Psychosoziale Diagnostik
Prof. Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner, Prof. Dr. Helmut Pauls
veröffentlicht am 24.08.2020
Psychosoziale Diagnostik untersucht zu Beginn, im Verlauf und am Ende von sozialarbeiterischen, psychologischen und/oder sozialpsychiatrischen Maßnahmen, „was der Fall ist“.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Was ist psychosoziale Diagnostik?
- 3 Wozu psychosoziale Diagnostik?
- 4 Formen psychosozialer Diagnostik
- 5 Vorgehen psychosozialer Diagnostik
- 6 Schluss und Ausblick
- 7 Anmerkung
- 8 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Psychosoziale Diagnostik „hat zum Ziel, bio-psycho-soziale Lebenslagen, Lebensweisen und Lebenskrisen und deren Veränderungen unter den jeweils gegebenen Kontextbedingungen zu verstehen, um psychosoziale Intervention fachlich zu begründen. […] Ausgangspunkt für dialogisch orientiertes Fallverstehen ist das Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Beeinträchtigung als biografisch und in soziokulturellen Milieus verankert […]. Eine im Interventionsprozess brauchbare psychosoziale Diagnostik ist daher eine lebens-, subjekt- und situationsnahe Diagnostik, die in einer Perspektiven-Verschränkung von Subjekt und Struktur klassifikatorische Diagnostik berücksichtigt, jedoch insbesondere Aspekte der Biografie und Lebenswelt zusammenträgt, um für biografische Aneignungsprozesse und Anschlussmöglichkeiten geeignet zu sein“ (Gahleitner und Pauls 2017, S. 680).
Nach definitorischer Einordnung werden Ziele, Ablauf, Funktionen und Formen psychosozialer Diagnostik bestimmt. Das Vorgehen beinhaltet i.d.R. die multidimensionale Erfassung von Situationen, Ereignissen, Belastungen und Ressourcen der Klientel. Diagnostisches Fallverstehen wird konkretisiert und in den interdisziplinären Kontext der Fallarbeit eingeordnet (auch im Hinblick auf Klassifikationssysteme). Abschließend wird auf die Bedeutung sozialpathologischer Risikofaktoren sowie die komplexe biopsychosoziale Verschränkung der „person-in-environment“ hingewiesen.
2 Was ist psychosoziale Diagnostik?
Psychosoziale Diagnostik untersucht zu Beginn, im Verlauf und am Ende von sozialarbeiterischen, psychologischen und/oder sozialpsychiatrischen Maßnahmen, „was der Fall ist“ [1]. Erleben, Verhalten, Situation und Ereignis, Beziehung und systemischer Kontext werden in der psychosozialen Diagnostik als Anteile der Person-Umwelt-Transaktionen herausgearbeitet. Psychosoziale Diagnostik hat das Ziel, Lebenslagen, Lebensweisen und Lebenskrisen und deren Veränderungen sowie die Gesundheitssituation von Individuen, Paaren, Familien und Gruppen unter den jeweils gegebenen Kontextbedingungen zu analysieren, einzuordnen und zu verstehen. Dabei kann es notwendig werden, die in der beruflichen Praxis häufig multiplen Problemstellungen in bearbeitbare Teilprobleme zu strukturieren, um sie dann interventionsbezogen in der (oft interdisziplinären) Fallarbeit zu planen, fachlich zu begründen, zu bearbeiten und/oder die Zielerreichung zu evaluieren.
Psychosoziale Diagnostik geschieht im Rahmen kommunikativer Prozesse zwischen Fachkraft und KlientIn. Sie ist zugleich ein zentrales und unverzichtbares Element jeder psychosozialen Intervention. Insofern ist sie Bestandteil der Grundformen von sozialen, sozial beratenden bzw. sozialtherapeutischen Interventionen der Sozialen Arbeit bzw. Klinischen Sozialarbeit, von psychologisch-psychotherapeutischen Interventionen der Psychologie und vielen Problemstellungen in medizinisch-psychiatrischen Hilfen und ihren Methoden zugeordnet. Als permanenter Bestandteil jeder Phase „durchwirkt“ sie den Interventions- bzw. Hilfe- bzw. Behandlungsprozess (Pantuček und Röh 2009).
Insofern ist der Begriff der psychosozialen Diagnostik zunächst sehr umfassend zu verwenden als Bezeichnung für den Prozess und das „Produkt“ der Erhebung. Angesprochen sind hier sowohl Anamnese und Exploration, Tests, Beobachtungs- und Fragebogenverfahren (als Elemente der Datenerhebung) als auch psychosozialer Befund und psychosoziale Diagnose (als Ergebnis bzw. Produkt von Datenerhebung, -auswertung und -interpretation) sowie die darauf basierende Zielbestimmung und Interventionsplanung. Ohne eine hinreichende Betrachtung der individuellen Faktoren ist dieser komplexe Anspruch ebenso wenig einzulösen wie durch eine zu enge Fokussierung auf psychophysische Aspekte. Das macht Soziale Arbeit an dieser Stelle zu einer wichtigen Quellprofession für diesen Bereich (zur Historie psychosozialer Diagnostik Buttner et al. 2018).
3 Wozu psychosoziale Diagnostik?
Beim psychosozialen Befund steht die beschreibende Analyse von Erlebens- und Verhaltensweisen der Person in ihrer Lebenssituation (person-in-environment) im Vordergrund: z.B. die realen Lebensbedingungen im Alltag (Wohnen, Arbeit und Einkommen, Nachbarschaft), ihre je eigene Art, Interessen durchzusetzen, ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen und mit Konflikten umzugehen, ihre Sichtweise auf die Welt und ihre Umgebung, ihre Überzeugungen und Werte, ihre gefühlsmäßige Grundgestimmtheit, ihre Lebensplanung. Bei der psychosozialen Diagnose geht es um die Erklärung von Verhalten und Erleben in ihrer Wechselwirkung mit der realen Lebenssituation. Erklärungen beziehen sich darauf, auf welche Entstehung bzw. Ursachen sich die beschriebenen problemrelevanten Erlebens- und Verhaltensweisen zurückführen lassen. Es geht z.B. darum, warum ein Klient schlechte Schulleistungen hat, wenig Kontakte eingeht, von der Umgebung abgelehnt wird, mit den Anforderungen des Lebens nicht zurechtkommt oder keine intensiven Bindungen eingehen will, wie es also jeweils dazu gekommen ist.
Es geht darum, im Einzelfall ein Arbeitsmodell zu entwickeln, das der Mehrdimensionalität der biopsychosozialen Problemstellungen und dem Schnittstellencharakter zwischen psychischen, sozialen, alltagssituativen und gesundheitlichen Dimensionen gerecht wird (z.B. das unten kurz ausgeführte „Diagnostische Fallverstehen“). Die Notwendigkeit psychosozialer Beratungs- und Behandlungsmaßnahmen muss gegenüber KlientInnen bzw. PatientInnen und Kostenträgern begründet werden. Damit ist psychosoziale Diagnostik ein wesentliches Qualitätskriterium biopsychosozialer Fallarbeit: Das Vorgehen muss über den gesamten Verlauf gegenüber Betroffenen und Kostenträgern nachvollziehbar gemacht werden, seine Effekte im Verlauf müssen dokumentiert werden. Ebenso muss für KlientInnen bzw. PatientInnen die Herausarbeitung und Benennung der jeweiligen Inhalte der psychosozialen Hilfe bzw. Behandlung gewährleistet sein: Sie erhalten Einsicht in Zusammenhänge zwischen ihren Problemen, ihrer Lebenslage bzw. -situation, ihren Beziehungen und ihrem Verhalten und Erleben. Insofern ist die psychosoziale Diagnostik eine zentrale Komponente des „informed consent“ und sollte im Prozess stets Selbstaneignungsprozesse für die AdressatInnen ermöglichen (Abb. 1).
4 Formen psychosozialer Diagnostik
Zur Klärung der verschiedenen Formen psychosozialer Diagnostik lassen sich folgende Aspekte unterscheiden:
- intuitive Diagnostik versus methodenbasierte Diagnostik
- Statusdiagnostik versus Prozessdiagnostik
- Eingangsdiagnostik versus interventionsorientierte Diagnostik
- normorientierte Diagnostik versus kriteriumsorientierte Diagnostik
- individuumorientierte Diagnostik versus systemorientierte Diagnostik
Zu (1). Intuitive versus methodenbasierte und rational fundierte Diagnostik: In der psychosozialen Praxis finden wir häufig mehr oder weniger intuitive Formen diagnostischer Vorgehensweisen und Schlussfolgerungen. Demgegenüber ist in wissenschaftlich fundierter psychosozialer Fallarbeit eine rational fundierte und methodenbasierte Diagnostik notwendig. Einzubeziehen ist, dass auf die erfahrungs- und wissensbasierte Intuition der Fachkraft angesichts der enormen Komplexität der Aufgabenstellungen nicht verzichtet werden kann. Allerdings muss sie sich methodisch auch hinterfragen lassen.
Zu (2). Eine weitere begriffliche Unterscheidung finden wir in der Statusdiagnostik und Prozessdiagnostik. Statusdiagnostik zielt auf die Abklärung der je gegenwärtigen relevanten Dimensionen ab (z.B. Ereignisse, Umfeldbedingungen, psychische Dimensionen, Beziehungsverhältnisse). Prozessdiagnostik versucht Veränderungsprozesse zu erfassen und zu bewerten, die sich beispielsweise im Verlauf einer Maßnahme zeigen (oder zeigen sollten).
Zu (3). Eingangsdiagnostik (bzw. Zuweisungsdiagnostik nach Heiner 2013, S. 23) erfasst relevante Merkmale zu Beginn einer Maßnahme. In vielen klinischen Arbeitsfeldern ist eine Diagnose in der interdisziplinären Kooperation notwendig und Voraussetzung für die Kostenübernahme durch Kostenträger. Der Abklärungsprozess zu Interventionsbeginn dient dem Ziel herauszufinden, ob und wie die Problematik der KlientInnen bzw. PatientInnen in der Einrichtung angemessen bearbeitet bzw. behandelt werden kann. Interventionsorientierte Diagnostik (auch Gestaltungsdiagnostik nach Heiner 2013, S. 23) soll dagegen Informationen erarbeiten, die für die Zielbestimmung, die Strategie des Vorgehens und die einzusetzenden Interventionsmethoden und -techniken in ihrer Wirkung auf die Klientel bzw. das Klientelsystem brauchbar sind. Die Grundfrage der Eingangsdiagnostik lautet: Was ist der Fall? Die Frage einer interventionsbezogenen Diagnostik lautet: Was ist zu tun?
Zu (4). Ein weiterer Unterschied liegt zwischen normorientierter und kriteriumsorientierter Diagnostik. Normorientierte Diagnostik ordnet die Merkmale eines Individuums ihrer Position einer Vergleichspopulation in Bezug auf statistische Normen zu. Normbezogene klassifikatorische Diagnostik (z.B. nach dem DSM-5 oder ICD-10) ermöglicht es, die Symptome von KlientInnen bzw. PatientInnen einer Diagnose zuzuordnen und damit eine Suchrichtung für wichtige störungsspezifische Entscheidungen und Vorgehensweisen zu erhalten. Kriteriumsorientierte Diagnostik vergleicht die Merkmale der ProbandInnen mit bestimmten gesetzten Kriterien, die erreicht werden (sollen). Beispielsweise könnte die Frage sein, ob und wann im Verlaufe einer sozialtherapeutischen Maßnahme ein/e KlientIn bestimmte vorher festgelegte Funktionen der Selbstständigkeit erreicht, die durch definierte „messbare“ Kriterien bestimmt sind (z.B. regelmäßig rechtzeitig allein morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen).
Zu (5). Eine letzte Unterscheidung liegt in individuumorientierter und systemorientierter Diagnostik. Während individuumorientierte Diagnostik die Person in den Mittelpunkt stellt, befasst sich systemorientierte Diagnostik mit den Beziehungen zwischen Person und Umgebung. Beide Formen haben insbesondere in der Klinischen Sozialarbeit eine wechselseitig ergänzende Funktion. Die auf das Individuum gerichtete Diagnostik basiert auf theoretischen Annahmen und Befunden zu einer spezifischen psychischen bzw. sozialen Problematik oder Behinderung (z.B. dissoziale und Borderlineproblematiken) und ist in der psychiatrischen Arbeit zentral. Die systemorientierte Diagnostik spielt in der Sozialen Arbeit eine zentrale Rolle und arbeitet mit Netzwerk- und sozialen Unterstützungsinstrumenten (Kupfer 2018; Nestmann 2010).
5 Vorgehen psychosozialer Diagnostik
In der (klinisch-)sozialarbeiterisch orientierten psychosozialen Diagnostik geht es prinzipiell um die multidimensionale Erfassung von problem- bzw. störungsrelevanten Merkmalen von konkreten Situationen und Ereignissen bzw. um Belastungen und Ressourcen der in konkreten situativen Kontexten lebenden und handelnden Personen. Dazu gehören psychische ebenso wie soziale und gesundheitliche Bedingungen: Defizite, Verluste, Störungen, Konflikte und Traumatisierungen, psychosoziale und materielle Ressourcen, belastende und förderliche Umweltbedingungen und psychische Kompetenzen, die mildernd, korrigierend und kompensierend wirken. Es ist daher ein Vorgehen gefragt, das „an der Schnittstelle zwischen psychischen, sozialen, medizinischen und alltagssituativen Dimensionen einen gezielten Blick auf alle diese Phänomene wirft“ (Gahleitner und Pauls 2017, S. 680).
In den letzten Jahren haben sich dafür einige Konzepte in der Sozialen Arbeit etabliert (Buttner et al. 2018, Abschnitt C), für den psychosozialen Bereich insbesondere das „Diagnostische Fallverstehen“ (zur Begrifflichkeit Heiner 2013; zum Inhalt Gahleitner et al. 2018). Der Prozess des Diagnostischen Fallverstehens lässt sich über folgende Fragestellungen fassen:
- Was ist die genaue Problematik, was sind die Defizite bzw. Ressourcen auf der individuellen Ebene?
- Wie hat sich die Biografie vollzogen (einschließlich entwicklungsbedingter Bedürfnisse, Belastungen bzw. Stressoren, die mit Veränderungen in der Entwicklung zusammenhängen – sog. „life transitions“)?
- Wie gestalten sich die Lebenswelt, die Lebenssituation und das Lebensumfeld, über welche Bewältigungsmöglichkeiten verfügt der/die KlientIn, welche Ressourcen sind verfügbar, und über welche Unterstützungsmöglichkeiten verfügen signifikante Andere (z.B. Familie, Umfeld, Peers)? Dazu gehört auch: Welche relevanten Systeme sind in die Problematik involviert, und wie ist die Natur der wechselseitigen Transaktionen zwischen AdressatInnen und diesen Systemen?
Zu (1). Mit zunehmender psychosozialer Diagnostik im Rahmen (klinisch-) sozialarbeiterischer Hilfen hat Klinische Sozialarbeit auch einen organisationsbezogenen Aspekt. Meist ist die Fachkraft Mitglied eines interdisziplinären Teams (z.B. in einer Beratungsstelle, einer sozialpsychiatrischen Einrichtung, einer Klinik), und ihre diagnostischen Bemühungen sind Teil eines gemeinschaftlichen Konzepts von Medizin bzw. Psychiatrie, Pflege, Sozialarbeit, Psychologie bzw. Psychotherapie. In diesem Fall ist die Beherrschung interdisziplinärer Terminologie und diagnostischer Klassifikation sehr wichtig. Klassifikationssysteme sind als kumuliertes verdichtetes Fachwissen für viele Bereiche psychosozialer Arbeit verbindlich, da sie grundlegende Voraussetzung für Behandlungsentscheidungen sind, selbst wenn sie – kritisch betrachtet – immer auch Normalitätskonstruktionen transportieren. Inzwischen wurden neben den ausschließlich medizinisch geprägten Systemen wie der International Classification of Diseases (ICD-10 bzw. 11) der WHO auch Klassifikationssysteme für den stärkeren Einbezug sozialer Dimensionen entwickelt (ICF [International Classification of Functioning, Disability and Health]; PIE [Person-in-Environment Klassifikations-System]).
Zu (2). Der gesamtbiografische Prozess und dessen Bewältigungsanforderungen oder -möglichkeiten darf jedoch keinesfalls aus dem Blick geraten und muss rekonstruktiv, also subjekt- und biografierorientiert, an den Selbstdeutungen der Klientel anknüpfen. Jede Entwicklungsstufe stellt KlientInnen vor neue Anforderungen, deren Wahrnehmung und Bewältigung durch die Geschichte der vorangegangenen Erfahrungen – wie durch ein Prisma „aktiv wirkender Biografie“ (Röper und Noam 1999, S. 241) – geprägt sind. Die Verfahren der psychosozialen Praxis hierzu sind vielfältig: Methoden wie das „Lebenspanorama“ der Integrativen Therapie und Beratung eher im bildhaft-symbolischen Raum (z.B. Petzold et al. 2000, S. 486). Die Tradition der sozialpädagogischen Diagnostik hat eine Fülle von Verfahren hervorgebracht (u.a. Ader und Schrapper 2018 sowie Fischer und Goblirsch 2018). Krautkrämer-Oberhoff (2013) beschreibt die Arbeit mit Lebensbüchern. All diese Verfahren erweisen sich in diesem Kontext als eine behutsame Herangehensweise, um Bewältigungsverhalten und Selbstverstehensprozesse zu fördern (konkretes Praxisbeispiel inkl. bindungsdiagnostischer Ausführungen Gahleitner und Dangel 2018a).
Zu (3). Mithilfe ebenfalls rekonstruktiv orientierter lebensweltorientierter Diagnostik wird der Fokus auf ‚sozialpathologische‘ Risikofaktoren und Dynamiken gelegt, die im Rahmen psychologischer und psychiatrischer Diagnostik häufig verloren gehen: auf ökonomische und soziale Deprivation bzw. Armut, Agismus, Rassismus, Sexismus – die Soziogenese von Krankheit und Gesundheit. Um das Verhältnis zwischen Subjekt, Milieu und strukturierender Außenwelt zu erfassen, muss psychosoziale Diagnostik in der Lage sein, Lebenswelt-, Lebensumfeld- und lebenssituative Aspekte zu erfassen. Bewährte sozialdiagnostische Instrumente wie das soziale Netzwerkinventar, Genogramme oder Ecomaps bieten die Möglichkeit, das Umfeld und die beteiligten Institutionen des Hilfenetzwerks in die Diagnostik zu integrieren. Eine schöne Einstiegsmöglichkeit in diesen Bereich sind die „Säulen der Identität“ (z.B. Petzold et al. 2000, S. 486), mit denen auf einer kreativen Ebene die Person in der Lebenssituation (person-in-environment) zum Ausdruck gebracht werden kann (Gahleitner und Dangel 2018c). Vertiefend können Soziale Atome genutzt werden (ebd.).
Es muss gelingen, „fallverstehend Komplexität abzubilden, in der Summe jedoch auf eine Strukturierung der komplexen Verschränkung biologischer, psychischer und sozialer Prozesse und Strukturen in ihrer Bedeutung für Gesundheit und Wohlbefinden hinauszulaufen […] mit dem Ziel einer eigenständigen und fruchtbaren Verknüpfung der bei diagnostischen Prozessen unauflöslichen Ambivalenz von Komplexitätsgewinnung und Komplexitätsreduktion“ (Gahleitner und Pauls 2017, S. 680). Zur „Objektivierung“ und Systematisierung der Gesamtinformation eignen sich die von Pauls (2011/2013, S. 205–211) vorgeschlagenen Koordinaten psychosozialer Diagnostik und Intervention (an einem Beispiel Gahleitner und Dangel 2018b). Dialogisch und prozessual orientiert, fördert das Vorgehen Selbstaneignungsprozesse und ist zugleich auch immer schon Intervention, um der (un)sozialen Chancenstruktur und den bis in das Selbsterleben und in die Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien vorgedrungenen psychosozialen Beeinträchtigungen angemessen begegnen – und damit auf Inklusionsprozesse hinwirken – zu können.
6 Schluss und Ausblick
Die Ansprüche an die Diagnostik in der Sozialen Arbeit sind gewachsen. So besteht z.B. eine bis heute als Herausforderung zu betrachtende Aufgabenstellung in der Abklärung der „Teilhabebeeinträchtigung“ bei dem zweigliedrigen Verfahren zur Feststellung einer (drohenden) „seelischen Behinderung“ (gemäß § 35a SGB VIII), resultierend aus einer diagnostizierten psychischen Störung bzw. Funktionsbeeinträchtigung. Die letztendliche Feststellung ist Teil der Diagnostik in den Sozialen Diensten und wird von den Jugendämtern verantwortet. Oft jedoch nehmen Fachkräfte der Sozialen Arbeit diesen Spielraum zu wenig wahr. Tatsächlich jedoch hat sich die Soziale Arbeit in den letzten beiden Jahrzehnten dem Thema Diagnostik intensiv angenommen. In zahlreichen Foren wurden sozialdiagnostische Verfahren zur Diskussion gestellt und die Ergebnisse über Veröffentlichungen zugänglich gemacht (Überblick Buttner et al. 2018). Es bleibt zu hoffen, dass eine selbstbewusste biopsychosoziale und transdisziplinäre Kompetenz als Kennzeichen einer „originären sozialarbeiterischen Berufsidentität“ (Mühlum und Gahleitner 2008, S. 49) Sozialarbeitenden die professionelle Zuwendung zu originär sozialdiagnostischen Aufgabenstellungen verschafft, die aus der Praxis heraus dringend benötigt wird.
7 Anmerkung
[1] Der Artikel basiert auf mehrjährigen Überlegungen und Konzeptualisierungen zum Thema und beruht daher inhaltlich auf einer Reihe vorangegangener Publikationen (insbesondere Gahleitner et al. 2020; Gahleitner et al. 2008; Gahleitner und Pauls 2013; Gahleitner et al. 2018; Pauls 2011/2013).
8 Quellenangaben
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Fischer, Wolfram und Martina Goblirsch, 2018. Narrativ-biografische Diagnostik. In: Peter Buttner, Silke Birgitta Gahleitner, Ursula Hochuli Freund und Dieter Röh, Hrsg. Handbuch Soziale Diagnostik: Perspektiven und Konzepte für die Soziale Arbeit. Berlin: Deutscher Verein. Hand- und Arbeitsbücher, Bd. 24, S. 246–254. ISBN 978-3-7841-3029-3 [Rezension bei socialnet], e-ISBN 978-3-7841-3030-9
Gahleitner, Silke Birgitta und Lucia Dangel, 2018a. Biografiediagnostik anhand des Lebenspanoramas und des Erwachsenenbindungsinterviews. In: Peter Buttner, Silke Birgitta Gahleitner, Ursula Hochuli Freund und Dieter Röh, Hrsg. Handbuch Soziale Diagnostik: Perspektiven und Konzepte für die Soziale Arbeit. Berlin: Deutscher Verein. Hand- und Arbeitsbücher, Bd. 24, S. 353–358. ISBN 978-3-7841-3029-3 [Rezension bei socialnet], e-ISBN 978-3-7841-3030-9
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Gahleitner, Silke Birgitta und Lucia Dangel, 2018c. Lebensweltdiagnostik anhand der Säulen der Identität. In: Peter Buttner, Silke Birgitta Gahleitner, Ursula Hochuli Freund und Dieter Röh, Hrsg. Handbuch Soziale Diagnostik: Perspektiven und Konzepte für die Soziale Arbeit. Berlin: Deutscher Verein. Hand- und Arbeitsbücher, Bd. 24, S. 359–364. ISBN 978-3-7841-3029-3 [Rezension bei socialnet], e-ISBN 978-3-7841-3030-9
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Verfasst von
Prof. Dr. phil. habil. Silke Birgitta Gahleitner
Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit für den Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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Zitiervorschlag
Gahleitner, Silke Birgitta und Helmut Pauls,
2020.
Psychosoziale Diagnostik [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 24.08.2020 [Zugriff am: 25.01.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/864
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Psychosoziale-Diagnostik
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