Reggio-Pädagogik
Prof. Dr. Sabine Lingenauber
veröffentlicht am 20.05.2020
In Deutschland wird der pädagogische Ansatz der kommunalen Kindertagesstätten und Krippen der norditalienischen Stadt Reggio Emilia als Reggio-Pädagogik bezeichnet. International wird der Ansatz aber nicht nur auf die Kindertageseinrichtungen bezogen, sondern vielmehr auf die Identität der gesamten Stadt Reggio Emilia (Bertani 1990, S. 29; Rinaldi 2006a, S. 121) und als Reggio Emilia Approach bezeichnet (Edwards et al. 2012).
Überblick
- 1 Zusammenfassung
- 2 Geschichte
- 3 Prinzipien
- 4 Quellenangaben
- 5 Literaturhinweise
- 6 Informationen im Internet
1 Zusammenfassung
Der Reggio Emilia Approach ist in elf europäischen Ländern und auf sämtlichen Kontinenten der Welt verbreitet. Einzigartig in Europa ist die aus der Kinderrechtskonvention abgeleitete „Erklärung der drei Rechte“, die die Kindertageseinrichtungen in Reggio Emilia im Jahr 1993 schriftlich fixierten (Malaguzzi 1995, S. 63 ff.). Darin wird Kindern, PädagogInnen und Eltern das Recht auf Partizipation am gemeinschaftlichen Erziehungsprozess verbindlich zugesprochen (Lingenauber 2013, S. 51 ff.). In diesem Dokument stehen die Rechte der Kinder nicht isoliert für sich, sondern in einer Wechselwirkung mit den Rechten der PädagogInnen und auch denen der Eltern. In der Kommune Reggio Emilia wird der Ansatz in Krippen, Kindertagesstätten und einer Grundschule umgesetzt. Zum Verbund der 33 kommunalen Kindertageseinrichtungen gehört heute auch das kreative Recycling-Center „REMIDA“, in dem es um den nachhaltigen und kostenfreien Einsatz von Projektmaterialien geht.
Neue Forschungsergebnisse zeigen, welchen Einfluss Partisaninnen, Bürgerinnen, Dezernentinnen, Politikerinnen und Stadträtinnen von der Resistenza (1943–1945) über die Frauenbewegung bis in die Gegenwart hinein auf die Entstehung der Reggio-Pädagogik (Reggio Emilia Approach) haben.
2 Geschichte
Der Reggio Emilia Approach basiert auf den Erfahrungen eines Gemeinwesen-Projektes, das die Identität der Stadt Reggio Emilia nachhaltig geprägt hat (Bertani 1990, S. 29; Rinaldi 2006a, S. 121). Der Ansatz entstand aus der „Resistenza“ heraus, dem antifaschistischen Befreiungskampf der lokalen Bevölkerung in den Jahren 1943 bis 1945 (Lingenauber 2017, S. 533). Die „Frauenverteidigungsgruppen“ (Gruppi di Difesa della Donna) forderten bereits während der Widerstandszeit die „Verteidigung der Kindheit“ durch die Schaffung eines umfangreichen Verbundes von Kindertageseinrichtungen (Barazzoni 2000, S. 26; Giaroni 2002, S. 27). Bürgerinnen und Bürger gründeten unmittelbar nach Kriegsende selbstverwaltete Kindertagesstätten. Die „Vereinigung Italienischer Frauen“ (UDI) und das „Nationale Befreiungskomitee“ (CLN) unterstützten die Gründung weiterer Kindertagesstätten in Reggio Emilia (z.B. in Villa Sesso, San Maurizio, Massenzatico). Bei der Gründung wurden die Frauen von einem tiefen Gefühl der Solidarität angetrieben (Lingenauber 2018a). Sie wollten eine neue Gesellschaft für die zukünftige Generation aufbauen (Apari et al. 1993). Diese ersten Kindertagesstätten bildeten die Basis für den heutigen Reggio Emilia Approach (Rinaldi 2006b, S. 180). Das Denken und Handeln der Gründerinnen und Gründer der ersten selbstverwalteten Kindertagesstätten orientierte sich bereits am Prinzip der Partizipation (Lingenauber 2018b). Dieses in der Zeit des Widerstands entstandene Prinzip ist – wie neue Forschungsergebnisse zeigen – bis heute grundlegend für diesen Ansatz (Lingenauber 2018a; 2018b; 2018c). Nach über zwanzig Jahren der Selbstverwaltung erfolgte in der Zeit von 1967 bis 1973 die Kommunalisierung der fünf noch existierenden selbstverwalteten Kindertagesstätten (Reggio Children 2012). Der quantitative Ausbau der Einrichtungen in den 1970er-Jahren entsprang dem Engagement von Frauen und der Stadt Reggio Emilia (Giaroni in Lingenauber 2020).
3 Prinzipien
Die Arbeit in den kommunalen Krippen und Kindertagesstätten basiert auf vier Prinzipien:
- Partizipation,
- Gleichheit und Verschiedenheit,
- Gemeinschaft und Kooperation sowie
- Ästhetik (Lingenauber 2018b, S. 55 ff.).
Die vier Prinzipien leiten das Denken und Handeln der Pädagoginnen und sämtlicher beteiligter Personen.
3.1 Partizipation
Das Prinzip der Partizipation entstand in der Zeit des Widerstandes (1943–45) und ist bis heute grundlegend für diesen Ansatz (Lingenauber 2018b, S. 55). Die Partizipation der Kinder, Pädagoginnen und Eltern ist somit seit den Anfängen für den Ansatz konstitutiv (Lingenauber 2017, S. 539). Carla Rinaldi betont, dass der Dialog mit den Familien und die Partizipation der Stadt immer schon die Identität des Reggio Emilia Approachs prägten (Rinaldi 2006c, S. 155).
3.2 Gleichheit und Verschiedenheit
Der Reggio Emilia Approach basiert auf einem Menschenbild, das Differenzen als Bereicherung für jeden Bildungsprozess versteht (Reggio Children in Lingenauber 2016, S. 65). In den kommunalen Kindertageseinrichtungen in Reggio Emilia wird jedem Kind eine große Wertschätzung entgegengebracht. Bildlich gesprochen verfügt jedes Kind über „hundert Sprachen“, wobei die verbale Sprache nur eine davon ist (Lingenauber 2017, S. 538). Die Metapher der „hundert Sprachen“ steht für die Kompetenzen des Kindes wie seine unerschöpflichen Ausdrucksweisen, die weit über die Verbalsprache hinausreichen. Aus diesem Menschenbild leitet der Reggio Emilia Approach unter anderem das Recht jedes Kindes auf Beteiligung ab. Die Rechte der Kinder stehen aber nicht isoliert, sondern in einer Wechselwirkung mit den Rechten der Pädagoginnen und auch denen der Eltern. Köchinnen haben als Beschäftigte beispielsweise ebenso das Recht auf Beteiligung wie Pädagoginnen und zwar in sämtlichen Arbeitsbereichen der Kindertageseinrichtungen wie z.B. bei der Bestimmung des konzeptionellen Rahmens, der Ziele und Inhalte, des didaktischen Konzepts, der Auswahl der Methoden sowie der Gestaltung der Arbeitsorganisation und der partizipativen Leitung (Lingenauber 2013, 51 ff.). Analog zu den Rechten der Kinder und denen der Pädagoginnen wird den Eltern im Reggio Emilia Approach ein Recht auf aktive Beteiligung am gemeinschaftlichen Erziehungsprozess zugesprochen. Dabei umfasst dieses Recht unter anderem die „Erfahrung des Wachsens, des Sorgens und der Bildung der eigenen Kinder“ (Malaguzzi 1995, S. 65).
3.3 Gemeinschaft und Kooperation
Das Prinzip der Gemeinschaft und Kooperation ist sehr vielfältig. Es bezieht sich sowohl auf die Kinder und die Eltern als auch auf die Pädagoginnen sowie die Bürgerinnen und Bürger. Bereits seit der Gründung der ersten Kindertagesstätten im Jahr 1945 wird dieses Prinzip in der Leitungsform sichtbar. Von den ersten selbstverwalteten Kindertagesstätten an gibt es bis heute in den Kindertageseinrichtungen in Reggio Emilia keine Einrichtungsleitung. Vielmehr leitet ein Komitee, zusammengesetzt aus Mitarbeitinnen, Bürgerinnen und Bürger sowie Eltern jeweils eine Kindertageseinrichtung (Göhlich 2009, S. 79 ff.).
Ein weiteres Beispiel für die Kooperation von Pädagoginnen, Eltern, Bürgerinnen und Bürgern stellt die „REMIDA“ dar. Sie ist ein kreatives Recycling-Center, das den nachhaltigen und kostenfreien Einsatz von Materialien in Projekten ermöglicht (Lingenauber und Niebelschütz 2019, S. 45). Kinder und Pädagoginnen wählen gemeinsam in der „REMIDA“ Materialien für ihre Projekte aus. Die von etwa 200 Unternehmen jährlich gelieferten 40 Tonnen Material (z.B. Stoffe, Knöpfe, Papier) werden dank der „REMIDA“ wieder in Umlauf gebracht (ebd.).
Auch das Lernen der Kinder vollzieht sich in der Gemeinschaft, wobei in den Projekten die Kooperation der Kinder bewusst gefördert wird. Die verschiedenen Formen der Dokumentation in den kommunalen Kindertageseinrichtungen, wie z.B. die Wanddokumentation, lässt die Kinder bewusst wahrnehmen, dass unterschiedliche Ideen und Meinungen den gemeinsamen Lernprozess bereichern (Niebelschütz 2018, S. 57). Eine besondere Form der Wanddokumentation zeigt das untenstehende Foto der kommunalen Krippe „Zenit“ in der Provinz Reggio Emilia aus dem Jahr 2016.

3.4 Ästhetik
In den 1970er-Jahren brachte die Einführung der Ateliers zur Förderung der visuellen Sprachen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen das Prinzip der Ästhetik hervor (Lingenauber 2018b, S. 55; Manera 2019). Die Atelierleiterinnen „arbeiten an der Seite der Lehrerinnen in den kommunalen Schulen Reggios, häufig von einem Atelier aus […], wo sie die visuellen Sprachen von Kindern und Erwachsenen unterstützen und entwickeln, als Teil eines komplexen Prozesses des Aufbaus von Wissen“ (Dahlberg und Moss 2010, S. xiii, Übersetzung der Verfasserin). Im Atelier erhalten Kinder die Möglichkeit, sich auf vielfältige Weise – in „hundert Sprachen“ – auszudrücken und in Berührung mit verschiedenen Sichtweisen zu kommen, wobei die Ausdruckskraft und die Kreativität jedes Kindes wertgeschätzt wird (Preschools and Infant-toddler Centres of Reggio Emilia 2017, S. 40).
4 Quellenangaben
Apari, Anna und Laura Spinabelli, 1993. 1945–1956. „Sebben che siamo donne“: gli anni dal I al V congresso.In: Anna Apari, Laura Artioli, Nadia Caiti, Dianella Gagliani und Laura Spinabelli, Hrsg. Paura non abbiamo …: L’Unione donne italiane di Reggio Emilia nei documenti, nelle immagini, nella memoria. 1945–1982. Reggio Emilia: Il Nove, S. 109–143
Barazzoni, Renzo, 2000. Brick by Brick: The History of the „XXV Aprile“ People’s Nursery School of Villa Cella. Reggio Emilia: Reggio Children
Bertani, Eletta, 1990. Kommunalpolitischer Beitrag aus Reggio Emilia. In: Projektgruppe Reggio/​Hamburg, Hrsg. Wenn das Auge über die Mauer springt: Hamburger Dokumentation. Hamburg: Eigendruck. S. 29–31
Dahlberg, Gunilla und andere, 2010. Note on Reggio Emilia terminologies. In: Vea Vecchi, Hrsg. Art and Creativity in Reggio Emilia: Exploring the role and potential of ateliers in early childhood education. Oxon: Routledge, S. xii-xiii. ISBN 978-0-415-46878-7
Edwards, Carolyn, George Forman und Lella Gandini, Hrsg., 2012. The hundred languages of children: The Reggio Emilia Approach to early childhood education. 3. Auflage. Norwood: Praeger. ISBN 978-0-313-35981-1
Giaroni, Loretta, 2002. Our first 26 years: Dates, Facts, Protagonists. In: Reggio Children, Hrsg. Along the Levee Road: Our School turns 50 – from nursery school to Municipal Centro Verde Preeschool. 1945–1997. Reggio Emilia: Reggio Children, S. 7–26. ISBN 978-88-87960-30-3
Göhlich, Michael, 2009. Reggiopädagogik – Innovative Pädagogik heute: Zur Theorie und Praxis der kommunalen Kindertagesstätten von Reggio Emilia. 10. Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer. ISBN 978-3-89501-279-2
Lingenauber, Sabine, 2013. Einführung in die Reggio-Pädagogik: Kinder, Erzieherinnen und Eltern als konstitutives Sozialaggregat. 6. Auflage. Bochum: Projektverlag. ISBN 978-3-89733-191-4 [Rezension bei socialnet]
Lingenauber, Sabine, 2016. Inklusive Pädagogik. In: Sabine Lingenauber, Hrsg. Handlexikon der Reggio-Pädagogik. 6. Auflage. Bochum: Projektverlag, S. 63–65. ISBN 978-3-897-33392-5
Lingenauber, Sabine, 2017. Der Reggio Emilia Approach: Partizipation in Geschichte und Gegenwart.In: Heiner Barz, Hrsg. Handbuch Reformpädagogik und Bildungsreform. Wiesbaden: Springer, S. 533–539. ISBN 978-3-658-07490-6 [Rezension bei socialnet]
Lingenauber, Sabine, 2018a. Album Reggio Emilia. Bochum: Projektverlag. ISBN 978-3-89733-441-0
Lingenauber, Sabine, 2018b. Vier Prinzipien: Grundlagen des Reggio-Emilia-Ansatzes. In: Zeitschrift für Frühpädagogik „klein&groß“. 71(07), S. 55–57. ISSN 0863-4386
Lingenauber, Sabine, 2018c. Die Frauen und die Schulen von Reggio Emilia (Teil 2) [DVD]. Bochum: Projektverlag. ISBN 978-3-89733-442-7
Lingenauber, Sabine, 2020. Die Frauen und die Schulen von Reggio Emilia (Teil 1) [DVD]. Bochum: Projektverlag (im Erscheinen)
Lingenauber, Sabine und Janina L. von Niebelschütz, 2019. REMIDA: Ein Ort der Forschung und Provokation. In: Zeitschrift für Frühpädagogik „klein&groß“. 72(04), S. 44–46. ISSN 0863-4386
Malaguzzi, Loris, 1995. Die Erklärung der drei Rechte. In: Reggio Children, Hrsg. Ein Ausflug in die Rechte von Kindern: Aus Sicht der Kinder. Neuwied: Luchterhand, S. 63–66. ISBN 978-3-472-02984-7
Manera, Lorenzo, 2019. The aesthetic experience in the Reggio Emilia Approach. In: Studi di estetica. 47(1), S. 129–147. ISSN 0585-4733
Niebelschütz, Janina L. von, 2018. Garten auf dem Fenster. In: Zeitschrift für Frühpädagogik „klein&groß“. 71(10), S. 56–57. ISSN 0863-4386
Preschools and Infant-toddler Centres – Istituzione of the Municipality of Reggio Emilia, Hrsg., 2017. Charter of Services of the Municipal Infant-toddler Centres and Preschools. Reggio Emilia: Reggio Children. ISBN 978-88-87960-92-1
Reggio Children, Hrsg., 2012. One city, many children: Reggio Emilia, a history of the present. Reggio Emilia: Reggio Children. ISBN 978-88-87960-79-2
Rinaldi, Carlina, 2006a. The construction of the educational project: an interview with Carlina Rinaldi (2000). In: Carlina Rinaldi, Hrsg. In Dialogue with Reggio Emilia: Listening, Researching and Learning. Oxon/New York: Routledge, S. 121–136. ISBN 978-0-415-34504-0
Rinaldi, Carlina, 2006b. In dialogue with Carlina Rinaldi: a discussion between Carlina Rinaldi, Gunilla Dahlberg and Peter Moss. In: Carlina Rinaldi, Hrsg. In Dialogue with Reggio Emilia: Listening, Researching and Learning. Oxon: Routledge, S. 178–209. ISBN 978-0-415-34504-0
Rinaldi, Carlina, 2006c. The organization, the method: a conversation with Carlina Rinaldi (1998). In: Carlina Rinaldi, Hrsg. In Dialogue with Reggio Emilia: Listening, Researching and Learning. Oxon: Routledge, S. 143–167. ISBN 978-0-415-34504-0
5 Literaturhinweise
Reggio Children, Hrsg., 2013. Storie d’ombra: poetica di un incontro tra scienza e narrazione [DVD]. Reggio Emilia: Reggio Children. ISBN 978-88-87960-76-1
Reggio Children, Hrsg., 2011. The Wonder of learning: The hundred languages of children. Reggio Emilia: Reggio Children. ISBN 978-88-87960-66-2
Rodari, Gianni, 2008. Grammatik der Phantasie: Die Kunst, Geschichten zu erfinden. Stuttgart: Reclam. ISBN 978-3-15-021648-4
6 Informationen im Internet
- Visionen für die Zukunft. Eine Dokumentation zum Forschungsprojekt Reggio Emilia Research
- Die Frauen und die Schulen von Reggio Emilia (Video)
- Reggio Children
Verfasst von
Prof. Dr. Sabine Lingenauber
Hochschule Fulda, Fachbereich Sozialwesen
Leiterin des B. A.-Studiengangs "Frühkindliche inklusive Bildung" (BiB)
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Es gibt 1 Lexikonartikel von Sabine Lingenauber.
Zitiervorschlag
Lingenauber, Sabine,
2020.
Reggio-Pädagogik [online]. socialnet Lexikon.
Bonn: socialnet, 20.05.2020 [Zugriff am: 06.02.2025].
Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/6023
Link zur jeweils aktuellsten Version: https://www.socialnet.de/lexikon/Reggio-Paedagogik
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