ist die Eröffnung der Bühne in dem Sinne zu verstehen, dass nicht sofort mit der szenischen Arbeit begonnen wird. Vielmehr ist die Aktionsphase nochmals in zwei Teile unterteilt:

3.3.1 Exploration und Auftragsklärung

Die Leitung lädt die Protagonistin ein, die Bühne zu betreten. Die Leitung führt mit ihr zunächst ein Interview. Das Ziel dieses Interviews ist,

  • die Anfrage der Protagonistin deutlicher herauszuarbeiten (Eingrenzung des Themas);
  • den konkreten Auftrag an die Leitung für diese Arbeitseinheit zu formulieren (z.B. ihre individuellen Gründe, warum sie so schnell „klein beigibt“ zu klären; oder eine Strategie zu entwickeln, deren Umsetzung sie sich persönlich auch zutraut);
  • der Leitung eine Hypothesenbildung auf der Basis von fundierten Deutungshilfen zu ermöglichen; im Verlauf des folgenden szenischen Spiels ist die Leitung gefordert, diese Hypothesen immer wieder zu überprüfen und ggf. zu revidieren;
  • der Leitung eine mögliche Schlüsselszene für den erzählten Konflikt zu ermitteln.

Folgende Fragen sind für die Leitung zentral:

  • Was ist geschehen?
  • Wo fand das Ereignis statt?
  • Wann fand das Ereignis statt?
  • Wer waren die relevanten beteiligten Personen?

In diesem Sinne beschreibt die Protagonistin im Verlauf des Interviews ihre emotionale Befindlichkeit konkreter; sie erzählt den Ablauf der erfahrenen (Schüssel)Situation und benennt die für die anschließende szenische Arbeit relevanten beteiligten Personen.

3.3.2 Das szenische Spiel

Die Leitung entscheidet, welche Szene in welcher „Gestalt“ gespielt wird. Die Protagonistin wird dabei i.d.R. mit einbezogen. Die „szenische Arbeit kann sehr unterschiedlich aussehen“ (Ameln und Kramer 2014, S. 132): Die Reinszenierung realer Ereignisse ergibt sich oftmals aus der unmittelbaren Anfrage. Es kann aber auch um die „Erprobung einer neuer Handlungsweise […] oder das Ausloten der Konsequenzen einer bestimmten Entscheidung“ (a.a.O., S. 133) oder um fiktive Szenen gehen. „In allen Fällen geht es […] um eine weitestgehend realistische Darstellung dessen, was geschehen ist, geschehen wird oder geschehen könnte.“ (ebd.)

Ist dies geklärt, richtet die Protagonistin die Bühne ein, d.h. sie stellt den Raum, in dem die Szene stattgefunden hat bzw. stattfinden wird. Entscheidend sind zum einen Orientierungsmerkmale wie Fenster und Türen und die Platzierung bedeutsamer Möbel (z.B. ein Schreibtisch). Grundsätzlich ist der Raum wie im Theater so einzurichten, dass die Zuschauer die Szene gut sehen können. Zum anderen geht es darum, dass ein Gefühl für die Atmosphäre entsteht. Dies kann z.B. durch Erfragen des Tages und der Uhrzeit geschehen.

Anschließend werden die für die Szene bedeutsamen Rollen besetzt. Hierfür wählt die Protagonistin i.d.R. Personen aus der Gruppe (Hilfs-Ich). Diese Personen spielen die Rollen so, wie sie von der Protagonistin (z.B. durch einen Rollentausch) vorgegeben werden. Besonderer Schutz des Hilfs-Ichs ist erforderlich, wenn eine Rolle mit heftigen Emotionen (Angst, Aggression, Hass) gespielt werden soll.

Während des Spielverlaufs kann die Leitung auch durch spezifische Interventionen die emotionale Erfahrung verdichten, vertiefen oder auch auf eine Reflexionsebene heben. Diese Techniken dienen der inneren Erkenntnis, dem Einfühlungsvermögen und der Einsicht der Protagonistin in mögliche Handlungsoptionen. Zentrale Techniken sind hierbei:

  • der Rollenwechsel,
  • der Rollentausch,
  • ein behutsamer Einsatz des Doppelns und
  • das Spiegeln.

Die Auswahl hängt von dem Auftrag, dem Thema und den Zielen ab. Für eine detaillierte Beschreibung wird hier auf (Ameln und Kramer 2014, S. 138) verwiesen.

3.4 Integrationsphase

Die Integrationsphase dient der Verarbeitung oder der Auswertung der im Spiel gemachten Erfahrungen, der Stützung der Protagonistin und der Einbindung der Hilfs-Ichs in den Gruppenprozess. Vorrangige Techniken hierfür sind:

  • das Entrollen der Hilfs-Ichs durch die Protagonistin,
  • das Sharing und
  • das Rollenfeedback.

Durch das Entrollen entlässt die Protagonistin die Mitspielenden aus ihrer Hilfs-Ich-Funktion. Sie nimmt die Mitspielenden wieder in ihrer eigentlichen Persönlichkeit wahr. Im Sharing teilen die Mitspielenden eigene Gefühle, die bei ihnen während des Spiels aufkamen, mit. Es dient der Akzeptanz und dem Rückhalt der Protagonistin mit den gerade gezeigten Schwächen, wunden Punkten, Ängsten und anderen belastenden Emotionen. Hierbei ist darauf zu achten (besonders in mit dem Psychodrama unerfahrenen Gruppen), dass keine Bewertungen, Deutungen oder Rationalisierungen oder gar Ratschläge gegeben werden. Im Anschluss geben die Mitspielenden der Protagonistin ein Feedback darüber, was sie während des Spiels in der jeweiligen Rolle empfunden haben. Schließlich haben die Mitspielenden und insbesondere die Zuschauer:innen die Möglichkeit zu einem Rollenidentifikationsfeedback. Hier können aus der Identifikation mit einer Hilfs-Ich-Rolle auch kritische Punkte angesprochen werden. Ist die Protagonistin noch sehr mit den gerade gemachten Erfahrungen beschäftigt, kann dies aber auch in die nächste Befindlichkeitsrunde verlegt werden. Auch dabei ist darauf zu achten, dass die Aussagen ausschließlich aus der Identifikation mit der Rolle, nicht als Gruppenmitglied gemacht werden.

4 Soziodrama

Das Soziodrama ist das zweite Element des Triadischen Systems des Psychodramas. Zeit seines Lebens galt Morenos Interesse nicht nur dem einzelnen Individuum. Vielmehr betrachtete er den Einzelnen immer als festen Bestandteil seines sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontexts. Folglich befasste er sich immer auch mit diesem Kontext als Ganzem.

„Für derartige Themenstellungen […] entwickelten Moreno und die Psychodramatiker späterer Generationen das Soziodrama. […] Im Mittelpunkt steht nicht mehr der oder die Einzelne, sondern ein Thema, […] Strukturen und Prozesse der Gruppe […] oder ein gesellschaftlich relevantes Phänomen.“ (Ameln und Kramer 2014, S. 82)

Weitere Informationen zum Soziodrama finden sich im separaten Lexikonartikel.

5 Soziometrie

Das dritte Element des Triadischen Systems des Psychodramas ist die Soziometrie. Es gehört inzwischen zum Common Sense, dass im Hintergrund der formalen Gruppenstrukturen unbewusste, informelle Strukturen wirksam sind. Die Soziometrie misst diese informellen Gruppenstrukturen und die Gruppendynamik einer Gruppe oder zwischen Gruppen und macht sie greifbar und damit veränderbar.

Weitere Informationen zur Soziometrie finden sich im separaten Lexikonartikel.

6 Theoretische Grundlagen im Überblick

J. L. Moreno selbst bezeichnet den theoretischen Hintergrund des Psychodramas als therapeutische Philosophie (Moreno 1959, S. 42). Das Ziel des psychodramatischen Projekts ist die Utopie einer therapeutischen Weltordnung. Erreicht wird das Ziel durch Heilung der Interaktionen von Individuen im Rahmen von Gruppen, durch die Interaktionen innerhalb von Gruppen und zwischen Gruppen jeglicher Größe und damit der ganzen Gesellschaft.

Moreno hat dazu während seines gesamten Lebens theoretische Ideen entwickelt, die später in verschiedenen Wissenschaften zu elaborierten Konzepten entwickelt wurden, ohne dass Moreno als Ideengeber genannt wird. Dazu gehören seine Überlegungen zur Rollentheorie und zur Netzwerkforschung. Hier hat er theoretische Konzepte entwickelt, die „von anderen Forschungsrichtungen aufgegriffen und weitergeführt worden“ (Ameln und Kramer 2014, S. 158) sind, oftmals ohne sich explizit auf ihn zu beziehen. Dazu gehören u.a. der Einfluss der Rollentheorie auf die Rollentheorien der Soziologie und die Soziometrie als Instrument der empirischen Sozialforschung. Diese Konzepte bilden das Rückgrat der psychodramatischen Arbeit. In ihnen werden anhaltend schmerzhaft und leidvoll erfahrene Situationen erneut inszeniert. Nach Moreno wird durch diese erneute Inszenierung auf der Basis der von den Opfern erlebten Erfahrung für den Einzelnen (Protagonistenspiel) und für Gruppen (Soziometrie, Soziodrama) eine Auseinandersetzung und letztlich eine innere Distanzierung von den erlebten Erfahrungen ermöglicht.

In einem weiteren Schritt ist dann möglich, die eigentlichen Hoffnungen und Wünsche individuell, innerhalb einer Gruppe, aber auch zwischen Gruppen durch konkrete Handlungen zu ermöglichen. Die philosophischen Grundlagen beschreiben zum einen die Grundhaltung eines Psychodramatikers und zum anderen die systematisierten Interpretationen nicht nur für die konkrete psychodramatische Arbeit, sondern auch um politische, gesellschaftliche und soziale Handlungen und Vorgänge zu verstehen.

„Die therapeutische Weltordnung schlichtet Streitigkeiten zwischen Individuen und Gruppen unter den Regeln der Therapie anstatt unter den Regeln des Gesetzes.“ Sie folgt dem Prinzip „Ein Mensch als der therapeutische Anwalt des anderen, eine Gruppe als die therapeutische Anwältin der anderen Gruppe; […]. Um selbst frei zu sein und eine stabile Stellung innerhalb einer Gemeinschaft zu erlangen, muss der Mensch anderen helfen und sich helfen lassen. Eine therapeutische Weltordnung muss gleichzeitig autonom und gleichzeitig abhängig sein. Sie ist […] eine Welt, die so gebaut ist, dass alle Individuen, die kreativen und starken ebenso wie die schwachen, wirksam leben können.“ (Hutter und Schwehm 2009, S. 172–174)

Das Zitat verdeutlicht, dass Moreno

  • den Menschen nicht als isoliertes Individuum, sondern immer als Teil eines sozialen Netzwerks betrachtete (Soziales Atom);
  • den Menschen in seinen individuellen und gesellschaftlichen Prägungen sah;
  • die individuelle Lebenswelt in ihrer Einbettung in politische und gesellschaftliche Strukturen und Vorgänge betrachtet hat;
  • psychodramatisch denkende Menschen auch ethisch und politisch im Sinne einer Parteilichkeit gefordert sah;
  • das Psychodrama nicht nur als ein psychotherapeutisches Verfahren, sondern auch als Handwerkszeug für ein gesellschaftliches und politisches Engagement ansah.

Im Folgenden kann diese Philosophie nur in wesentlichen Grundelementen skizziert werden. Für eine ausführliche Darstellung wird auf Grundlagenwerke verwiesen. (Hutter, Psychodrama als experimentelle Theologie 2000)

6.1 Philosophie

Das psychodramatische Projekt einer therapeutischen Weltordnung wird zentral durch das Anliegen der Begegnung bestimmt. Sie bestimmt inhaltlich den Weg zu einer therapeutischen Weltordnung, die echten Beziehungen zwischen Menschen und Gruppen jedweder Größe und jede Handlung bzw. jeder Vorgang aufgrund von psychodramatischen Interventionen stiftet. Begegnung ist für Moreno der Wirkfaktor, wenn heilende und gesunde Beziehungen zwischen Menschen zustande kommen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Moreno sich während seines ganzen Lebens mit Begegnung beschäftigt hat. Aufgrund der langen Zeitspanne ist es gleichzeitig ein vielschichtiger Begriff.

  1. Begegnung „bedeutet Zusammentreffen, Berührung von Körpern, gegenseitige Konfrontation, sich gegenüberzustehen, zu kämpfen und zu streiten, zu sehen und zu erkennen, sich zu berühren und aufeinander einzugehen, zu teilen und zu lieben, miteinander auf ursprüngliche, intuitive Art und Weise zu kommunizieren, durch Sprache oder Geste, Kuss und Umarmung, Einswerden“. (Moreno 1956, S. 27 f.);
  2. Der Begriff meint auch aggressive, ja feindselige und bedrohliche Beziehungen;
  3. Begegnung ist „ganzheitlich“: sie hat eine körperliche, eine emotionale und eine rationale Dimension;
  4. „Die Teilnehmer werden nicht durch eine äußere Macht in die Situation gedrängt“ (ebd.), sondern sie begegnen sich freiwillig;
  5. „Die Begegnung ist unvorbereitet, nicht strukturiert, nicht geplant, ungeprobt“ (ebd.).

6.2 Morenos Welt- und Menschenbild

„Der Ausgangspunkt für das Verständnis des psychodramatischen Menschenbilds ist Morenos Weltverständnis.“ (Ameln und Kramer 2014, S. 158) Für Moreno sind die „Urkräfte“ allen Lebens und des Kosmos Kreativität und Spontaneität. Sie stehen komplementär zueinander. Als „kosmische Kräfte bewirken sie sowohl Anziehung als auch Abstoßung. Insofern können sie auch zerstörerisch wirken. Kreativität steht für das schöpferische Prinzip, Spontaneität wirkt als Katalysator“ (ebd.), der der Kreativität eine Richtung gibt.

Diese Urkräfte sind zwar prinzipiell auch im Menschen angelegt. Gleichwohl stehen sie nicht automatisch dem Menschen zur Verfügung, sondern setzen eine Erwärmung voraus, um ihre Wirkung zu entfalten.

Kreativität und Spontaneität wirken in einem Zirkel. Der Mensch findet sich demnach immer wieder in Situationen vor, in denen kulturelle und gesellschaftliche Prägungen und Konventionen wirksam sind. Er ist diesen Prägungen und Konventionen aber nicht hilflos ausgeliefert, sondern kann verfestigte Verhaltensweisen (sog. Rollenkonserven) aufgeben und ein neues beziehungsstiftendes Verhalten entwickeln. Diese neuen Verhaltensweisen können sich zu neuen Konventionen entwickeln, die ihrerseits erneut den Zirkel aktivieren können.

Ein weiterer wesentlicher Baustein ist das „Tele“, ein schillernder Begriff, dem auch etwas Mystisches anhaftet und der deshalb auch unscharf ist. Die folgenden Ausführungen sind deshalb auch eher Annäherungen. Tele ist

  • ein ganzheitlicher Begriff, der eine emotionale und eine kognitive Dimension beschreibt, die sich immer auf die gesamte Persönlichkeit bezieht, der man in einer konkreten Situation begegnet.
  • letztlich das, was Begegnung zwischen Menschen und Gruppen im Sinne Morenos erst möglich macht. (Hutter, Psychodrama als experimentelle Theologie 2000, S. 100 f.). Es „kann […] als die Grundlage aller gesunden menschlichen zwischenmenschlichen Beziehungen angesehen werden.“ (Moreno 1959, S. 29)

Insofern meint er

  • mehr als Empathie oder Einfühlung in dem Sinne, als für Moreno diese Begriffe nur eine Richtung von der Person A zur Person B meint. Tele dagegen geschieht grundsätzlich in beide Richtungen.
  • darüber hinaus „ein gegenseitiges Innewerden der Persönlichkeit des anderen und seiner Befindlichkeit.“ (Ameln und Kramer 2014, S. 162) Es „beruht auf dem Gefühl und der Erkenntnis für die wirkliche Situation der anderen Personen.“ (ebd.)

Daraus ergibt sich, dass für Moreno der Mensch im soziologischen und ethischen Sinne nur als soziales Wesen lebt. Er positioniert sich damit gegen einen Individualismus, der den Menschen losgelöst von seinen sozialen Beziehungen betrachtet. Soziologisch steht der Mensch im Zentrum seines „Sozialen Atoms“. Dieses Soziale Atom umfasst alle für den Einzelnen relevanten, einschließlich der gewünschten Beziehungen zu anderen Menschen. Dieses Soziale Atom ist in einem soziometrischen Sinne abhängig von Kriterien, z.B. Arbeitsbeziehungen. Diese Beziehungen können sowohl positiv als auch negativ als auch neutral sein und beruhen auf (un)bewussten Wahlen. Ohne die ihn umgebenden Beziehungen ist der Mensch sozial tot.

Da jeder Mensch in diesem Sozialen Atom Teil seines eigenen „sozialen Atoms“ ist, ergibt sich daraus ein soziales Netzwerk, weil alle diese sozialen Atome miteinander verknüpft sind.

6.3 Interpretationsfolien (Buer)

Maßgeblich für die Interpretation der Erfahrungen auf der Bühne ist

  • die therapeutische Philosophie Morenos und
  • die verschiedenen maßgeblichen Wissenschaften (Psychologie, Sozialpsychologie, Soziologie, Theologie).

Für die therapeutische Philosophie wird hier die Rollentheorie herausgegriffen, weil es in der szenischen Arbeit des Psychodramas immer um Rollen geht und maßgeblich auch die Soziologie und die Sozialpsychologie beeinflusst hat.

Grundsätzlich ist der Mensch für Moreno ein Rollenwesen in dem Sinne, dass der Mensch ständig in seinen Handlungen in Rollen wahrnimmt. Rollen gibt es nach Moreno in mehreren Dimensionen (Zeintlinger-Hochreiter 1996):

  • Soziokulturell geprägte Rollen. Gemeint sind im oben beschriebenen Beispiel (Chef, Mann, Angestellte, Mutter, Kind, Kollege) Rollen, die gesellschaftlich geprägt mit Erwartungen verbunden sind, von denen man sich nur begrenzt lösen kann;
  • der Mensch eignet sich durch die Sozialisation Handlungsmuster an, die er allerdings individuell ausgestalten kann – oder auch nicht. Ziel des Psychodramas ist, diese Gestaltungsmöglichkeiten zu erweitern.
  • Rolle als tatsächliches Handeln: in allen sozialen Handlungen nimmt der Mensch Rollen wahr. Er ist dabei auf angemessene Komplementärrollen bei seinem Gegenüber angewiesen, damit es zu sinnvollen Interaktionen kommt. In diesen Interaktionen nimmt der Mensch nicht nur eine Rolle wahr, sondern bestimmte Rollen sind sofort wahrnehmbar, gleichzeitig aber wirken andere Rollen mit ein. Unser Beispiel zeigt z.B. auch intrapsychische Konflikte mit ihren Auswirkungen auf den Konflikt zwischen Frau F. und ihrem Chef. Frau F. gelingt es nicht, die Rolle der Mutter mit der der Angestellten in Kongruenz zu bringen. (Hypothese: Dies hat in der Sozialisation begründete Ursachen.)

Neben den spezifisch psychodramatisch geprägten Interpretationen kommen auch Interpretationen der verschiedenen Fachwissenschaften zum Tragen. In unserem Beispiel kann dies z.B. die Soziologie sein, die genauer nach den Prägungen und Narrativen der Lebenswelten der Akteure fragt, mit denen sich die Handlungsweisen und Entscheidungen erklären lassen.

7 Anwendungen

Die psychodramatischen Formen Protagonistenspiel, Soziodrama und Soziometrie werden neben der Gruppenpsychotherapie, auch in anderen Feldern eingesetzt, z.B. (Ameln und Kramer 2014):

Die dahinterstehenden institutionellen Rahmungen beeinflussen die konkrete Anwendung des Verfahrens maßgeblich; aber auch umgekehrt: die Philosophie des Psychodramas beeinflusst durch seine Anwendung diese institutionellen Rahmungen und die dort geltenden Prinzipen.

8 Abgrenzungen

Mit dem Psychodrama verwandte, also ähnliche Verfahren oder Verfahren, die Elemente des Psychodramas aufgreifen und eigenständig weiterführen, sind:

  • das Playback-Theater
  • das Forum-Theater
  • das Mythodrama

9 Quellenangaben

Aichinger, Alfons und Walter Holl, 1997. Psychodrama – Gruppentherapie mit Kindern. Mainz: Grünewald. ISBN 978-3-7867-2001-0

Ameln, Falko und Josef Kramer, 2014. Psychodrama: Grundlagen (Bd. 1). Berlin, Heidelberg: Springer. ISBN 978-3-6424-4920-8

Ameln, Falko und Josef Kramer, 2014. Psychodrama: Praxis (Bd. 2). Berlin Heidelberg: Springer. ISBN 978-3-6424-4937-6

Buer, Ferdinand und Elisabeth Tanke Sugimoto, 1994. PsychoDrama. In Ferdinand Buer, Hrsg.Jahrbuch für Psychodrama, psychosoziale Praxis & Gesellschaftspolitik. Opladen: Leske & Budrich, S. 119–140. ISBN 978-3-8100-1188-6

Hutter, Christoph, 2000. Psychodrama als experimentelle Theologie. Münster: Lit. ISBN 978-3-8258-4666-4 [Rezension bei socialnet]

Hutter, Christoph und Helmut Schwehm, 2009. Grundorientierung. In Christoph Hutter und Helmut Schwehm, Hrsg. J. L. Morenos Werk in Schlüsselbegriffen. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 172–175. ISBN 978-3-5311-9593-3

Moreno, Jacob L., 1956. Philosophy of the Third Psychiatric Revolution. In Frieda Fromm-Reichmann und Jacob L. Moreno, Hrsg. Progress in Psychotherapy I. Grune & Stratton: New York, S. 24–53

Moreno, Jacob L. 1959. Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Stuttgart: Thieme

Schaller, Roger, 2009. Stellen Sie sich vor, Sie sind… Das Ein-Person-Rollenspiel in Beratung, Coaching und Therapie Bern: Huber. ISBN 978-3-456-84670-5 [Rezension bei socialnet]

Zeintlinger-Hochreiter, Karoline, 1996. Kompendium der Psychodrama-Therapie. Köln: inScenario. ISBN 978-3-9292-9604-4

10 Literaturhinweise

Ameln, Falko und Josef Kramer, 2014. Psychodrama: Grundlagen (Bd. 1). Berlin, Heidelberg: Springer. ISBN 978-3-6424-4920-8

Ameln, Falko und Josef Kramer, 2014. Psychodrama: Praxis (Bd. 2). Berlin Heidelberg: Springer. ISBN 978-3-6424-4937-6

Hutter, Christoph und Helmut Schwehm, Hrsg. J. L. Morenos Werk in Schlüsselbegriffen. Wiesbaden: VS-Verlag. ISBN 978-3-5311-9593-3

11 Informationen im Internet

Verfasst von
Thomas Wittinger
Mailformular

Es gibt 19 Lexikonartikel von Thomas Wittinger.

Zitiervorschlag
Wittinger, Thomas, 2023. Psychodrama [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 03.10.2023 [Zugriff am: 09.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/853

Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Psychodrama

Urheberrecht
Dieser Lexikonartikel ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion des Lexikons für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.