Psychosoziale Prozessbegleitung
Prof. Dr. Klaus Riekenbrauk
veröffentlicht am 01.04.2022
Die Psychosoziale Prozessbegleitung ist eine besondere Form der nicht rechtlichen Begleitung im Strafverfahren für besonders schutzbedürftige Verletzte, also Opfer von Straftaten – vor, während und nach der Hauptverhandlung.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Rechtsgrundlage
- 3 Qualifikation
- 4 Grundsätze
- 5 Beiordnung
- 6 Befugnisse
- 7 Quellenangaben
1 Zusammenfassung
Seit den 1980er-Jahren wird die Rechtsstellung des Opfers bzw. der verletzten Person (§ 373b StPO) einer Straftat in der jeweiligen Rolle als bezeugende Person oder Nebenkläger:in stetig erweitert, die aktive Stellung bei der Strafverfolgung und der Schutz der Persönlichkeitsrechte im Strafverfahren gestärkt. Das 3. Opferrechtsreformgesetz von 2015 verfolgt diesen Weg konsequent weiter. Grund für die Erweiterung des Opferschutzes war die EU-Opferschutzrichtlinie vom 25.10.2012 und die Einsicht, dass schwer belastete Verletzte, insbesondere Kinder und Jugendliche, einer psychosozialen Unterstützung im Strafverfahren bedürfen. Mit den Regelungen in § 406g StPO (Strafprozessordnung) sowie dem Gesetz über die psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren und den ländereigenen Ausführungsbestimmungen werden insbesondere die Rechtsstellung, die Befugnisse, die Qualifikation, die Beiordnung sowie die Vergütung der Psychosozialen Prozessbegleiter:innen im Einzelnen normiert.
Im Idealfall begleiten die Fachkräfte von Beginn des Strafverfahrens an die Verletzten, also von der Strafanzeige bis zum rechtskräftigen Urteil, indem sie mit Informationen über das Strafverfahren und seine Beteiligten sowie einer psychosozialen Betreuung zur Entlastung der zum Teil traumatisierten Opfer beitragen. Dabei ist die Tätigkeit der Prozessbegleiter:innen strikt von der rechtlichen Vertretung durch Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen als Nebenklagevertreter:innen zu trennen, die über eine Vielzahl von prozessualen Befugnissen Einfluss auf das Strafverfahren nehmen können. Auch sind die Grundsätze eines rechtsstaatlich geprägten Strafprozesses wie z.B. die Unschuldsvermutung und die Rechte des Beschuldigten und der Verteidigung zu beachten (Riekenbrauk und Temme 2022). Für die besonders schutzbedürftigen Verletzten, insbesondere für Kinder und Jugendliche, sieht das Gesetz die Möglichkeit der gerichtlichen Beiordnung vor, mit der die Prozessbegleitung für die Betroffenen kostenfrei bleibt.
2 Rechtsgrundlage
Auf der Grundlage der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten (2012/29/EU) war die Bundesrepublik verpflichtet, bis zum 16. November 2015 diese Opferschutzrichtlinie in nationales Recht umzusetzen. Im Regierungsentwurf zu dem Gesetz zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren (3. Opferrechtsreformgesetz), der die Umsetzung der EU-Richtlinie zum Gegenstand hat, wurde darauf hingewiesen, dass über die eigentliche Richtlinienumsetzung hinaus das geltende Instrumentarium der Opferschutzregelungen in einzelnen Bereichen erweiterungsbedürftig ist. Nach Ansicht der Bundesregierung galt dies insbesondere für das Gebiet der PSPB, „deren bislang lediglich rudimentäre Regelung ihrer aktuellen Bedeutung in der Praxis nicht mehr gerecht wird“ (BR-Drs. 56/15, S. 2).
Auch die 85. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom Juni 2014 hatte bereits die gesetzliche Ausgestaltung der PSPB beschlossen und sich dabei auf den Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe bezogen, die von der 83. Justizminister:innenkonferenz im Juni 2012 eingesetzt worden war.
Im Rahmen des 3. Opferrechtsreformgesetzes sind neben der Vorschrift von § 406g StPO in einem eigenen „Gesetz über die psychosoziale Prozessbegleitung im Strafverfahren (PsychPbG)“ die Grundsätze, die Anforderungen an die Qualifikation und die Vergütung geregelt; daneben beinhaltet die neue Fassung von § 406g StPO die Rechte der Verletzten in Bezug auf den Beistand der Prozessbegleiter:innen, deren Befugnisse im Strafverfahren, die Voraussetzungen für eine Beiordnung und den Verweis auf die Bestimmungen des PsychPbG (BGBl I, S. 2525). Des Weiteren ist in Art. 3 des Opferrechtsreformgesetzes eine Ergänzung des Gerichtskostengesetzes erfolgt, in dem die Kosten für die Beiordnung für die einzelnen Verfahrensabschnitte geregelt sind. Schließlich sieht der neu gefasste § 406i Abs. 1 StPO vor, dass Verletzte frühzeitig, regelmäßig schriftlich und in einer für sie verständlichen Sprache von ihrem Recht auf u.a. eine Beiordnung einer Psychosozialen Prozessbegleitung unterrichtet werden (BGBl I, S. 2525).
Nach einstimmiger Verabschiedung des 3. Opferrechtsreformgesetz durch den Bundestag und Zustimmung des Bundesrates traten das PsychPbG sowie die Vorschriften in der StPO über die PSPB am 01.01.2017 in Kraft. Im weiteren Verlauf wurden dann noch von den Bundesländern in landeseigenen Gesetzen und Verordnungen Ausführungsvorschriften insbesondere zur Qualifikation der Prozessbegleiter:innen geschaffen.
3 Qualifikation
In § 3 PsychPbG werden die Anforderungen an die Qualifikation der Prozessbegleiter:innen benannt; danach müssen diese fachlich, persönlich und interdisziplinär qualifiziert sein (§ 3 Abs. 1 PsychPbG). Für die fachliche Qualifikation sind zum einen ein Hochschulabschluss im Bereich Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Pädagogik, Psychologie oder eine abgeschlossene Berufsausbildung sowie berufspraktische Erfahrungen in einem dieser Bereiche und der Abschluss einer von einem Land anerkannten Aus- oder Weiterbildung zur Psychosozialen Prozessbegleitung erforderlich (§ 3 Abs. 2 PsychPbG).
Weiterhin verlangt § 3 Abs. 3 PsychPbG, dass die Prozessbegleiter:innen die notwendige persönliche Qualifikation in eigener Verantwortung sicherstellen; dazu gehören insbesondere Beratungskompetenz, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Belastbarkeit sowie organisatorische Kompetenz.
Als interdisziplinäre Qualifikation ist nach § 3 Abs. 4 PsychPbG insbesondere ein zielgruppenbezogenes Grundwissen in Medizin, Psychologie, Viktimologie, Kriminologie und Recht erforderlich. Dazu gehört, dass die Prozessbegleiter:innen in eigener Verantwortung Kenntnisse vom Hilfeangebot vor Ort für Verletzte besitzen.
Schließlich verlangt § 3 Abs. 5 PsychPbG von der Psychosozialen Prozessbegleitung, dass diese in eigener Verantwortung ihre regelmäßige Fortbildung sicherstellen.
Welche Personen und Stellen für die PSPB anerkannt werden und welche weiteren Anforderungen hierfür an die Berufsausbildung, praktische Berufserfahrung, spezialisierte Weiterbildung und regelmäßige Fortbildung zu stellen sind, haben nach § 4 PsychPbG die Länder zu bestimmen. Dieser Landesrechtsvorbehalt ermöglicht es damit den Ländern, konkret die in § 3 PsychPbG genannten Anforderungen an die Qualifikation der Prozessbegleiter:innen auszugestalten und aber auch über diese hinauszugehen.
4 Grundsätze
Nach § 2 Abs. 1 PsychPbG ist die PSPB eine besondere Form der nicht rechtlichen Begleitung im Strafverfahren für besonders schutzbedürftige Verletzte vor, während und nach der Hauptverhandlung. Die Tätigkeit umfasst die Informationsvermittlung sowie die qualifizierte Betreuung und Unterstützung im gesamten Strafverfahren mit dem Ziel, die individuelle Belastung der Verletzten zu reduzieren und ihre Sekundärviktimisierung zu vermeiden. Diese Legaldefinition orientiert sich im Wesentlichen an dem Leitbild des Berichtes der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, in dem Standards der PSPB formuliert sind und die mit dem Beschluss der Justizminister:innenkonferenz vom Juni 2014 bestätigt worden sind. Folgende Grundsätze sind danach festgelegt:
- Akzeptanz des Rechtssystems und der Verfahrensgrundsätze,
- Verständnis für alle Verfahrensbeteiligten,
- Kooperation und ggf. Vernetzung,
- Transparenz der Arbeitsweise,
- Neutralität gegenüber dem Strafverfahren und dem Ausgang des Verfahrens,
- Rollenklarheit und Abgrenzung zu anderen Beteiligten (keine Rechtsberatung, Sachverhaltsaufklärung oder Psychotherapie),
- Information über das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht der Prozessbegleitung und
- keine Beeinflussung oder Beeinträchtigung der Aussagen von Zeugen und Zeuginnen
§ 2 Abs. 2 PsychPbG greift diese Standards auf, wonach die PSPB „von Neutralität gegenüber dem Strafverfahren und der Trennung von Beratung und Begleitung“ geprägt ist (Satz 1). Ausdrücklich wird bestimmt, dass die PSPB „weder die rechtliche Beratung noch die Aufklärung des Sachverhaltes“ umfasst, eine Aufgabe, die allein der anwaltlichen Nebenklagevertretung zusteht, und „nicht zu einer Beeinflussung des Zeugen oder einer Beeinträchtigung der Zeugenaussage“ führen darf (Satz 2). Schließlich müssen nach § 2 Abs. 2 Satz 3 PsychPbG die Verletzten von der Psychosozialen Prozessbegleitung bereits zu Beginn der Tätigkeit über diese Einschränkungen ebenso informiert werden wie über das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht.
5 Beiordnung
Grundsätzlich können sich alle Verletzten einer Straftat gem. § 406g Abs. 1 StPO des Beistandes einer Psychosozialen Prozessbegleitung bedienen. Wenn von einer besonderen Schutzbedürftigkeit auszugehen ist, sieht das Gesetz unabhängig von der wirtschaftlichen Situation für das gesamte Strafverfahren die kostenfreie Unterstützung der verletzten Person durch die Beiordnung der Psychosozialen Prozessbegleitung vor (§ 406g Abs. 3 Satz 3 StPO).
Die zentrale gesetzliche Vorschrift, die die Beiordnung zur PSPB regelt, ist § 406g Abs. 3 StPO.
Die Vorschrift von § 406g Abs. 3 Satz 1 und 2 StPO unterscheidet zwischen einer Pflichtbeiordnung und einer Ermessensbeiordnung.
5.1 Pflichtbeiordnung
Nach § 406g Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 Nr. 4 StPO muss zunächst Personen, die zur Zeit der Tat noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet haben, auf ihren Antrag eine Psychosoziale Prozessbegleitung beigeordnet werden, wenn sie Opfer folgender rechtswidriger Sexualstraftaten geworden sind: sexueller Missbrauch (§§ 174–176e StGB), sexuelle/r Übergriff, Nötigung, Vergewaltigung (§§ 177, 178 StGB), Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger (§ 180 StGB), Ausbeutung von Prostituierten (§ 180a StGB), Zuhälterei (§ 181a StGB), sexueller Missbrauch von Jugendlichen (§ 182 StGB), sexuelle Belästigung (§ 184i StGB), Straftaten aus Gruppen (§ 184j StGB), Verletzung des Intimbereichs durch Bildaufnahmen (§ 184k StGB) und Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB).
Verletzte, die zur Zeit der Antragstellung das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, haben nach § 406g Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 Nr. 5 StPO ebenfalls einen Anspruch auf Beiordnung, wenn sie durch folgende rechtswidrige Taten Opfer geworden sind: Aussetzung (§ 221 StGB), schwere Körperverletzung (§ 226 StGB), Verstümmelung weiblicher Genitalien (§ 226a StGB), Menschenhandel, Menschenraub, Entziehung Minderjähriger (§§ 232–235 StGB), Zwangsheirat (§ 237 StGB), Nachstellung in erschwertem Fall (§ 238 Abs. 2 und 3 StGB), Erpresserischer Menschenraub (§ 239a StGB), Geiselnahme (§ 239b StGB), Nötigung in besonders schweren Fällen (§ 240 Abs. 4 StGB), Raub und Erpressung (§§ 249, 250, 252 und 255 StGB) und Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer (§ 316a StGB).
Darüber hinaus ist die Beiordnung in Bezug auf die unter § 397a Abs. 1 Nr. 4 und 5 StGB genannten Straftaten auch gegenüber Verletzten ohne Altersbeschränkung obligatorisch, die ihre Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen können. In jedem Fall ist dann eine Beiordnung auch gegenüber volljährigen Verletzten erforderlich und für das zuständige Gericht auf Antrag der verletzten Person verpflichtend, wenn das erlittene Tatgeschehen zu solchen Belastungen geführt hat, die das Opfer unfähig machen, nicht nur seine Rechte im Strafverfahren zu vertreten, sondern auch seinen grundlegenden Interessen und Bedürfnissen nachzukommen (Weiner BeckOK StPO 2021 § 406g Rn. 10). Dabei sind einmal die persönlichen Verhältnisse der verletzten Person wie z.B. eingeschränkte geistige oder intellektuelle Fähigkeiten, geistige oder körperliche Behinderungen, der physische bzw. psychische Gesundheitszustand insbesondere als Folge der Straftat zu berücksichtigen; zum anderen spielen im Einzelfall opferspezifische Gesichtspunkte eine Rolle, wenn bspw. Opfer aufgrund ihrer persönlichen Lebens- und Beziehungssituation durch das Handeln in eigener Sache überfordert oder – wie Opfer von Zwangsheirat – zusätzlich über das Tatgeschehen hinaus besonders belastet sind (Herrmann 2017, S. 281).
5.2 Ermessensbeiordnung
Nach § 406g Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 Nr. 1 StPO kann das Gericht altersunabhängig Verletzten von folgenden Verbrechen (also gem. § 12 StGB rechtswidrige Taten, die eine Freiheitsstrafe von mindesten einem Jahr nach sich ziehen), PSPB beiordnen: sexuelle/r Übergriff/Nötigung und Vergewaltigung (§ 177 StGB), besonders schwerer Fall eines Vergehens nach § 177 Abs. 6 StGB, Menschenhandel (§ 232 StGB), Zwangsprostitution (§ 232a StGB), Zwangsarbeit (§ 232b StGB) und Ausbeutung unter Ausnutzung einer Freiheitsberaubung (§ 233a StGB).
Des Weiteren ist eine Ermessensbeiordnung nach § 406g Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 Nr. 1a und 2 StPO in folgenden Fällen vorgesehen: altersunabhängig für Verletzte aufgrund einer Straftat nach § 184j StGB, wenn der Begehung dieser Tat ein Verbrechen nach § 177 StGB oder ein besonders schwerer Fall eines Vergehens nach § 177 Abs. 6 StGB zugrunde liegt, und altersunabhängig für Verletzte von versuchten rechtswidrigen Tötungsdelikten sowie für Angehörige (Kinder, Eltern, Geschwister, Eheleute oder Lebenspartner:innen) von Opfern der vollendeten rechtswidrigen Tötungsdelikte des Mordes (§ 211 StGB) und des Totschlags (§ 212 StGB).
Schließlich kann eine Beiordnung nach § 406g Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 Nr. 3 StPO für Verletzte, gleich welchen Alters, bei folgenden Verbrechen erfolgen: schwere Körperverletzung (§ 226 StGB), Verstümmelung weiblicher Genitalien (§ 226a StGB), Menschenraub (§ 234 StGB), Verschleppung (§ 234a StGB), Entziehung Minderjähriger (§ 235 StGB), Nachstellung (§ 238 StGB), Freiheitsberaubung (§ 239 StGB), Erpresserischer Menschenraub (§ 239a StGB), Geiselnahme (§ 239b StGB), Raub und schwerer Raub (§§ 249, 250 StGB), räuberische/r Diebstahl/​Erpressung (§§ 252, 255 StGB) und räuberischer Angriff auf Kraftfahrer:innen (§ 316a StGB).
Weitere Voraussetzung ist, dass diese Verbrechen bei den Verletzten zu schweren körperlichen oder seelischen Schäden geführt haben oder voraussichtlich führen werden, dabei ist an schwere, erhebliche und dauerhafte Gesundheitsschädigungen physischer und psychischer Art zu denken (Schmitt 2021, § 397a StPO Rn. 3).
Zusätzlich verlangt § 406g Abs. 3 Satz 2 StPO, dass die besondere Schutzbedürftigkeit der verletzten Person die Beiordnung erfordert. Der Begriff der ‚besonderen Schutzbedürftigkeit‘ wird in der Gesetzesbegründung in Bezug zu Art. 22 Abs. 3 der EU-Opferschutzrichtlinie gestellt.
Nach dieser Richtlinienvorschrift ist die Rede von Opfern,
„die infolge der Schwere der Straftat eine beträchtliche Schädigung erlitten haben; Opfer, die Hasskriminalität und von in diskriminierender Absicht begangenen Straftaten erlitten haben, die insbesondere im Zusammenhang mit ihren persönlichen Merkmalen stehen könnten; Opfer, die aufgrund ihrer Beziehung zum und Abhängigkeit vom Täter besonders gefährdet sind. Dabei sind Opfer von Terrorismus, organisierter Kriminalität, Menschenhandel, geschlechtsbezogener Gewalt, Gewalt in engen Beziehungen, sexueller Gewalt oder Ausbeutung oder Hassverbrechen sowie Opfer mit Behinderungen gebührend zu berücksichtigen“ (Amtsblatt [EU] L 315/71 vom 14.11.2012).
Wenn diese Opfer infolge der Schwere der Straftat eine beträchtliche Schädigung erlitten haben und bei den daraus resultierenden Belastungen das Erfordernis einer psychosozialen Unterstützung allgemein vorliegen wird, sind die Voraussetzung einer Beiordnung nach § 406g Abs. 3 Satz 2 StPO grundsätzlich als erfüllt anzusehen. Als Beispiele für besonders schutzbedürftige Verletzte nennt der Gesetzgeber in der Begründung – in Anlehnung an die EU-Opferschutzrichtlinie – Verletzte mit einer Behinderung oder einer psychischen Beeinträchtigung, Betroffene von Sexualstraftaten, Betroffene von Gewaltstraftaten mit schweren psychischen, psychischen oder finanziellen Folgen oder längerem Tatzeitraum, Betroffene von vorurteilsmotivierter Gewalt oder sonstige Hasskriminalität sowie Betroffene von Menschenhandel (BR-Drs. 56/15, 32). Liegt bereits eine Einschätzung der besonderen Schutzbedürftigkeit durch eine Opferhilfeeinrichtung vor, so ist dies bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen (die Gesetzesbegründung in BR-Drs. 56/15, S. 16).
6 Befugnisse
Das wichtigste Recht der PSPB besteht darin, bei allen Zeugenvernehmungen vom Beginn des Verfahrens bei Polizei, Staatsanwaltschaft und dem Ermittlungsrichter oder der Ermittlungsrichterin bis einschließlich zur Hauptverhandlung anwesend zu sein, um so die zentrale Aufgabe der Begleitung überhaupt erfüllen zu können (§ 406g Abs. 1 Satz 2 StPO). Dies gilt für die beigeordneten Begleiter:innen uneingeschränkt, auch bei Ausschluss der Öffentlichkeit (Riekenbrauk 2016, S. 28).
Fraglich ist, ob das Anwesenheitsrecht auch im Rahmen des Ermittlungsverfahrens bei polizeilichen, staatsanwaltlichen oder ermittlungsrichterlichen Vernehmungen in jedem Fall in Anspruch genommen werden sollte. Aus Gründen der Neutralität erscheint es eher geboten zu sein, der Vernehmung nicht beizuwohnen, um zu vermeiden, die Aussage der Bezeugenden zum Tatgeschehen mitzuverfolgen (Herrmann 2017, S. 278). Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass aufgrund der Kenntnis der Tatschilderung die Prozessbegleitung in einer Weise beeinflusst wird, die die gebotene neutrale Haltung unzulässig beeinträchtigt. Auch ist die Befürchtung auf Seiten der Strafverteidigung nicht gänzlich unbegründet, dass bei Anwesenheit der Prozessbegleitung und aufgrund des dadurch vertieften Vertrauensverhältnisses es der bezeugenden Person eher schwerfallen wird, von einer Aussage abzurücken, um das Vertrauen nicht zu enttäuschen (Neuhaus 2017, S. 60 f.; Deckers 2017, S. 140).
Etwas anderes gilt jedoch für die Hauptverhandlung, in der es geradezu die zentrale Aufgabe der PSPB ist, der verletzten Person während der Vernehmung oder auch darüber hinaus zu unterstützen, wenn sie in der Rolle der Nebenklage dem weiteren Verlauf der Hauptverhandlung beiwohnt. Entsprechend ihrer Funktion besitzen Prozessbegleiter:innen auch das Recht, in Absprache mit der schutzwürdigen Person die Entfernung der angeklagten Person nach § 247 StPO, die Vernehmung der Bezeugenden an anderem Ort nach § 247a StPO, die Vorführung der aufgezeichneten Vernehmungen der Bezeugenden gem. § 255a StPO oder den Ausschluss der Öffentlichkeit nach § 171b GVG (Gerichtsverfassungsgesetz) anzuregen (Riekenbrauk 2019, S. 264 f.).
Eine weitere Aufgabe wird es in der Praxis der PSPB sein, so früh wie eben möglich bei der Prüfung und Feststellung der „besonderen Schutzbedürftigkeit“ i.S.v. § 48a Abs. 1 StPO mitzuwirken und den für die Untersuchungshandlungen, insbesondere den für die Vernehmungen verantwortlichen Polizeibeamten und Polizeibeamtinnen, Staatsanwälten und Staatsanwältinnen und Richtern und Richterinnen die bislang gewonnenen Erkenntnisse über eine eventuell vorhandene Traumatisierung oder andere schwerwiegende Belastungen mitzuteilen und darauf zu drängen, die in § 48a Abs. 1 StPO vorgesehenen Schutzmaßnahmen, wie z.B. den Ausschluss der Öffentlichkeit, die von den übrigen Verfahrensbeteiligten getrennte Vernehmung oder die audiovisuelle Vernehmung im Bedarfsfall zugunsten der Klienten und Klientinnen zu ergreifen.
Die nicht beigeordnete Psychosoziale Prozessbegleitung ist demgegenüber in ihrer Befugnis, bei Vernehmungen anwesend zu sein, eingeschränkt; nach § 406g Abs. 4 Satz 1 StPO kann nämlich die Anwesenheit untersagt werden, wenn dies den Untersuchungszweck gefährden könnte. Diese Entscheidung trifft die die Vernehmung leitende Person, also der oder die für die Ermittlung zuständige Staatsanwalt oder Staatsanwältin (§ 161a StPO) bzw. der Polizeibeamte oder die Polizeibeamtin (§ 163 Abs. 3 StPO), der:dieErmittlungsrichter:in (§ 162 StPO) im Vorverfahren oder der:die vorsitzende Richter:in in der Hauptverhandlung (§ 238 StPO). Eine Gefährdung ist z.B. dann anzunehmen, wenn durch die Anwesenheit der Prozessbegleitung die Wahrheitsfindung beeinträchtigt werden kann oder durch zeitliche Verzögerung ein Beweismittelverlust droht (Zabeck KK StPO 2019, § 406f Rn. 4).
Über das Anwesenheitsrecht hinaus sieht das Gesetz keine weiteren prozessualen Rechte der PSPB vor. So hat die Prozessbegleitung kein eigenständiges Antragsrecht. Auch ist sie nicht berechtigt, an Stelle der Ratsuchenden Angaben zu machen oder Auskünfte zu erteilen (Schmitt 2021, § 406g Rn. 2).
Steht der verletzten Person eine anwaltliche Nebenklagevertretung zur Seite, so sollte in enger Abstimmung mit der Nebenklagevertretung überlegt werden, welche Anträge zum Schutz der Bezeugenden zu stellen sind.
Schließlich besteht für die Prozessbegleitung kein Zeugnisverweigerungsrecht. Auf Ladung durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht müssen sie zur Vernehmung erscheinen und als Zeugen oder Zeuginnen wahrheitsgemäß aussagen.
Um der Aufgabe und den Pflichten einerseits als Bezeugende und andererseits als Prozessbegleitung gerecht zu werden, sollte das Gericht gebeten werden, die Terminierung und Zeugenladung so zu gestalten, dass die Begleitung der verletzten Person nicht beeinträchtigt wird (Herrmann 2017, S. 279).
Ausdrücklich schreibt § 2 Abs. 2 Satz 3 PsychPbG vor, dass die Begleiter:innen bereits bei Beginn ihrer Tätigkeit die Klienten bzw. die Klientinnen über das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht informieren. In diesem Zusammenhang sollte verdeutlicht werden, dass alles, was unter ihnen über die Tat gesprochen wird, auch vor Gericht zur Aussage kommen muss, und es folglich ratsam ist, Gespräche über die Tat zu vermeiden, und damit auch dem gesetzlichen Gebot der Neutralität Folge zu leisten.
7 Quellenangaben
Deckers, Rüdiger, 2017. Neue Initiativen zur Stärkung der Rechte von Kindern in Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauchs. In: StraFo. 30(4), S. 133–140. ISSN 0947-9252
Hannich, Rolf, Hrsg., 2019. Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung: mit GVG, EGGVG und EMRK. 8., neu bearb. Auflage. München: C.H. Beck. ISBN 978-340-6-69511-7
Herrmann, Anne, 2017. Die gesetzlichen Grundlagen der PSPB – Grundsätze, Voraussetzungen, Beiordnung und Vergütung. In: Friesa Fastie, Hrsg. Opferschutz im Strafverfahren. 3. Auflage. Opladen: Barbara Budrich, S. 273–294. ISBN 978-384-7-42129-0
Neuhaus, Ralf, 2017. Die psychosoziale Prozessbegleitung nach dem 3. ORRG: Ein verhängnisvoller Irrweg. In: Strafverteidiger. 37(1), S. 55–63. ISSN 2366-2166
Riekenbrauk, Klaus, 2016. Psychosoziale Prozessbegleitung – ein neuer Sozialer Dienst der Justiz. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe. 27(1), S. 25–33. ISSN 1612-1864
Riekenbrauk, Klaus, 2019. Das 3. Opferrechtsreformgesetz und die Psychosoziale Prozessbegleitung. In: Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V., Hrsg. Herein-, Heraus-, Heran- – junge Menschen wachsen lassen: Dokumentation des 30. Deutschen Jugendgerichtstages vom 14. bis 17. September 2017 in Berlin. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg. ISBN 978-3-942865-95-1
Riekenbrauk, Klaus und Gaby Temme, 2022. Psychosoziale Prozessbegleitung – eine Gefährdung der Beschuldigtenrechte? In: Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht [online]. 23(2), Seite 74–85 [Zugriff am: 18.03.2022]. hrr-strafrecht. ISSN 1865-6277. Verfügbar unter: https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/archiv/​22-02/​hrrs-2-22.pdf
Schmitt, Bertram, 2021. Kommentierung von §§ 397a, 406f, 406g StPO. In: Lutz Meyer-Goßner und Bertram Schmitt, Hrsg. Strafprozessordnung Kommentar: Mit GVG und Nebengesetzen. 62., neu bearb. Auflage. München: C.H. Beck. ISBN 978-3-406-76761-6
Weiner, Bernhard, 2021. Kommentierung von § 406g StPO. In: Jürgen Peter Graf, Hrsg. Beck’scher Online-Kommentar StPO. 4. Auflage. München: C.H. Beck. ISBN 978-3-406-76901-6
Zabeck, Anna, 2019. Kommentierung von §§ 406f, 406g StPO. In: Rolf Hannich, Hrsg. Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung: mit GVG, EGGVG und EMRK. 8., neu bearb. Auflage. München: C.H. Beck. ISBN 978-340-6-69511-7
Verfasst von
Prof. Dr. Klaus Riekenbrauk
Rechtsanwalt, emeritierter Hochschullehrer an der Hochschule Düsseldorf, Vorsitzender der Brücke Köln e.V.
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