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Relationale Soziale Arbeit

Prof. Dr. habil. Björn Kraus

veröffentlicht am 22.12.2023

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Etymologie: lat. relatio Beziehung, Verhältnis; griech. σχέση Verhältnis

Englisch: relational social work

Fassung: Überarbeitung

Eine Relationale Soziale Arbeit fokussiert sowohl die Relationen zwischen Individuen und deren Umwelt als auch die Individuen als konstruierende Subjekte und deren soziale und materielle Umwelten als relationale Konstruktionsbedingungen. Auf Basis der erkenntnis- und sozialtheoretischen Grundlagen des Relationalen Konstruktivismus werden sowohl Gegenstand und Funktion als auch das Professionsverständnis als relational bestimmt.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Zum Begriff Relationalität
  3. 3 Definition Soziale Arbeit
  4. 4 Vom Relationalen Konstruktivismus zu einer Relationalen Sozialen Arbeit
  5. 5 Zur Relationalen Lebenswelt-Lebenslage-Konzeption
  6. 6 Lebenswelten und Lebenslagen erkennen und verstehen: Nichtverstehen als professionelle Kommunikationskompetenz
  7. 7 Individuelle und soziale Systeme – Individuen und Gesellschaft
  8. 8 Hilfe und Kontrolle als Entscheidungs- und Funktionsprobleme
    1. 8.1 Kontrolle: Beschränkung oder Unterstützung?
    2. 8.2 Hilfe: Unterstützung oder Bevormundung?
  9. 9 Kritik und Gegenkritik
    1. 9.1 Individualisierung jeglicher Verantwortung?
    2. 9.2 Machtblindheit gegenüber der Mikro-, Mako- und Mesoebene?
    3. 9.3 Bild für den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge?
    4. 9.4 Moralische Beliebigkeit und normative Entscheidungsunfähigkeit?
  10. 10 Genese und Verortung
    1. 10.1 Lebensweltorientierung und Relationale Soziale Arbeit
    2. 10.2 Systemisch-konstruktivistische Verortung
    3. 10.3 Relationale Wende in den Human- und Sozialwissenschaften
  11. 11 Wissenschaftstheoretische Verortung
  12. 12 Quellenangaben
  13. 13 Literaturhinweise
    1. 13.1 Primärquellen
    2. 13.2 Sekundärquellen
    3. 13.3 Informationen im Internet

1 Zusammenfassung

Der Entwurf einer Theorie der Relationalen Sozialen Arbeit (Kraus 2019; Lambers 2020, S. 203–208) basiert maßgeblich auf den erkenntnis- und sozialtheoretischen Grundlagen des Relationalen Konstruktivismus. Die Kategorie der Relation wird dabei als grundlegend für die Soziale Arbeit ausgewiesen:

„Zum einen, wenn es um Fragen nach dem ‚Gegenstand‘ oder vielmehr der Funktion und Zuständigkeit der Sozialen Arbeit geht, zum anderen, wenn Kriterien der Professionalität der Fachkräfte der Sozialen Arbeit bestimmt werden sollen“ (Kraus 2019, S. 24).

Relational-konstruktivistisch begründet, legt eine Relationale Soziale Arbeit den Fokus auf die Relationen zwischen Individuen und deren Umwelt, ohne dabei die Individuen als konstruierende Subjekte und deren soziale und materielle Umwelten als relationale Konstruktionsbedingungen außer Acht zu lassen.

„Zu den Besonderheiten des Ansatzes gehört von Anfang an die Verbindung erkenntnis- und sozialtheoretischer Perspektiven“ (Engelke et al. 2018, S. 550).

2 Zum Begriff Relationalität

Aktuell scheinen relationale Ansätze und Perspektiven modern zu sein. Damit verbunden ist eine zunehmend inflationäre und keineswegs immer theoretisch begründete Verwendung des Begriffs der Relation. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier zumindest festgehalten, dass im Rahmen einer Theorie der Relationalen Sozialen Arbeit das Relationalitätsverständnis des Relationalen Konstruktivismus verwendet wird.

Konstitutiv ist, dass der Begriff relational nicht als Synonym für den Begriff sozial verwendet wird, sondern „um Beziehungen, bzw. Verhältnisse zwischen festzulegenden Einheiten (Entitäten, die auch Systeme sein können) zu benennen“ (Kraus 2023). Zudem wird der Begriff nicht substanzialistisch verstanden (Wolzogen 1992) – Relationen gelten nicht als objektiv erkennbare „Dinge“. Relational-konstruktivistisch wird zwar von Subjekten, Umwelten und deren Relationen ausgegangen, dabei aber betont, dass darüber nur relationale Aussagen aus Beobachterperspektiven getroffen werden können.

Wie im weiteren Verlauf deutlich wird, geht es für Soziale Arbeit auf dieser Basis um die Grenzen und Möglichkeiten relationaler Aussagen über Subjekte, Systeme, Umwelten und deren Relationen. Damit wird die Perspektive der Relationalität gleichsam auch auf sich selbst angewendet und Relationen nicht nur zum Gegenstand der Betrachtung (was wird betrachtet?), sondern auch zur entscheidenden Kategorie bei der Betrachtung der Betrachtung (wie wird betrachtet?). (Ausführlich siehe das Kapitel Relationalität im Beitrag Relationaler Konstruktivismus).

3 Definition Soziale Arbeit

Grundlegend für den Entwurf einer Theorie der Relationalen Sozialen Arbeit ist die folgende allgemeine Bestimmung der Sozialen Arbeit.

  • Soziale Arbeit leistet einen Beitrag zur Gestaltung des Sozialen,
  • der in seinen Zielen an Kriterien der sozialen Gerechtigkeit orientiert ist,
  • der in seinen Entscheidungen und Handlungen wissenschaftlich begründet und reflektiert wird,
  • der die Interessen von Individuen und Gesellschaft berücksichtigt und
  • der in seiner Zuständigkeit auf die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft fokussiert ist (Kraus 2019, S. 24).

Deutlich wird dabei eine weite Perspektive, die auch den Relationalen Konstruktivismus (vgl. Kapitel 5.2) kennzeichnet. Ausgehend von der Relationalität menschlichen Seins wird eine funktionale Bestimmung der Sozialen Arbeit vorgenommen.

Die Bestimmung der Sozialen Arbeit als Profession und Disziplin erfolgt damit

  1. allgemein über die Funktion für das Individuum und die Gesellschaft
  2. über normative und
  3. fachliche Grundlagen, sowie
  4. einen spezifischen Fokus und
  5. den Bereich der Zuständigkeit.

Als professionelle Soziale Arbeit gilt diese also erst dann, wenn sie nicht nur normativ orientiert, sondern auch wissenschaftlich begründet ist (etwa im Unterschied zum Ehrenamt) und ihre Zuständigkeit dabei vor allem auf der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft liegt (etwa im Unterschied zu Professionen, die den Fokus eher entweder auf Individuen oder auf gesellschaftliche Systeme legen).

Festgelegt wird damit auch, dass die Expertise und Identität der Sozialen Arbeit vor allem auf die Interaktion von Menschen mit ihren Umwelten oder allgemein auf die Relationalität menschlichen Seins gerichtet sind. Als Grundlage dieser Expertise werden neben Theorien über Individuen und sozialen Systemen vor allem Theorien zur Relationalität genutzt und entwickelt (Kraus 2019).

4 Vom Relationalen Konstruktivismus zu einer Relationalen Sozialen Arbeit

Engelke, Borrmann und Spatscheck skizzieren in ihrem Lehrbuch „Theorien der Sozialen Arbeit“ den Verlauf von den radikal-konstruktivistischen Anfängen in den 1990er-Jahren hin zur Entwicklung des Relationalen Konstruktivismus und einer darauf aufbauenden Relationalen Sozialen Arbeit und bilanzieren:

„Kraus legt mit seiner Theorie eine Theorie der Sozialen Arbeit vor, die mit den aktuellsten Ergänzungen erkenntnistheoretische Grundannahmen, sozialtheoretische Reflexionswerkzeuge und methodische Implikationen für die Soziale Arbeit verbindet“ (Engelke et al. 2018, S. 562).

Wenn die theoretische Perspektive des Relationalen Konstruktivismus auf eine Relationale Soziale Arbeit übertragen wird (vgl. Abb. 1), dann entspricht die Beachtung von Akteur:innen und deren sozialen und materiellen Umwelten, mithin die Beachtung von Relationen zwischen Lebenswelten und Lebenslagen der Zuständigkeit der Sozialen Arbeit für die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft.

Die Beachtung der relationalen Erkenntnis- und Interaktionsbedingungen gehört zu den wesentlichen Grundlagen der Professionalität der Sozialen Arbeit (Kraus 2019, S. 24 f.).

Fokus Relationaler Konstruktivismus – Relationale Soziale Arbeit
Abbildung 1: Fokus Relationaler Konstruktivismus – Relationale Soziale Arbeit (Kraus 2020, S. 120)

Sowohl die Zuständigkeit als auch die Reflexions- und Relationierungskompetenzen bestimmen wesentlich die spezifische Expertise und Identität einer professionellen Sozialen Arbeit. Während Fokus und Expertise etwa der Medizin vor allem auf den Organismus oder etwa der Soziologie vor allem auf soziale Systeme gerichtet sind, werden Fokus und Expertise einer Relationalen Sozialen Arbeit vor allem auf die Relationalität menschlichen Seins, mithin auf das soziale und materielle Eingebundensein des Menschen gerichtet. Erforderlich sind hierzu theoretische Grundlagen und Werkzeuge, die sowohl die Reflexion der Relationalität von Lebenswelten und Lebenslagen und damit von individuellen und sozialen Verhältnissen ermöglichen, als auch die systematische Reflexion der Relationen zwischen Beobachter:innen und dem, was sie beobachten, sowie der für diese Beobachtungen relevanten Faktoren (Wissensbestände, Persönlichkeitsstrukturen).

Genutzt wird hierzu der Relationale Konstruktivismus, da dieser grundlegend die Relationalität von Mensch und Umwelt reflektiert und dabei theoretische Modelle und begriffliche Werkzeuge entwickelt, mit denen sowohl Grenzen als auch Möglichkeiten der Lebensführung, des Erkennens, Entscheidens, Kommunizierens und Intervenierens begründet werden können. Eine Theorie der Relationalen Sozialen Arbeit entwickelt auf diesen Grundlagen theoretische Werkzeuge zur Reflexion sowohl der Möglichkeit als auch der Legitimität von Hilfe und Kontrolle (Kraus 2021b). Zudem werden weitere für die Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit relevante Fragestellungen bearbeitet. Dabei geht es neben verschiedenen Bereichen professionellen Handelns auch grundlegend um die wissenschaftstheoretische Bestimmung einer Relationalen Sozialen Arbeit als Wissenschaft und Praxis (Kraus 2019, S. 145–212). Die Expertise und Zuständigkeit für die Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft, mithin für Menschen, Umwelten und Relationen begründen dabei einen notwendigen Beitrag sui generis zur Gestaltung des Sozialen, den nur Soziale Arbeit leisten kann.

5 Zur Relationalen Lebenswelt-Lebenslage-Konzeption

Wesentlich für den Entwurf einer Relationalen Sozialen Arbeit ist die relational-konstruktivistische Unterscheidung und Relationierung der wie folgt definierten Kategorien Lebenswelt und Lebenslage:

„Als Lebenslage gelten die materiellen und immateriellen Lebensbedingungen eines Menschen.

Als Lebenswelt gilt das subjektive Wirklichkeitskonstrukt eines Menschen, welches dieser unter den Bedingungen seiner Lebenslage bildet“ (Kraus 2019, S. 35).

Relational-konstruktivistisch benennt der Begriff der Lebenswelt die subjektive Perspektive eines Menschen, wohingegen der Begriff der Lebenslage für die Rahmenbedingungen dieser Perspektive steht. Diese Unterscheidung ermöglicht es, Lebenslagen als Rahmenbedingung der Konstruktion individueller Lebenswelten zu berücksichtigen. Lebenslagen können dabei eine begrenzende, aber auch eröffnende Bedingung sein.

Für die Soziale Arbeit erfolgt daraus die Einsicht, dass einerseits die Orientierung an der Lebenswelt nicht einfach durch die Auseinandersetzung mit der Lebenslage gelingen kann. Andererseits ist die Beachtung der Lebenslage dennoch notwendig, da diese wesentlich für die Möglichkeiten lebensweltlicher Konstruktionen ist. Denn auch wenn Lebenswelten kognitive Konstruktionen sind, so erfolgen diese doch unter den sowohl anregenden und ermöglichenden als auch einschränkenden Bedingungen der Lebenslage. (zu den theoretischen Ausgangspunkten der Kategorien Lebenswelt und Lebenslage vgl. das entsprechende Kapitel im Beitrag Relationaler Konstruktivismus)

6 Lebenswelten und Lebenslagen erkennen und verstehen: Nichtverstehen als professionelle Kommunikationskompetenz

Lebenslagen sind als Bedingungen lebensweltlicher Konstruktionen zu berücksichtigen, wobei im Blick zu halten ist, dass erstens Lebenslagen nicht objektiv erkannt werden können und zweitens die Lebenslage eines Menschen nicht identisch mit dessen Lebenswelt ist. Deswegen ist neben der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Lebenslagen auch die kommunikative Auseinandersetzung mit den konstruierten Lebenswelten notwendig (Kraus 2013, S. 122–123; Kraus 2019, S. 42–43). Allerdings sind auch auf diesem Wege nur die Ausschnitte zugänglich, die von Seiten der Kommunizierenden zugänglich gemacht werden und Verstehen ist nur im Rahmen der Interpretationsmöglichkeiten der Verstehenden möglich. Die Gedanken und Sichtweisen der Kommunizierenden bleiben so wenig überprüfbar, wie die Lebenswelt des Gegenübers in letzter Konsequenz erfassbar ist.

Dennoch ist Kommunikation eine notwendige Ergänzung zur Auseinandersetzung mit Lebenslagen. Denn auch wenn damit kein direkter Zugang zu Lebenswelten möglich wird, so ist sie doch ein Beitrag zur anschlussfähigen Annäherung (Verstehen) und zur wechselseitigen Orientierungsinteraktion (Verständigung). Wichtig ist hierbei die Beachtung sowohl der Unterscheidung als auch der strukturellen Koppelung zwischen dem individuellen Bereich der Kognition und dem sozialen Bereich der Kommunikation. Die Koppelung der Bereiche „soziale Systeme“ und „kognitive Systeme“ wird auf Basis von Kommunikatbasen ermöglicht, die im weitesten Sinne als kommunikative Mittel zu verstehen sind (vgl. Abb. 2)

Relational-Konstruktivistische Kommunikationstheorie
Abbildung 2: Relational-Konstruktivistische Kommunikationstheorie (Kraus 2022)

Vor allem Kommunikationsprozesse, die die Möglichkeit des Nichtverstehens berücksichtigen, reduzieren die Gefahr, Kommunikation vorschnell abzubrechen, in der irrtümlichen Annahme verstanden zu haben oder verstanden worden zu sein. Insofern gilt für eine Relationale Soziale Arbeit die paradoxe Folgerung, dass die Wahrscheinlichkeit erfolgreicher Lebensweltorientierung gerade durch die Einsicht zunimmt, Lebenswelten in letzter Konsequenz weder verstehen noch erfassen zu können. (Zur relational-konstruktivistischen Kommunikationstheorie vgl. Kraus 2017; 2019, S. 44–63 und Abb. 1, sowie das Kapitel Kommunikation im Beitrag Relationaler Konstruktivismus).

7 Individuelle und soziale Systeme – Individuen und Gesellschaft

Die Relationalität von Lebenswelten und Lebenslagen wird auch an dem für eine Relationale Soziale Arbeit grundlegenden relational-konstruktivistischen Verständnis von Systemen deutlich. Auch für Systeme gilt, dass diese nicht als beobachterunabhängige Einheiten erfasst, sondern nur aus einer Beobachterperspektive bestimmt werden können. Dementsprechend wird relational-konstruktivistisches System folgendermaßen definiert (Kraus 2019, S. 37):

„Als System gelten aus einer Beobachterperspektive als zusammenhängend bestimmte Gebilde, deren interne Relationen quantitativ und/oder qualitativ von ihren Relationen zu anderen Entitäten unterschieden werden.

Diese aus einer Beobachterperspektive bestimmten Unterschiede ermöglichen die Konstituierung einer Systemgrenze, durch die das System von seiner Umwelt unterschieden wird“ (Kraus 2023, o.S.).

Systeme können bio-psychische oder soziale Systeme sein, die aus einzelnen oder mehreren Personen bestehen und die über von Beobachter:innen festgelegte Kriterien als System bestimmt und von ihrer Umwelt unterschieden werden.

„Kraus Interesse an den Kopplungsbeziehungen zwischen kognitiven und sozialen Systemen eröffnet Möglichkeiten für die Entwicklung eines eigenen Kommunikationsmodells. Und hier geht es nicht allein um die Systeme, vielmehr um das Subjekt in systemischen Kontexten. Für die konstruktivistische Theorienbildung der Sozialen Arbeit ist dies ein Gewinn, da man dem radikalen Konstruktivismus vorhalten kann, dass er dem konstruierenden Subjekt zu viel und dem erkennenden zu wenig zutraut. So gelangt Kraus zu einem relationalen Konstruktivismus (Kraus 2019), mit dem er aufzeigen kann, dass der ‚Konstruktivismus auch gesellschaftstheoretisch gewendet werden kann‘ (Ritscher 2007, S. 55)“ (Lambers 2020, S. 207).

Damit wendet sich eine Relationale Soziale Arbeit gegen die Individualisierung jeglicher Verantwortung (vgl. Kapitel 9.1) und betont die wechselseitige Relationalität zwischen Individuum und Gesellschaft:

„Denn auch wenn wir Aufklärung, Emanzipation, Entwicklung und Entfaltung des unterscheidbaren Individuums und des erkennenden und handelnden Subjektes vertreten, so wird hieraus kein bildungs- und erziehungstheoretisches Primat des Individuums gefolgert. Erstens, da wie ausgeführt, auch Individuen nur relational gedacht werden können, zweitens, da mit einem Primat des Individuums und der Forderung nach dessen freier Entfaltung ‚Risiken und Nebenwirkungen‘ verbunden sind. Polemisierend könnte mit Blick auf die Entwicklungen seit den 1980er Jahren gefragt werden, ob in der Postmoderne, bzw. zweiten Moderne, mit der Freisetzung‘ der Individuen aus einengenden sozialen Zwängen und starren normativen Vorgaben (Beck 1986, S. 206), auch eine Befreiung‘ aus jeglicher Verantwortung für die Gemeinschaft einhergegangen ist“ (Kraus 2021b).

Damit wird aus Perspektive einer Relationalen Sozialen Arbeit zwar einerseits gegen ein unbedingtes Primat des Individuums argumentiert, aber andererseits keinesfalls ein Primat des Sozialen gefordert: Einer Überbewertung des Individuums wird die Beachtung des Sozialen entgegengehalten, wie auch einer Überwertung des Sozialen die notwendige Beachtung des Individuums entgegengestellt wird (Kraus 2023).

8 Hilfe und Kontrolle als Entscheidungs- und Funktionsprobleme

Für eine Relationale Soziale Arbeit zählen sowohl Hilfe als auch Kontrolle zu den grundlegenden Aufgaben. Damit positioniert sich eine Relationale Soziale Arbeit gegen Entwürfe, die nur Hilfe als Leistung der Sozialen Arbeit thematisieren oder sogar ausdrücklich Kontrollaufträge ablehnen. Auf Basis der hier zugrunde gelegten allgemeinen Definition (vgl. Kapitel 3) gilt als Ziel der Sozialen Arbeit eine Verbesserung der Verhältnisse sowohl für das Individuum als bio-psychisches System, als auch für die Gesellschaft als soziales System. Damit sind zum einen Spannungsfelder zu bearbeiten, die sich aus widersprüchlichen Interessenlagen ergeben und zum anderen zu entscheiden, wann neben Hilfe auch Kontrolle geleistet werden soll. Denn ohne das Bekenntnis zu Kontrollanteilen könnte Soziale Arbeit etwa im Bereich der Kindeswohlgefährdung keinen Beitrag zum Wächteramt des Staates leisten. Damit würde die Expertise der Sozialen Arbeit in diesem Bereich verloren gehen und es wäre zu fragen, welche Professionen diese kompensieren sollen und können. Zudem ist das Bekenntnis zu Kontrollaufträgen eine wichtige Voraussetzung, damit Kontrolle fachlich reflektiert, begründet, kontrolliert und transparent kommuniziert werden kann.

Unbenommen ist dabei, dass Soziale Arbeit sich kritisch mit der Legitimation von Kontrolle auseinandersetzen muss und zudem diese Perspektive auch auf den Bereich der Hilfe anzuwenden ist (etwa Hosemann und Trippmacher 2003; Hosemann 2021). Denn es gilt selbst- und gesellschaftskritisch zu hinterfragen, inwieweit auch mittels Hilfe Kontrolle geleistet und damit unter Umständen auch zur Stabilisierung ungerechter Verhältnisse beigetragen wird.

Insofern ist sowohl zu entscheiden, wann Hilfe und wann Kontrolle geleistet werden soll, als auch, ob diese überhaupt geleistet werden kann. Unumgänglich ist dabei die Klärung wie Hilfe und Kontrolle voneinander unterschieden werden können, damit nicht mit vermeintlicher Hilfe unreflektiert Kontrolle ausgeübt wird (Kraus 2021b).

8.1 Kontrolle: Beschränkung oder Unterstützung?

Kontrolle zielt auf die Einhaltung von Vorgaben, die rechtlich zu legitimieren und fachlich zu begründen sind. Grundlage sind somit gesellschaftliche und fachliche Entscheidungen darüber, was als richtig oder falsch gilt. Diese Entscheidungen sind zwar lediglich soziale Konstrukte, aber dennoch haben diese zu einem bestimmten Zeitpunkt für einen bestimmten Bereich ihre Gültigkeit. Für die Abgrenzung gegenüber der Kategorie der Hilfe ist wesentlich, dass die Entscheidungsmacht im Fall der Kontrolle bei den Fachkräften liegt.

Da die Wirksicherheit von Kontrolle von der eingesetzten instruktiven oder destruktiven Macht abhängt, wird zwischen instruktiver Kontrolle und destruktiver Kontrolle unterschieden und diese Kategorien wie folgt definiert:

„Als destruktive Kontrolle gilt das aus einer Beobachterperspektive bestimmte Interagieren eines Systems gegenüber einem anderen System zur Einhaltung von Vorgaben mittels destruktiver Macht.

Als instruktive Kontrolle gilt das aus einer Beobachterperspektive bestimmte Interagieren eines Systems gegenüber einem anderen System zur Einhaltung von Vorgaben mittels instruktiver Macht“ (Kraus 2021b, S. 108 f.).

Diese Kontrollformen haben wesentliche Gemeinsamkeiten mit den vorausgesetzten Machtformen: Ebenso wie die verwendete instruktive Macht kann instruktive Kontrolle am Eigensinn der zu Kontrollierenden scheitern, wohingegen das Durchsetzungspotenzial von destruktiver Kontrolle ebenso wie die genutzte destruktive Macht davon unabhängig ist. Zudem werden auch diese Kontrollformen nicht als ontologische Tatsachen verstanden, sondern als Durchsetzungsintentionen in sozialen Relationen, über deren Vorliegen aus einer Beobachterperspektive entschieden wird (Kraus 2019, S. 54–73; 2021b, S. 103 ff.).

8.2 Hilfe: Unterstützung oder Bevormundung?

Zu den grundlegenden Zielen einer Relationalen Sozialen Arbeit gehört die Hilfe zu einem „gelingenderen Leben“ (Thiersch 2012, S. 275 ff.). Auch dieses Ziel kann nur relational bestimmt werden, ebenso wie bei den Wegen der Zielerreichung die relationalen Bedingungen sowohl der Adressat:innen als auch der Unterstützung zu berücksichtigen sind. Dabei ist nicht nur zu klären, wer darüber entscheidet, was als ein mehr oder weniger gelingendes Leben gilt, sondern auch wer über die Wege entscheiden darf, auf denen dieses gelingendere Leben am besten zu erreichen sei.

Spätestens wenn die entsprechende Definitionsmacht auf der professionellen Seite verortet ist, gilt es zu überlegen, welche Leistungen, die gemeinhin als Hilfe verstanden werden, treffender als Kontrolle eingeordnet werden müssten (Kraus 2021b, S. 112).

Wesentlich zur Unterscheidung zwischen Hilfe und Kontrolle ist das Kriterium der Entscheidungshoheit. Im Fall von Hilfe liegt diese bei den Hilfesuchenden bzw. Hilfeempfänger:innen; im Fall von Kontrolle hingegen liegt die Entscheidungshoheit bei den kontrollierenden Fachkräften und Instanzen.

Grundlegend ist zu reflektieren, welche Leistungen der Sozialen Arbeit gegen den Willen der Adressat:innen und Nutzer:innen erbracht werden. Notwendig ist diese Reflexion nicht nur im Bereich der Kontrolle, sondern gerade bei Leistungen, die nicht auf Kontrolle zielen sollen. Denn auch wenn Fachkräfte keine Kontrolle ausüben wollen, kann schon durch die Auswahl der kommunizierten Sachverhalte orientierend auf die Adressat:innen eingewirkt und damit auch Kontrolle ausgeübt werden.

Insofern ist neben der Frage, ob Hilfe und Kontrolle geleistet werden können, vor allem zu klären, welche Anteile einer Leistung als Hilfe oder Kontrolle eingeordnet und wie diese legitimiert werden. Das reflektierte und fachlich begründete Treffen dieser Entscheidungen gehört ebenso zur Professionalität Sozialer Arbeit wie deren transparente Kommunikation.

9 Kritik und Gegenkritik

Konstruktivistische Ansätze wurden und werden unterschiedlich kritisiert (zur internen und externen Kritik gegenüber konstruktivistischen Theorien siehe Kapitel 5, Externe und interne Kritik in Konstruktivismus (Philosophie)). Insoweit eine Theorie der Relationalen Sozialen Arbeit auf dem Relationalen Konstruktivismus basiert, sei auf die in diesen Zusammenhang geführte Diskussion von Kritik und Gegenkritik verwiesen (Relationaler Konstruktivismus).

Nachfolgend wird nur auf Ergebnisse der Diskussionen, die für eine konstruktivistische Theorie der Sozialen Arbeit von besonderer Relevanz sind, eingegangen.

9.1 Individualisierung jeglicher Verantwortung?

In konstruktivistischen Diskursen besteht die Gefahr, den Fokus auf die Selbstreferenzialität kognitiver Prozesse zu beschränken und dabei die Relevanz der Umweltbedingungen zu übersehen und eine überzogene Individualisierung von Verantwortungszuschreibungen zu begünstigen. Dagegen wird relational-konstruktivistisch betont, dass kognitive Konstruktionen und Entscheidungen zwar nach den Regeln der jeweiligen Kognition erfolgen, dass aber die relationalen Bedingungen sowohl die ermöglichenden als auch die einschränkenden Konstruktionsvoraussetzungen liefern. Insoweit bedingen etwa gesellschaftliche Strukturen auch Grenzen individueller Verantwortung.

9.2 Machtblindheit gegenüber der Mikro-, Mako- und Mesoebene?

Ebenfalls von besonderem Interesse für eine Theorie der Sozialen Arbeit ist die Frage nach deren etwaiger „Machtblindheit“. Hier ist hilfreich, dass die Entwicklung einer relational-konstruktivistischen Machttheorie wesentlich für die Genese des Relationalen Konstruktivismus war. Grundlegend ist dabei die Unterscheidung in Formen „instruktiver Macht“, die nur als soziale Konstruktionen funktionieren und Formen „destruktiver Macht“, deren Wirksamkeit vom Eigensinn der Betroffenen unabhängig ist (Kraus 2021a).

Damit ist es möglich, sowohl direkte Interaktionsverhältnisse als auch gesellschaftliche Strukturen machtkritisch zu analysieren und diskutieren (Brumlik 2002, S. 6; Ritscher 2007, S. 55).

9.3 Bild für den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge?

Konstruktivistischen Ansätzen in der Sozialen Arbeit wird vorgeworfen, sie seien „blind für den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge“ (Pfeifer-Schaupp 2011, S. 56). Dieser Vorwurf ist für die Praxis der Sozialen Arbeit gerade in Bereichen der Kontrolle von besonderer Brisanz. Denn wenn es etwa um Kindeswohlgefährdung geht, können Fachkräfte nicht einfach subjektive Perspektiven und Erzählungen gelten lassen, sondern müssen auch Entscheidungen über die „Sachlage“ treffen.

Relational-konstruktivistisch wurde verdeutlicht, dass es möglich ist, aus einer Beobachterperspektive Entscheidungen darüber zu treffen, ab wann eine Aussage als wahr oder falsch, als Lüge oder Irrtum gilt (Kraus 2019, S. 170–212). Diese Entscheidungen sind zu begründen und zu verantworten. Relational-konstruktivistisch sind somit zwar keine beobachterunabhängigen Antworten möglich, wohl aber begründete Entscheidungen und Positionen, die es ermöglichen anzugeben, unter welchen Bedingungen eine Aussage als konsens- und/oder kohärenztheoretisch wahr gelten soll (Kraus 2018a; 2023).

9.4 Moralische Beliebigkeit und normative Entscheidungsunfähigkeit?

Eine weitere Kritik gegenüber konstruktivistischen Entwürfen basiert auf der Annahme, dass aus den konstruktivistischen Zweifeln an der Möglichkeit allgemeingültiger Positionen zwingend die Beliebigkeit moralischer Positionen folgern würde. Da gerade für die Praxis der Sozialen Arbeit normative Orientierungen grundlegend sind, erwachse daraus das Problem, die notwendigen normativen Entscheidungen nicht mehr begründen zu können.

Dem entgegen wird im Entwurf einer Relationen Sozialen Arbeit verdeutlicht, „dass Ethik und Moral auch konstruktivistischer Reflexion zugänglich gemacht und eine ‚konstruktivistische Verantwortungsethik‘ (a.a.O., S. 168) formuliert werden kann“ (Lambers 2020, S. 206).

Normative Entscheidungen können relational-konstruktivistisch getroffen und begründet werden und u.a. können die relational begrenzten Prinzipien der Toleranz, Verantwortungspraxis und Begründungspflicht zur Orientierung professioneller Sozialer Arbeit dienen (Kraus 2019, S. 170–212). Entscheidend ist, dass normative Positionen nicht durch die Bedingungen der Realität vorgegeben werden.

„In Folge dessen sind die Grundlagen normativer Positionen keine Erkenntnis-, sondern Entscheidungsprozesse und die Erkenntnis- und Handlungssubjekte können sich für oder gegen normative Positionen entscheiden“ (Kraus 2019, S. 197).

10 Genese und Verortung

Die Entwicklung einer relational-konstruktivistisch fundierten Theorie der Relationalen Sozialen Arbeit ist sowohl innerhalb konstruktivistischer als auch relationaler Diskurse zu verorten. Historisch betrachtet kann sie als Weiterentwicklung der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung verstanden werden. Ausgangspunkt der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung war in den 1990er-Jahren die Verbindung lebensweltorientierter und konstruktivistischer Perspektiven (Kraus 2000; 2002; 2019; Engelke et al. 2018, S. 550–561; Lambers 2020, S. 203–208). Deren Erweiterung zu einer Theorie der Relationalen Sozialen Arbeit ist eng mit der Entwicklung des Relationalen Konstruktivismus verbunden (Kraus 2019).

10.1 Lebensweltorientierung und Relationale Soziale Arbeit

Das Verhältnis zwischen Lebensweltorientierung im Sinne von Thiersch und einer Relationalen Sozialen Arbeit im Sinne von Kraus ist gleichermaßen ein anschließendes wie abgrenzendes. Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Theorie der Relationalen Sozialen Arbeit war in den 1990er-Jahren die Auseinandersetzung mit den damaligen konstruktivistischen Diskursen auf der einen und lebensweltorientierten Diskursen auf der anderen Seite. Erkenntnisleitendes Interesse waren die Fragen sowohl nach der Plausibilität (Stringenz), also auch nach der Vereinbarkeit von Konstruktivismus und Lebensweltorientierung.

Die kritische Auseinandersetzung mit beiden Grundlagen führte zur Entwicklung einer relational-konstruktivistischen Lebenswelt-Lebenslage-Konzeption und der systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung. Diese Grundlagen sind auch für den Entwurf einer Relationalen Sozialen Arbeit relevant, der ausdrücklich nicht auf deren Überwindung, sondern auf deren Erweiterung und Weiterentwicklung zielt.

Im Verlauf dieser Entwicklung gibt es wechselseitige Bezüge zwischen Thierschs Lebensweltorientierung und Kraus Entwurf einer systemisch-konstruktivistischen Lebensweltorientierung und Relationalen Sozialen Arbeit, die gerade in der Sekundärliteratur nicht immer leicht nachzuvollziehen sind. So bleibt auch für eine Relationale Soziale Arbeit die schon von Thiersch programmatisch geforderte Orientierung an der Lebenswelt relevant, während sich heute auch in Diskursen zu Thierschs Lebensweltorientierung die von Kraus vorgenommene Lebenswelt-Lebenslage-Unterscheidung findet (Schnoor 2016, S. 20).

Gleichwohl gerade deren Entwicklung ihre Ursprünge in der kritischen Auseinandersetzung mit der Verwendung des Lebensweltbegriffs in den lebensweltorientierten Diskursen der 1990er hat (Kraus 2006), scheint inzwischen trotz aller Unterschiede der Entwürfe zunehmend der wechselseitige Nutzen im Blick.

„Bei der Thematisierung von Lebenswelt darf Björn Kraus (2013) nicht unerwähnt bleiben, hat er doch wesentlich zur Theorie der Lebensweltorientierung beigetragen, indem er den von Hans Thiersch (2014) im Bereich der sozialen Arbeit geprägten Begriff aufgenommen und die Lebenswelt ebenso wie Berger und Luckmann (1996) aus konstruktivistischer Perspektive beschrieben hat, was bedeutet, dass die Lebenswelt eine subjektive Wirklichkeitskonstruktion ist. […] ergänzend zum Begriff der Lebenswelt [führt er] den Begriff der Lebenslage ein. Die Lebenslage beinhaltet die Rahmenbedingungen, die Menschen vorfinden, während die Lebenswelt die subjektive Konstruktion unter den Bedingungen der Lebenslage ist“ (Albert 2022, S. 46).

Zu den möglichen Anschlüssen und Unterschieden ihrer theoretischen Entwürfe sind Thiersch und Kraus zwischen 2014 und 2022 im regelmäßigen öffentlichen Austausch. Dokumentationen incl. Filmmaterial findet sich im Archiv der Freiburger Wissenschaftsgespräche (Kraus und Thiersch 2014–2022)

10.2 Systemisch-konstruktivistische Verortung

Die Etablierung des konstruktivistischen Paradigmas in der Sozialen Arbeit kann ab den 1980er-, vor allem aber ab den 1990er-Jahren beobachtet werden (etwa Merten 2000; Kraus 2002, 2018b; Ostheimer 2009; Kleve 2011; Hosemann und Geiling 2013). Maßgeblich waren hierbei Ansätze, die als systemisch-konstruktivistisch eingeordnet werden (Krieger 2010). Diese können in zwei Traditionslinien unterschieden werden:

  1. Die Traditionslinie des Operativen Konstruktivismus basiert auf der von Luhmann (1984; 1998) begründete und u.a. durch Baecker (2005) weiterentwickelten, soziologischen Systemtheorie.
  2. Die Traditionslinie des Radikalen Konstruktivismus basiert vor allem auf erkenntnistheoretischen und strukturgenetischen (Glasersfeld 1996), aber auch kybernetischen (Foerster 1996) und neurobiologischen (Maturana und Varela 1987; Roth 1997) Grundlagen.

Gleichwohl beide Linien auch Gemeinsamkeiten und Überschneidungen haben, unterscheiden sich vor allem deren Perspektiven. Während der Operative Konstruktivismus die Aufmerksamkeit vor allem auf die Funktion von sozialen Systemen richtet, nimmt der Radikale Konstruktivismus vor allem die Funktionen von erkennenden Subjekten in den Blick.

Der Relationale Konstruktivismus kann nun als eine spezifische systemisch-konstruktivistische Perspektive verortet werden, deren Wurzeln vor allem im Radikalen Konstruktivismus, aber auch im Operativen Konstruktivismus liegen. Aus der besonderen Beachtung der Relationalität resultiert eine stärkere Berücksichtigung systemischer Perspektiven als im Radikalen Konstruktivismus und zugleich kommt Subjekten eine größere Relevanz zu als dies im Operativen Konstruktivismus der Fall ist (Kraus 2019, S. 24; 2021b; Lambers 2020, S. 206).

Kleve betont die Relevanz der von Kraus entwickelten Perspektiven für die Etablierung konstruktivistischer Theorien im Rahmen einer Wissenschaft der Sozialen Arbeit (insb. mit Bezug auf Kraus 2013):

Diese „[…] Thesen zur konstruktivistischen Theorie sozialarbeiterischer Intervention sind wegweisend – und zwar deshalb, weil sie zeigen, dass Soziale Arbeit zwar nicht als direkt eingreifende soziale Praxis verstanden werden kann, die daher auch nicht in der Lage ist, Körper, Psychen oder Sozialsysteme in ihrer Funktionsweise zu determinieren, dass Soziale Arbeit aber dennoch das Potenzial hat, über die Beeinflussung und Gestaltung der Lebenslagen ihrer Adressaten deren lebensweltliche Handlungsmöglichkeiten entweder zu erweitern oder zu verringern“ (Kleve 2013).

10.3 Relationale Wende in den Human- und Sozialwissenschaften

Die Genese des Relationalen Konstruktivismus und einer Relationalen Sozialen Arbeit ist Teil einer relationalen Wende in verschiedenen human- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Kraus 2019, S. 11 ff.; 2021b; Ebner von Eschenbach 2019, S. 123–189). Obwohl der Relationsbegriff seit Aristoteles immer wieder in einzelnen Theorieentwürfen relevant war (Schäffter 2014, S. 5 ff.; Wolzogen 1984; 1992), findet dessen Verwendung erst seit den 2010er-Jahren in größerem Umfang statt. Erst in jüngerer Zeit werden relational-theoretische Diskurse geführt, die bislang allerdings vielfältig und selten aufeinander bezogen sind. Ob und inwieweit in den unterschiedlichen Disziplinen eine relationale Wende gelingt, bleibt abzuwarten.

Auch in den Diskursen der Sozialen Arbeit wird der Begriff der Relation mindestens so unterschiedlich gebraucht wie dessen theoretische Wurzeln und Verwendungszusammenhänge differieren. So wird die Kategorie Relational etwa bei der kritischen Diskussion des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft (Böhnisch und Funk 2013, S. 149 ff.) oder von Macht- und Herrschaftsverhältnissen (Anhorn et al. 2008, S. 37 ff.; Kraus 2016) verwendet. Hierzu passen auch sozialraumorientierte Auseinandersetzungen (Löw 2001, S. 224; Kessl und Reutlinger 2010, S. 21), Lebenswelt-Lebenslage-Konzeptionen (Kraus 2019) sowie staats- und raumtheoretische Perspektiven (Diebäcker 2014, S. 5). In Capabilities-Diskursen (Ziegler 2011, S. 130) ist Relationalität ebenso eine relevante Kategorie, wie in Agency-Diskursen (Löwenstein 2021), bei der Bestimmung des Adressat:innenbegriffs (Bitzan und Bolay 2013, S. 48), bei der Auseinandersetzung mit Kriterien der Gerechtigkeit und des guten Lebens (Röh 2013, S. 227) sowie bei Gegenstands- und Funktionsbestimmungen der Sozialen Arbeit (Hosemann und Geiling 2013, S. 26; Kraus 2019, S. 24). Des Weiteren werden auch Methoden, die mit kooperativen Beziehungen arbeiten oder darauf zielen, unter dem Begriff „relational“ versammelt (Früchtel et al. 2016, S. 8). Eine besondere Relevanz kommt der Kategorie der Relationalität in professionstheoretischen Diskursen bei der Bestimmung von Professionalität zu (Dewe und Otto 2015, S. 1253; Köngeter 2013, S. 192; Kraus 2019, S. 24 f.). Dabei unterscheiden sich die Abstraktionsniveaus der Begriffsverwendung sowie die Qualität und Präzision der theoretischen Begründung und Begriffsbestimmung. Auch variiert die Relevanz der Kategorie innerhalb der Diskurse von der randständigen Verwendung des Begriffs bis hin zur Nutzung als zentrale und grundlegende Perspektive etwa bei der Bestimmung einer „Relationalen Sozialpädagogik“ (Natorp 1899), einer „Relationalen Professionalität“ (Köngeter 2009) oder eben des „Relationalen Konstruktivismus“ (Kraus 2017) und einer „Relationalen Sozialen Arbeit“ (Kraus 2019).

Auch wenn die zunehmende Verbreitung relationaler Ansätze und Perspektiven in der Sozialen Arbeit vor allem in den letzten Jahren beobachtet werden kann, so ist die Entwicklung einer Relationalen Sozialen Arbeit anschlussfähig an die von Paul Natorp schon 1899 vorgenommene relationale Bestimmung der Sozialpädagogik (Natorp 1899; hierzu Wolzogen 1984). Schon in der ersten Auflage seiner Sozialpädagogik“ betonte dieser die notwendige Relationalität bildungswissenschaftlicher Perspektiven (Natorp 1899, S. 80). In der Sprache einer relational-konstruktivistisch begründeten Relationalen Sozialen Arbeit formuliert: Die (Selbst-)Bildung des Individuums erfolgt nicht im luftleeren Raum, sondern unter relationalen Bedingungen. Auf Grund der angenommenen „Doppelbindung menschlicher Strukturentwicklung“ (Kraus 2013, S. 105; 2019, S. 33) gilt die Entwicklung des Individuums als weder von der Umwelt (und damit auch nicht von der Gesellschaft) festgelegt, noch als von dieser unabhängig. Diese Perspektive führte schon Ende der 1990er-Jahre zu einer relational-konstruktivistischen Lebenswelt-Lebenslage-Konzeption, die bis heute zu den relevanten Grundlagen sowohl des Relationalen Konstruktivismus als auch einer Relationalen Sozialen Arbeit gehört (Kraus 2006; 2019, S. 104–117).

11 Wissenschaftstheoretische Verortung

In seinem Grundlagenwerk „Theorien der Sozialen Arbeit. Ein Kompendium und Vergleich“ (Lambers 2020) verortet Lambers die Relationale Soziale Arbeit innerhalb der „Theorien der Wissenschaft Soziale Arbeit“ (a.a.O., S. 193 ff.).

„Hier handelt es sich um Ansätze, die zu einer integrierten Theoriebildung beitragen wollen und die über einseitige disziplinäre Verortungsfragen als Sozialpädagogik oder Sozialarbeitswissenschaft hinausgelangen möchten“ (a.a.O.) (hierzu auch Sozialarbeitswissenschaft/​Wissenschaft Soziale Arbeit).

Zum Vergleich der dargestellten Theorien der verschiedenen Traditionslinien der Sozialpädagogik, Fürsorgewissenschaft, Sozialarbeitswissenschaft und der Wissenschaft Soziale Arbeit nutzt er verschiedene Tabellen, in denen unterschiedliche Fragen und Sortierungskriterien angelegt werden. Nachfolgend werden die Ausschnitte der Tabellen wiedergegeben, in denen mit Blick auf die Relationale Soziale Arbeit Aussagen getroffen werden zu Bezugsproblemen, zum Formalobjekt, zu Aufgaben und Funktionen, sowie zur Problembearbeitung sozialer Tatsachen und der Leitorientierung bei der Theoriebildung.

Zur „Gegenstandsbestimmung in der Gesamtsicht“ (Lambers 2020, S. 273)

Wissenschaft der Sozialen Arbeit
Bezugsproblem Formalobjekt Aufgabe, Funktion
Björn Kraus Gelingenderes Leben und soziale Teilhabe unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen Relationalität menschlichen Seins in erkenntnis-, entscheidungs-, interaktions- und machttheoretischer Perspektive Wissenschaftlich begründeter, an den Kriterien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit orientierter Beitrag zur Gestaltung des Sozialen an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft

Ferner klassifiziert Lambers den Entwurf einer Relationalen Sozialen Arbeit als „Reflexionstheorie“ (a.a.O., S. 296), zu deren vorwissenschaftliches Bezugsproblem „[der] Umgang mit Sozialbeziehungen und Lebensführung“ (a.a.O. S. 302) gehöre. In diesem Zusammenhang differenziert er die Bezugsprobleme in vorwissenschaftliche und wissenschaftliche und gelangt zu folgender Kategorisierung (a.a.O. S. 314):

Vorwissenschaftliches Bezugsproblem Wissenschaftliches Bezugsproblem Formalobjekt Vertreter:in
Der Umgang mit Sozialbeziehungen und Lebensführung Gelingenderes Leben und soziale Teilhabe unter aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen Relationalität menschlichen Seins in erkenntnis-, entscheidungs-, interaktions- und machttheoretischer Perspektive Björn Kraus

In einem dritten Schritt identifiziert Lambers „Soziale Tatsachen und Leitorientierungen der Theoriebildung“ (a.a.O., S. 315 f.) und ordnet die Relationale Soziale Arbeit folgenden Kriterien zu:

Problembearbeitung sozialer Tatsachen als Theoriebildung mit der Leitorientierung der
Gesellschaftliche und individuelle Lebensführung, Integration und Teilhabe Anforderungen individueller und gesellschaftlicher Lebensführung

Schließlich wird die Relationale Soziale Arbeit bei den Theorien eingeordnet, die Probleme sozialer Tatsachen bearbeiten als „Gesellschaftliche und individuelle Lebensführung, Integration und Teilhabe“ (a.a.O.) und deren Theoriebildung zur Leitorientierung „Anforderungen individueller und gesellschaftlicher Lebensführung“ (a.a.O.). Grundlegend kategorisiert Lambers die Relationale Soziale Arbeit als Reflexionswissenschaft (hierzu auch Lambers und Klein 2018).

12 Quellenangaben

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13 Literaturhinweise

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13.2 Sekundärquellen

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13.3 Informationen im Internet

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Zitiervorschlag
Kraus, Björn, 2023. Relationale Soziale Arbeit [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 22.12.2023 [Zugriff am: 11.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/29991

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