Reformpädagogik
Prof. Dr. Heiner Ullrich
veröffentlicht am 12.10.2023
Reformpädagogik ist die Bezeichnung für die von kultur- und gesellschaftskritischen Motiven inspirierten Programme und Reformversuche in Europa, Nordamerika und Palästina im Zeitraum von 1890 bis ca. 1950 (in Deutschland bis 1933). Mit dem Adjektiv „reformpädagogisch“ charakterisiert man aber auch bis heute Schul-und Unterrichtskulturen, die von den Normen und Formen der Regelschulen abweichen und sich auf Vorläufer aus der klassischen Reformpädagogik berufen.
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart
- 3 Die zentrale Intuition: das kreative Kind
- 4 Klassische Schulmodelle der Reformpädagogik
- 5 Die reformpädagogische „Grammar of Schooling“
- 6 Quellenangaben
- 7 Literaturempfehlungen
1 Zusammenfassung
Im erziehungswissenschaftlichen Diskurs begegnet man der Reformpädagogik in einer dreifachen Existenzform: erstens als Reformpädagogische Bewegung in ihren historischen Ideen und Gestalten, zweitens als Ensemble aktueller Programme und Praxen innovativer Schul- und Unterrichtsentwicklung und drittens als Reservoir pädagogisch-professioneller Erfindungen der Moderne. Reformpädagogik ist somit Gegenstand bildungshistorischer Forschung, des Diskurses über Schulentwicklung und Quelle von alternativen Drehbüchern von Erziehung und Lernen zugleich.
2 Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart
2.1 Kanonisierung der Reformpädagogik
Ausgangspunkt der unterschiedlichen Sichtweisen und Forschungsansätze war die auf die geisteswissenschaftliche Pädagogik (insbesondere auf Herman Nohl) zurückgehende ideengeschichtliche und zugleich programmatische Kanonisierung der Reformpädagogik als eine epochale Bewegung zur Erneuerung der Erziehung. Im deutschsprachigen Kulturraum manifestierte sie sich in der Landerziehungsheim-, der Kunsterziehungs- und der Arbeitsschulbewegung und führte zur Gründung von Reformschulen, die vom Geist einer an Entwicklungslehren orientierten Pädagogik vom Kinde aus geleitet wurden.
Dieser jahrzehntelang dominierende Kanon der Reformpädagogik wurde zum einen räumlich zu einer internationalen Bewegung erweitert (Röhrs 1991) und zum anderen zeitlich zu einer zukunftsoffenen und fortwährend innovativen pädagogischen „Antwort auf die Moderne“ entgrenzt (Flitner 1999).
Als die Grundannahmen und „Dogmen“ dieser gleichsam übergeschichtlichen Reformpädagogik nennt Jürgen Oelkers (2010):
- die Idee des aktiven Kindes,
- die Entdeckung der Kreativität des Kindes,
- die Gestaltung einer freiheitlichen Erziehung sowie
- die Etablierung progressiver und alternativer Schulen.
2.2 Aktuelle Diskussionen in der Erziehungswissenschaft
In den letzten Jahren haben sich neben diesen überwiegend ideengeschichtlichen und programmatischen Ansätzen zwei neue Richtungen der Erforschung der Reformpädagogik herausgebildet, welche zu einer stärkeren Versachlichung des erziehungswissenschaftlichen Diskurses führen: einerseits eine realgeschichtliche Beschäftigung mit den Reformschulen in der Weimarer Republik (Hansen-Schaberg 2002) und andererseits die empirische Erforschung der heutigen reformpädagogischen Schulkulturen (Idel, Ullrich und Pauling 2022).
Interessanterweise werden auch die neuerlichen Debatten über die Reformpädagogik wieder von Positionen und Konzepten bestimmt, die auch schon in früheren Kontroversen maßgebend waren (Ullrich und Idel 2017). Für Bildungshistoriker wie Wolfgang Keim ist die Reformpädagogik eine längst abgeschlossene Epoche der deutschen Bildungsgeschichte mit einer besonderen Verdichtung von Reformideen, -modellen und -praxen. Diese haben sich unter den singulären gesellschaftspolitischen und kulturellen Bedingungen von Modernisierung und Lebensreform vor und nach dem Ersten Weltkrieg herausgebildet (Keim 2016).
Von einem diskursgeschichtlichen Ansatz aus versucht Jürgen Oelkers die Reformpädagogik als eine geschichtliche Fiktion darzustellen. Sie sei keine neue Epoche oder soziale Bewegung mit originären Theorien und Praxen, sondern lediglich die Fortsetzung des Diskurses der Schulpädagogen des 19. Jahrhunderts mit neo-romantischen Leitvorstellungen, z.B. vom „Genius“ des Kindes und vom pädagogischen Primat der Gemeinschaft. Neu sei an der Reformpädagogik „fast nichts“, und ihre Reformimpulse seien gesellschaftlich und politisch erfolglos gewesen (Oelkers 2010).
Diametral anders bewerten Bildungstheoretiker in der Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wie Andreas Flitner und Theodor Schulze die Reformpädagogik – bewusst historisch entgrenzend – als eine bis heute unentbehrliche Quelle (schul-)pädagogischer Innovationen (Flitner 1999, Schulze 2011).
Reformpädagog:innen reagieren mit ihren konzeptionellen und methodischen Innovationen auf die Schwierigkeiten und Mängel von Unterricht und Erziehung in den staatlichen Schulen, z.B. die „Formalisierung, Regulierung, Uniformierung und Zensierung“ des Lehrens und Lernens. Die Reformpädagogik lebt so gesehen bis heute weiter:
- erstens in den klassischen Modellen der Montessori-, Daltonplan-, Waldorf-, Freinet-, Jenaplan- und Alternativschulen,
- zweitens in den Reformgesamtschulen der 1970er bis 1990er Jahre (z.B. Laborschule Bielefeld, Helene-Lange-Schule Wiesbaden) sowie in den Schulen des Schulverbundes „Blick über den Zaun“ und
- drittens in den „bottom up“-Reformpädagogisierungen an den staatlichen Regelschulen seit etwa 2000.
Wenn heute über reformpädagogisch gestaltete Schulkulturen diskutiert und geforscht wird, dann steht zumeist nicht mehr die Reformpädagogik als historische Epoche der Bildungsgeschichte im Fokus. Vielmehr geht es entweder um die Profile der bis heute verbreiteten klassischen Reformschulen oder um ein Reservoir pädagogischer Praktiken und Methoden, welche für die Gestaltung alternativer Formen von Schule oder für die Inszenierung einer neuen Lernkultur bereitstehen.
Insgesamt gesehen kann man also von einer dreifachen Existenzform von Reformpädagogik (Tenorth 2011) sprechen:
- als Reformpädagogische Bewegung in ihren historischen Ideen und Gestalten,
- als Reservoir pädagogisch-professioneller Erfindungen der Moderne,
- als Ensemble aktueller Programme und Praxen innovativer Schul- und Unterrichtsentwicklung.
3 Die zentrale Intuition: das kreative Kind
Auf der Suche nach einer einheitsstiftenden Idee in der geschichtlichen Reformpädagogik stößt man auf eine Anthropologie des Kindes, welche die Grundzüge des romantischen Kindheitsideals fortschreibt, das auf Rousseau und Herder zurückführt und bereits bei Friedrich Fröbel seine erste pädagogische Ausformulierung erhalten hat (Ullrich 1999). Das Kind als ein noch in unentfremdeter Ursprünglichkeit lebendes kreatives Menschenwesen und als neuer Mensch einer besseren Zukunft – das ist die zentrale Intuition, welche die meisten pädagogischen Akteure zu der „kopernikanischen Wende“ hin zu einer Pädagogik vom Kinde aus inspiriert hat.
Am Beginn des „Jahrhunderts des Kindes“ (Ellen Key) wird das romantische Kindheitsideal in einem epochalen Zeitgeist neu konzipiert, der vom biologischen Evolutionismus ebenso geprägt ist wie von spiritueller Neo-Romantik. Es findet sich bei den Klassikern der Kinderpsychologie – z.B. bei Stanley Hall und Jean Piaget – ebenso wie bei Pionieren der Neuen Erziehung – z.B. bei Maria Montessori und John Dewey – als eine ideelle Grundlage ihrer Forschungen und Gründungen.
Die romantische Auffassung der Kindheit als noch ursprüngliche und kreative Daseinsform, welche eine vollkommenere Zukunft in sich trägt, ist die ideelle Grundlage eines reformpädagogischen „Drehbuchs“, das folgende Elemente umfasst:
- kameradschaftliche pädagogische Beziehungen,
- gemeinschaftlich bzw. demokratisch verfasste Schulen,
- auf Selbsttätigkeit zielende Methoden des Lehrens auch in überfachlichen Zusammenhängen.
Es hängt von der Qualität des reflexiven Umgangs der reformpädagogischen Akteurinnen und Akteure mit diesem pädagogischen Naturalismus ab, ob ihre Konzepte und Praxisformen heute eher als antimodernistisch oder zukunftsfähig zu beurteilen sind.
4 Klassische Schulmodelle der Reformpädagogik
Die historische Reformpädagogik umfasste nicht nur schulische, sondern auch außerschulische Reformansätze in Sozialarbeit und Erwachsenenbildung (Skiera 2018, Kap. 15), die auch wie jene in Deutschland häufig von Pädagog:innen gestaltet wurden, die aus der damaligen Jugendbewegung stammten (Kerbs und Reulecke 1998).
Der aktuelle praktische und fachwissenschaftliche Diskurs bezieht sich allerdings fast ausschließlich auf die schulpädagogischen Gründungen, die aus der Epoche der Reformpädagogik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stammen und bis heute zunehmende Resonanz erfahren (dazu auch die entsprechend konzipierte ausführlichere Darstellung von Hansen-Schaberg und Schonig 2002 ff.).
4.1 Montessori-Schulen
Die italienische Ärztin, Heilpädagogin und Pionierin der Friedens- und Frauenbewegung Maria Montessori (1870–1952) übernimmt im Jahr 1907 in einem sozialen Brennpunkt Roms die Leitung der neu eingerichteten Casa dei bambini, einer Tagesheimstätte zur Betreuung und Erziehung von Vorschulkindern.
Die erste Montessori-Schule wird 1919 in den Niederlanden gegründet, in Deutschland 1926 in Berlin. Die Zahl der Einrichtungen, die 2011 in Deutschland „ernsthaft nach dem Konzept Montessoris“ arbeiten, wird auf ca. 1.000 geschätzt, darunter sind ca. 600 Kinderhäuser und ca. 400 Schulen. Weltweit sind etwa 22.000 Einrichtungen der Montessori-Methode verpflichtet (Pütz 2017).
Die heutigen Montessori-Schulen realisieren die folgenden Prinzipien der Montessori-Pädagogik in Art und Umfang sehr unterschiedlich:
- erstens die Individualisierung der unterrichtlichen Lernprozesse durch eine vorbereitete Umgebung mit einer Vielzahl von autodidaktischen Aufgaben in einer täglich zweistündigen Freiarbeitsphase;
- zweitens die Veränderung der Rolle der Lehrperson von Dozent:innen hin zu Beobachter- bzw. Begleiter:innen der Lernprozesse in der Freiarbeit;
- drittens die – durchgängige oder zeitweilige – Aufhebung der Jahrgangsklassen in altersgemischte Lerngruppen;
- viertens Berichte (Selbst- und Fremdberichte) anstelle oder in Ergänzung der Notenzeugnisse zur Rückmeldung des Lernerfolgs an die Schüler:innen und Eltern;
- fünftens außerschulische Orte des praktischen und sozialen Lernens für die Schüler:innen der Sekundarstufe (z.B. Bauernhof).
Die empirischen Forschungen (Bräu und Ullrich 2022) konzentrieren sich thematisch in erster Linie auf die Bereiche Freiarbeit, Leistungsbeurteilung, Lernergebnisse und Schulqualität. Quantitative Studien belegen u.a., dass in der Freiarbeit viele Schüler:innen tatsächlich konzentriert und kooperativ lernen. Sie zeigen im Vergleich mit Regelschulen gleich gute kognitive Lernergebnisse und deutliche Vorsprünge in ihren sozialen Kompetenzen. Die Freiarbeit ist allerdings nicht für alle die wirksamste Lernform. Für einige Schüler:innen stellt die altersgemischte Freiarbeit den hauptsächlichen Unterricht dar, für andere beginnt das eigentliche Lernen aber erst im anschließenden Fachunterricht der Jahrgangsklasse. Die Freiarbeit ermöglicht hochbegabten Schüler:innen, mit individuellem Lerntempo und ohne Unterforderung selbstreguliert zu lernen; sie erfahren aber auch die inhaltliche Beschränktheit des autodidaktischen Materials.
Die befragten Montessori-Schüler:innen sind fast zu drei Vierteln Quereinsteiger:innen und nehmen häufiger Nachhilfeunterricht als ihre Vergleichsgruppe. Sie haben – trotz ihrer negativen Erfahrungen mit den Anforderungen der Regelschulen – eine hohe Bildungsaspiration und stammen aus überdurchschnittlich gut situierten und ausgebildeten Elternhäusern. Sie äußern eine hohe Zufriedenheit mit ihrer Schule.
4.2 Schulen nach dem Dalton-Plan
Die Lehrerin und Lehrerbildnerin Helen Parkhurst (1886–1973) war von 1915 bis 1918 Mitarbeiterin und offizielle Stellvertreterin Maria Montessoris in den USA. Nach dem Bruch mit Montessori führte sie ab 1919 den von ihr späterhin (1922) so benannten Dalton-Plan in ihrer New Yorker High School ein.
Aktuell arbeiten in Deutschland 26 allgemein- und berufsbildende Schulen nach dem Dalton-Plan. Die meisten Dalton-Plan-Schulen gibt es in den Niederlanden: 368 Grundschulen und 41 Sekundarschulen; auch in Belgien und in Tschechien gibt es je ca. 10 Dalton-Plan-Schulen.
Der Dalton-Plan liefert kein neues Schulmodell, sondern eher eine didaktisch-methodische Ausarbeitung der Individualpädagogik Montessoris für das öffentliche Schulwesen (Skiera 2018). Jede Schule legt für sich fest, in welchem Maße sie sich durch Freiarbeitsphasen „daltonisiert“. Die den amerikanischen Zeitgeist von Demokratie und Pragmatismus widerspiegelnden Prinzipien des Dalton-Konzepts lauten
- freedom,
- cooperation,
- budgeting time.
Im Kern geht es um die Individualisierung des Lernens anstelle des Gleichschritts und der traditionellen Lehrerzentrierung im Frontalunterricht (Skiera 2018). Jeder Lernende kann seine Lernzeiten und Lernräume im Rahmen der von der Lehrperson verbindlich vorgegebenen Aufgaben (assignments) frei gestalten. Für die selbstständige Bearbeitung dieser Pensen gibt es festgelegte Zeiträume (Tages- und Wochenpläne) und spezifische Lernzonen (subject corners) bzw. Fachräume oder außerschulische Lernorte mit Selbstbildungsmaterialien (laboratories). Über die Ziele des individuellen Arbeitsprozesses können Schüler und Lehrer einen Lernvertrag (contract) abschließen. Die Erledigung der in einem Lernplaner bzw. Logbuch festgehaltenen Aufgaben wird von den Lernenden auf Aufgaben-Kontrollkarten (graphs) festgehalten.
Ähnlich wie bei Montessori verwandelt sich die Rolle der Lehrperson im Unterricht nach dem Dalton-Plan vom didaktischen Monarchen zum Lernbegleiter jedes einzelnen Kindes, der allerdings vorher für die Einrichtung des Lernraums, die Bereitstellung der Lernmaterialien und die autodidaktischen Routen gesorgt hat.
4.3 Freie Waldorfschulen
Im Jahre 1919 gründete der Anthroposoph und Lebensreformer Rudolf Steiner (1861–1925) für die Kinder der Arbeiter der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart die „Freie Waldorfschule“ als historisch erste koedukative Gesamtschule (Einheitliche Volks- und Höhere Schule) in Deutschland. 2022 gibt es weltweit ca. 1.270 Waldorfschulen, davon ca. 860 in Europa. In Deutschland sind es derzeit ca. 256 Schulen – und 591 Waldorfkindergärten (Waldorf World List, September 2022).
Die Freien Waldorfschulen sind genau genommen keine Schulen mit reformpädagogischer Prägung, auch wenn einiges in ihrem Profil darauf hinzuweisen scheint. Sie sind vielmehr Schulen aus dem Geist der Theosophie bzw. Anthroposophie, die in ihrem Curriculum, ihrer Unterrichtskultur und Lehrerrolle eng an die Volksschul-Pädagogik des Herbartianismus aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anschließen (Ullrich 2021).
Waldorfschulen fallen schon durch ihre organische Architektur auf, die allem Lernen einen „ganzheitlichen“ Rahmen geben soll. Waldorfschulen sind koedukative Gesamtschulen, in denen die Schüler:innen ohne Zensuren und Versetzung in stabilen Jahrgangsklassen in der Regel vom ersten bis zum zwölften Schuljahr gemeinsam lernen. Statt der amtlichen Noten- oder Punktezeugnisse erstellen die Waldorflehrer:innen jährlich sehr persönlich gehaltene Schülercharakteristiken in freiem Wortlaut.
Waldorfschulen arbeiten nach einem eigenen genetischen Lehrplan, der sich in erster Linie an der Entwicklung der Schüler:innen orientieren soll. Die Schüler:innen benutzen in der Waldorfschule keine fachspezifischen Lehrbücher; sie halten ihre Lernergebnisse in individuellen Epochenheften fest.
Die tägliche Unterrichtszeit gliedert sich in den allmorgendlichen zweistündigen „Hauptunterricht“, in welchem jedes der traditionellen Hauptfächer nur ein- bis zweimal pro Jahr in „Epochen“ von drei bis vier Wochen täglich gelehrt wird. Die Lehrperson soll im Unterricht phänomenologisch vorgehen, d.h. möglichst lange in der Anschauung des Neuen verbleiben und erst spät zu Allgemeinbegriffen und Formeln gelangen. Vom ersten bis zum achten Schuljahr der „Unterstufe“ erteilt ein und derselbe Klassenlehrer den täglichen Hauptunterricht in ca. acht Fächern. Waldorfschulen streben eine Gleichgewichtung von kognitiven, musisch-künstlerischen, handwerklich-praktischen und sozialen Lernbereichen im Unterricht und im Schulleben an, was sich u.a. in Jahresarbeiten und Theateraufführungen der Schüler bekundet.
An Waldorfschulen werden schon von der ersten Klasse an spielerisch zwei moderne Fremdsprachen gelehrt und es wird mit möglichst jedem Schüler ein Musikinstrument eingeübt. Ein nur an Waldorfschulen gelehrtes Fach ist Eurythmie, eine von Steiner kreierte Tanzkunst, in welcher sprachliche oder musikalische Äußerungen in körperliche Bewegungen transformiert werden.
Die Waldorfschule versteht sich als christliche Schule; der Religionsunterricht wird sowohl in kirchlich-konfessioneller als auch in freier, an Steiners esoterischer Christenlehre orientierter Form erteilt. Waldorfschulen kennen keinen Schulleiter bzw. keine Schulleiterin; sie verwalten sich in wöchentlichen Konferenzen selbst. Fast alle Eigentümlichkeiten der Waldorfschule werden von den Waldorfpädagogen primär aus der esoterischen Anthropologie Rudolf Steiners begründet. Keine andere Reformschule ist heute so tiefgründig und umfassend weltanschaulich geprägt wie die Waldorfschule (Ullrich 2015).
Empirische Studien (zum Folgenden Ullrich 2015, 149 ff.) zeigen, dass auch Waldorfschüler:innen häufig Quereinsteiger sind. Sie zeigen ein hohes Ausmaß an Zufriedenheit und Identifikation mit ihrer Schule. Trotz des langjährigen Verzichts auf Noten erreichen sie im Durchschnitt häufiger als Regelschüler:innen das Abitur, nehmen dazu allerdings in höherem Grad Nachhilfeunterricht in Anspruch.
Waldorflehrer:innen zeichnen sich trotz niedrigerem Einkommen und höherer Beanspruchung durch die kollegiale Selbstverwaltung durch höhere Berufszufriedenheit und durch risikoärmere Arbeitsmuster aus. Sie lassen sich zu ca. 95 % intensiv auf die Anthroposophie Rudolf Steiners ein. Die langjährigen Beziehungen zwischen Klassenlehrer:innen und Schüler:innen sind von starken Tendenzen der Intimisierung und Entgrenzung bestimmt, die sowohl zu entwicklungsproduktiven Verläufen führen können als auch zu Lernhemmungen infolge von Verkennungen und Entwertungen durch die Lehrpersonen.
Absolvent:innen von Waldorfschulen reproduzieren weitgehend die beruflichen Karrieren ihrer Eltern vor allem in pädagogischen, medizinisch-therapeutischen und künstlerischen Berufsbereichen. Waldorfeltern rekrutieren sich überwiegend aus den Milieus der akademisch gebildeten oberen Mittelschicht, fast ein Fünftel von ihnen sind Lehrpersonen an Regelschulen. Ihr Bildungshabitus ist durch den Wunsch nach Entschleunigung des Lernens bei gleichzeitig hoher Bildungsaspiration gekennzeichnet. Nur ca. 10 % von ihnen sind Anhänger der Anthroposophie. Die Stärken der Waldorfschule liegen für die meisten Eltern im gemeinschaftlichen Miteinander und im Schulklima. Eher gespalten ist die Waldorfelternschaft im Hinblick auf eine Stärkung des Leistungsprinzips an der Schule und eine Beurteilung auch mit Noten. Große Sorgen bereiten den Eltern die Ineffizienz der kollegialen Selbstverwaltung und die Schwäche der organisatorischen Strukturen.
4.4 Jenaplan-Schulen
Im Jahr nach seiner Berufung zum Professor für Erziehungswissenschaft an die Universität Jena eröffnet Peter Petersen (1884–1952) am 14. Mai 1924 die „Universitätsschule Jena“. Die späterhin „Jena-Plan-Schule“ genannte Versuchsschule umfasst von der 1. bis zur 10. Klasse alle Schularten und beginnt erst in der 7. Klasse mit der Differenzierung der Schüler:innen nach ihren Leistungen und Begabungen. 2015 gab es 55 Jenaplan- bzw. Jenaplan-orientierte Schulen in Deutschland und mehr als 200 in den Niederlanden, wo heute der Schwerpunkt dieser Schulbewegung liegt (Bräu und Ullrich 2022, S. 225). Die wichtigsten Kennzeichen des Jenaplans sind:
- erstens die Abschaffung der Jahrgangsklasse und der Klassenwiederholung;
- zweitens das Lernen in drei Jahrgänge übergreifenden „Stammgruppen“ in den jeweiligen „Schulwohnstuben“ im täglichen Rhythmus von doppelstündigem Gruppenunterricht und einstündigen Kursen;
- drittens die Unterscheidung der vier Bildungsformen Arbeit, Gespräch, Spiel und Feier, die sich planmäßig über die Woche verteilen;
- viertens die Selbsteinschätzungen der Schüler:innen und die Lernentwicklungsberichte der Lehrer anstelle der Zensuren;
- fünftens das Selbstverständnis der Eltern, Lehrer:innen und Schüler:innen als Erziehungsgemeinschaft, die sich zu regelmäßigen Feiern in der Schule versammelt.
Empirische Befragungen ehemaliger Jenaplan-Schüler:innen erbringen positive Einschätzungen des sozialen Lernens und eher kritische Beurteilungen zum altersgemischten Unterricht (Idel und Ullrich 2008).
4.5 Freinet-Schulen
Ebenfalls im Jahre 1924 beginnt der Volksschullehrer Célestin Freinet (1896–1966) damit, für die Arbeiter- und Bauernkinder in seiner südfranzösischen Dorfklasse eine Druckerei einzurichten, in der seine Schüler:innen freie Texte erstellen, womit sie die Fibeln und andere Schulbücher verbannen können. Mit ihren freien Texten sollen sie mit gleichaltrigen Schüler:innen in anderen Schulen in eine regelmäßige Korrespondenz treten.
Weitere Elemente der von Freinet unter dem Motto „Pour la vie, par la vie, par le travail“ Schritt für Schritt entwickelten „École moderne“ sind u.a. der wöchentliche Klassenrat, die autodidaktischen Materialien (z.B. Karteien), die Ateliers (Werkstätten) und der Wochenplan (Skiera 2010).
Freinet hat der Nachwelt anders als Montessori, Steiner und Petersen kein neues Schulmodell hinterlassen, sondern eine auf freien Ausdruck und lebensnahe Arbeit ausgerichtete Unterrichtspraxis in einem basisdemokratischen Klassenkollektiv. Diese Praxis wird heute in Deutschland in 21 Reformschulen in freier und staatlicher Trägerschaft eigensinnig adaptiert. Eine empirische Studie dokumentiert die ressourcenorientierten Haltungen, mit denen Freinet-Pädagog:innen in zwei nicht nur bezüglich ihrer Trägerschaft unterschiedlichen inklusiven Schulkulturen mit der großen Heterogenität ihrer Schüler:innenschaft umgehen (Fuhrmeister 2007).
5 Die reformpädagogische „Grammar of Schooling“
Abschließend sollen in einem eklektischen Zugriff, d.h. unter bewusster Vernachlässigung der jeweiligen geschichtlichen Kontexte und weltanschaulichen Begründungszusammenhänge (Böhm 2012) einige reformpädagogischen „Essentials“ zusammengestellt werden, die auch als innovatives Drehbuch für Schul- und Unterrichtsentwicklung an öffentlichen Regelschulen heute betrachtet werden können.
5.1 Raum
In der räumlichen Dimension geht es um die Gestaltung der Schule als einladenden und vielfältig nutzbaren Lebensraum; die Klasse soll eine „Schulwohnstube“, d.h. eine stabile Heimat für die Schüler:innen sein, welche um zusätzliche offene Lernzonen, Ateliers und Fachräume ergänzt wird. Die Metapher vom Raum als drittem Erzieher neben Lehrperson und Lehrgang bringt diese Anregungen klar zum Ausdruck.
5.2 Zeit
In zeitlicher Hinsicht geht es einerseits um eine Verdichtung und Konzentration des Unterrichts in einer täglich doppelstündigen Freiarbeitsphase oder in einer Epoche, in der ein Fach blockweise über mehrere Wochen täglich unterrichtet wird. Andererseits können bei einer Individualisierung des Lernens den Schüler:innen Aufgaben für unterschiedlich lange Zeiträume gestellt werden (Tages- bis Wochenpläne).
5.3 Soziale Dimension
In der sozialen Dimension reichen die reformpädagogischen Anregungen von der Aufhebung der Jahrgangsklasse zugunsten altersgemischter Lerngruppen bis zu einer Intensivierung der Lehrer-Schüler-Beziehungen durch eine zeitliche Ausweitung des Klassenlehrer-Prinzips. Nicht zu vergessen ist auch die Verstärkung der Schülerpartizipation durch regelmäßige Mitbestimmungsforen wie den Klassenrat.
5.4 Inhalt
In der inhaltlichen Dimension geht es reformpädagogischen Schulen um Ansätze eines überfachlichen und eines praktischen Lernens, das den regulären, stark kognitiv ausgerichteten Unterricht transzendiert und in ästhetisch-expressive, technisch-handwerkliche und sozial-ökologische Bereiche hineinführt (z.B. Textproduktion, Schultheater, Werkstätten, Praktika).
5.5 Methoden
Das größte reformpädagogische Innovationspotenzial liegt in der methodischen Dimension, die von den Prinzipien Selbsttätigkeit und Gemeinschaftlichkeit inspiriert wird. Immer wieder beeindruckt z.B. das Konzept des genetischen Lehrens, bei dem der Unterricht von einem erstaunlichen Phänomen bzw. Problem ausgeht und die Schüler:innen in Gruppen Lösungsvorschläge erarbeiten lässt. Tradition hat auch die Praxis, die schulische Leistungsbeurteilung zu individualisieren bzw. zu entstandardisieren, wozu Portfolios, Selbsteinschätzungen und Lernberichte der Lehrpersonen beitragen. Nicht zuletzt geht es auch um die Individualisierung des unterrichtlichen Lernens selbst, das z.B. durch Lernverträge, individuelle Lernwege und regelmäßige Rückmeldungen gekennzeichnet ist. Solche Formen offenen Unterrichts finden heute ihren konzeptionellen Rückhalt insbesondere in den Ansätzen einer sich als konstruktivistisch bezeichnenden Didaktik.
6 Quellenangaben
Böhm, Winfried, 2012. Die Reformpädagogik: Montessori, Waldorf und andere Lehren. München: C.H. Beck. ISBN 978-3-406-64052-0
Bräu, Karin und Heiner Ullrich, 2022. Reformschulen. In: Marius Harring, Carsten Rohlfs und Michaela Gläser-Zikuda, Hrsg. Handbuch Schulpädagogik. Münster, 2. aktualis.u. erw. Aufl. New York: Waxmann, S. 220–225. ISBN 978-3-8252-8796-2
Flitner, Andreas, 1999. Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. Erw. Neuausg. München: Piper. ISBN 978-3-407-22386-9
Fuhrmeister, Uta, 2007. Umgang mit Verschiedenheit als Aspekt von Schulkultur: Haltung zu und Umgang mit verhaltensauffälligen Schülern an Freinet-Schulen. Mainz: Diss. Universität.
Hansen-Schaberg, Ilse und Bruno Schonig, Hrsg., 2002. Reformpädagogik. Bd. 1. Geschichte und Rezeption. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. ISBN 978-3-89676-498-0
Idel, Till-Sebastian und Heiner Ullrich, 2008. Reform- und Alternativschulen. In: Werner Helsper und Jeanette Böhme Hrsg. Handbuch der Schulforschung. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag, S. 363–383. ISBN 978-3-8100-3659-9
Idel, Till-Sebastian, Heiner Ullrich und Sven Pauling, 2022. Reform- und Alternativschulen. In: Tina Hascher, Werner Helsper und Till-Sebastian Idel, Hrsg. Handbuch Schulforschung. Bd. 1, 3. überarb. u. aktualis. Aufl. Wiesbaden: Springer VS, S. 385–409. ISBN 978-3-658-24728-7
Keim, Wolfgang, 2016. Mein Weg zu einer gesellschaftlich vermittelten Sicht der Reformpädagogik als pädagogische Epoche. In: Maren Gronert und Alban Schraut, Hrsg. Sicht-Weisen der Reformpädagogik. Würzburg: Ergon, S. 93–107. ISBN 978-3-95650-148-7
Kerbs, Diethart und Jürgen Reulecke, Hrsg., 1998. Handbuch der deutschen Reformbewegungen. Wuppertal: Peter Hammer Verlag. ISBN 978-3-8729-4787-1
Oelkers, Jürgen, 2010. Reformpädagogik: Entstehungsgeschichte einer internationalen Bewegung. Zug: Klett und Balmer. ISBN 978-3-2648-3849-7
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Röhrs, Hermann, 1991. Reformpädagogik: Ursprung und Verlauf unter internationalem Aspekt. 3. Auflage. Weinheim: Deutscher Studienverlag. ISBN 978-3-8252-8215-8
Schulze, Theodor, 2011. Thesen zur deutschen Reformpädagogik. In: Zeitschrift für Pädagogik 57, S. 760–779. ISSN 0044-3247
Skiera, Ehrenhard, 2018. Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Reprint. München, Wien: Oldenbourg. ISBN 978-3-4862-7413-4
Tenorth, Heinz-Elmar, 2011. Reformpädagogik in der Diskussion. In: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 34(63), S. 8–25. ISSN 0175-6559
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Ullrich, Heiner und Till-Sebastian Idel, 2017. Einleitung. In: Till-Sebastian Idel und Heiner Ullrich, Hrsg. Handbuch Reformpädagogik. Weinheim, Basel: Beltz, S. 8–20. ISBN 978-3-407-83190-3 [Rezension bei socialnet]
7 Literaturempfehlungen
Barz, Heiner, Hrsg. 2018. Handbuch Bildungsreform und Reformpädagogik. Wiesbaden: Springer VS. ISBN 978-3-658-07490-6 [Rezension bei socialnet]
Böhm, Winfried, 2012. Die Reformpädagogik: Montessori, Waldorf und andere Lehren. München: C.H. Beck. ISBN 978-3-406-64052-0
Herrmann, Ulrich und Steffen Schlüter, Hrsg. 2012. Reformpädagogik: eine kritisch-konstruktive Vergegenwärtigung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. ISBN 978-3-7815-1846-9 [Rezension bei socialnet]
Idel, Till-Sebastian und Heiner Ullrich, Hrsg, 2017. Handbuch Reformpädagogik. Weinheim, Basel: Beltz. ISBN 978-3-407-83190-3 [Rezension bei socialnet]
Skiera, Ehrenhard, 2018. Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart. Reprint. München, Wien: Oldenbourg. ISBN 978-3-4862-7413-4
Verfasst von
Prof. Dr. Heiner Ullrich
Institut für Erziehungswissenschaft
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Zitiervorschlag
Ullrich, Heiner,
2023.
Reformpädagogik [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 12.10.2023 [Zugriff am: 12.09.2024].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/889
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