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Religionssensibilität

Prof. Dr. Antje Roggenkamp

veröffentlicht am 12.05.2020

Religionssensibilität bezeichnet eine Haltung, die die Vielfältigkeit von Religion wahrnimmt und ihre individuellen und kollektiven Ausdrucksformen als subjektbezogene Religiosität anerkennt.

Überblick

  1. 1 Zusammenfassung
  2. 2 Entstehungskontext
  3. 3 Verwendung und Funktion des Begriffs
  4. 4 Handlungsgrundsätze und -felder: Jugendhilfe und Kindertagesstätten
  5. 5 Handlungskonzepte: Religionspädagogik und Schulkultur
  6. 6 Reflexionsmodelle
  7. 7 Ertrag und kritische Würdigung
  8. 8 Quellenangaben

1 Zusammenfassung

Religionssensibilität ist ein vergleichsweise junger Begriff, der einen professionellen Umgang mit Religion als Ressource zu beschreiben versucht. Er entsteht in der (Sozial-)Pädagogik, kommt aber auch in der Religionspädagogik vor. Der Begriff reagiert auf Veränderungen im Verstehen von, aber auch im gesellschaftlichen Umgang mit Religion und bezeichnet eine Haltung.

2 Entstehungskontext

Der Begriff Religionssensibilität entsteht im Rahmen des informellen Lernens im Umkreis der Jugendhilfe und der Sozialen Arbeit. Er beschreibt religionsbezogene Formen und Verhaltensweisen, die nicht primär an gewachsene gemeinschaftliche Strukturen traditioneller Religion gebunden sind.

Der Begriff reagiert auf eine sich wandelnde Situation in den gesellschaftlichen Debatten des beginnenden 21. Jahrhunderts. Die Veränderungen von Religion werden nicht länger als Säkularisierung, Enttraditionalisierung, Pluralisierung und Privatisierung, sondern als Ausdruck von Sinnsuchbewegungen und religiösen Anerkennungsforderungen begriffen (Nauerth et al. 2017, S. 11).

3 Verwendung und Funktion des Begriffs

Religionssensibilität hat die Aufgabe, Religion als Ressource für das Leben von Menschen aufzudecken. Sie setzt die Unterscheidung von Religion und Religiosität voraus und zeichnet sich in deren Zwischenraum ein. Während Religionssensibilität ursprünglich als eine Art Gefühl bezeichnet wird (Lechner und Gabriel 2011, S. 9), erscheint sie im Forschungskontext als ein Konstrukt der Forscherinnen und Forscher bzw. als eine „Leerstelle“ (Nauerth et al. 2017, S. 13), die von den Adressatinnen und Adressaten zu füllen ist.

Religionssensibilität äußert sich weniger als Religion, die sich mit Bernhard Dressler beispielsweise in Form von objektiven Zeichen darstellen lässt, als vielmehr in Gestalt eines Gewissheit ermöglichenden (Lebens-)Glaubens, der sich intentionalem Handeln entzieht. Um sie zu beschreiben, werden verschiedene Formen dieses existenzielle Grundfragen menschlichen Lebens berührenden Glaubens aufgerufen: Ein Existenz- oder Lebensglauben beschreibt u.a. mit Paul Tillich die Kompetenz, vertrauensvoll mit dem labilen und fragmentarischen Leben umzugehen. Ihm steht ein Transzendenz- oder Gottesglaube gegenüber, der u.a. mit Ulrich Hemel die jedem Menschen mögliche Ausbildung eines persönlichen Welt- und Selbstverständnisses unter Rückgriff auf in unserem Kulturkreis greifbare Kategorien eröffnet. Der Konfessions- oder Gemeinschaftsglauben avisiert u.a. mit Theodor Sundermeier die gemeinschaftliche Antwort, mit der Menschen in Ritus und Ethik auf Transzendenzerfahrung reagieren (Lechner 2014, S. 7).

Das Modell des (Lebens-)Glaubens ist ein Konstrukt, das sich in der Praxis der Jugendhilfe bewährt. Im Kontext der Sozialen Arbeit wird es empirisch erforscht und auf weitere Anwendungsbezüge überprüft. Im Zusammenhang einer kultur- und religionssensiblen Religionspädagogik erscheint es als Handlungsmodell: „Religionssensible Erziehung stellt eine religionspädagogische Handlungstheorie dar, die sich sowohl als Teilgebiet der (Sozial-)Pädagogik als auch als Teilgebiet der Theologie versteht, und untersucht in diesem Kontext die Religion und die Religiosität der einzelnen Kinder und Jugendlichen“ (Weber 2014, S. 54).

4 Handlungsgrundsätze und -felder: Jugendhilfe und Kindertagesstätten

In der Jugendhilfe hat das Konzept ursprünglich die Aufgabe, Erzieherinnen und Erzieher anzuleiten, religiöse Strukturen, Erfahrungen und konkrete Erlebnisse bei Kindern und Jugendlichen freizulegen. Zu diesem Zweck werden Handlungsgrundsätze formuliert, die Bedingungen angeben, die Religionssensibilität mit dem Ziel der individuellen Ressourcenorientierung fördern.

Diese Handlungsgrundsätze

  • umfassen die „Lebensgeschichte der Kinder und Jugendlichen“ (Weber 2014, S. 56), die in ihren existenziellen Erfahrungen – u.a. entsprechender Sorgen und Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen – wahrzunehmen, wertzuschätzen und zu begleiten ist (1).
  • schlagen vor, „die alltägliche pädagogische Arbeit als basale, indirekte Form religiöser Erziehung“ (ebd.) zu begreifen (2).
  • sehen eine religiös anregende Sozialraumgestaltung vor, die den eigentlichen Lernraum, wechselseitige Beziehungen, aber auch konkrete Regeln aufruft (3).
  • halten eine Wahrnehmung und Wertschätzung biografischer, einrichtungsbezogener, zyklischer und öffentlicher Feste, Ereignisse und Feiern für zentral (4).
  • setzen auf eine Vernetzung der Jugendhilfeeinrichtungen „mit geeigneten sozialen, kulturellen und religiösen Institutionen des Umfelds“ (ebd.) (5).
  • weisen auf die zentrale Bedeutung religionssensiblen Handelns für die Professionalisierung von Erzieherinnen und Erziehern hin: „Religionssensibilität ist eine Dimension sozialberuflicher Kompetenz. Sie ist Voraussetzung, Entwicklungsaufgabe und Querschnittsthema zu allen anderen Handlungsgrundsätzen“ (ebd.) (6).

Die Handlungsgrundsätze tragen ursprünglich dem Umstand Rechnung, dass sich der pädagogische Alltag in konfessionellen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen gegenüber einem entsprechenden Bildungsauftrag zu verantworten hat. Der Bildungsauftrag stößt auf den Widerstand einer religiös komplexen Situation. Diese Spannung ist wahrzunehmen und zu bearbeiten.

Die Grundsätze sind von dem Handlungsfeld Jugendhilfe auf dasjenige der Kindertagesstätten übertragen worden. In diesem Prozess verändern sie sich: Der 5. Grundsatz konkretisiert beispielsweise die Zusammenarbeit im Sinne explizit religiöser Institutionen wie etwa der Kirche, der Moschee und der Synagoge. Er verweist aber auch auf Institutionen (Theater, Museum), in denen Religiosität implizit gefördert werden kann (Knoblauch 2018).

5 Handlungskonzepte: Religionspädagogik und Schulkultur

Die Religionspädagogik widmet sich der Religionssensibilität als Handlungskonzept. Sie betont die Angewiesenheit von Religionssensibilität auf Kultur. Das religionspädagogische Handlungskonzept orientiert sich weniger an einem konfessionellen Religionsunterricht. Es bezieht sich vielmehr auf seinen spezifischen Beitrag zur Schulkultur. Orientierungen an einem eindeutig identifizierbaren Religionsbegriff erscheinen nicht möglich und werden zurückgewiesen (Schroeter-Wittke 2011). Im Zentrum steht die Konzentration auf den Beitrag von Religion zur Kultur. Dies geschieht zum einen über Medien, Lernorte und interreligiöse Praxen (Guttenberger und Schroeter-Wittke 2011). Zum anderen wird die von Annedore Prengel entwickelte Pädagogik der Vielfalt aufgegriffen und um den Begriff der Religion(en) erweitert (Heller, Seher und Wermke 2017). Kultur- und religionssensible Bildung kann gegenüber einem an der dominierenden Mehrheitskultur orientierten Bildungssystem versuchen, „zum respektvollen wechselseitigen Kennenlernen zu ermutigen. Weniger in gemeinsamen Normen, sondern im Bewusstwerden der eigenen Kultur [und Religion] und im Hinhören auf die andere Kultur [und Religion] finden sich die Verbindungswege zwischen den Kulturen [und Religionen]“ (Prengel 2006, S. 93; Heller et al. 2017, S. 44)

6 Reflexionsmodelle

Im Unterschied zur Religionspädagogik, die im Umgang mit Religionssensibilität auf eine Vielzahl von Konzepten zurückgreifen kann, steht im Zentrum des konzeptionellen Nachdenkens über Religion im Rahmen der Sozialen Arbeit eine Leerstelle. Nauerth, Hahn, Tüllmann und Kösterke führen dies auf Abgrenzungsbestrebungen der Sozialen Arbeit von religiösen Narrativen in Gefolge der Professionalisierung zurück (Nauerth et al. 2017, S. 13). Die Sensibilisierung für Religion bedarf – in der postsäkularen Gesellschaft (Habermas 2001) – neuer Modelle und Konzepte. Matthias Nauerth schlägt vor, gesellschaftlichen Herausforderungen in Form von operativen Modi zu begegnen. Diese beziehen sich auf „die Fähigkeit, religiöse Realitäten zu verstehen, sie in ihren förderlichen Potentialen zu beurteilen und zu übersetzen“ (Nauerth et al. 2017, S. 19; Nauerth 2017, S. 137–140). Systemtheoretisch argumentiert Axel Bohmeyer, der die Ausdifferenzierung und Separierung von Religion und Sozialer Arbeit mittels historischer Rückbesinnung überwinden will. Aus professionstheoretischer Hinsicht wird eine basale religiöse Kompetenz aufgrund der Umsetzung der Menschenrechte in Hinblick auf positive und negative Religionsfreiheit deutlich (Nauerth et al. 2017, S. 19). Martha Nussbaums Capability-Ansatz spielt dabei eine wichtige Rolle aber auch verschiedene Anerkennungstheorien – insbesondere diejenige Axel Honneths (Nauerth et al. 2017, S. 20 f.).

7 Ertrag und kritische Würdigung

Das Konzept der Religionssensibilität antwortet auf die Wiederentdeckung der Religion in der postmodernen Gesellschaft. Es stößt auf eine diffuse Gemengelage, in der sich der Religionsbegriff selbst jedem positivistischen Zugriff entzieht. Wenn allerdings darauf hingewiesen wird, dass „viele junge Menschen mit und ohne Konfession keinesfalls einfach musikalisch unreligiös sind, wohl aber religiös sprachlos“ (Lechner 2009, S. 166), dann ist zu fragen, ob auf theoretisch-konzeptioneller Ebene die religionspädagogisch seit langem negativ entschiedene Frage um die Lehrbarkeit der Religion auf neue Weise diskutiert werden muss. Die Diskussion dürfte in der postsäkularen und multireligiösen Gesellschaft zu ähnlichen, ggf. verschärften Aporien führen, insofern die Vielfalt der Religionen mit noch vielfältigeren Menschenbildern einhergeht.

Formuliert man die Aufgabe aus einer pragmatischeren Perspektive, so wird man der professionellen Reflexion von Religionssensibilität eine wichtige Rolle in unserer, sich zunehmend durch (nicht-)religiöse und kulturelle Verschiedenheiten auszeichnenden Gesellschaft zuschreiben. Die Wahrnehmungsschärfung für einen ressourcenorientierten Zugriff auf Religion, deren anerkennende Wertschätzung im Sinne ihrer Präzisierung als Existenz-, Transzendenz- und/oder Konfessionsglauben, aber auch ein entsprechendes Bemühen um Verstehen, Beurteilen sowie Übersetzung stabilisieren die einzelne Person. Dies trägt zu einem friedvolleren Miteinander in einer sich zunehmend in einzigartige Individualitäten aufspaltenden Gesellschaft (Reckwitz 2017) bei.

8 Quellenangaben

Guttenberger, Gudrun und Harald Schroeter-Wittke, 2011. Vorwort. In: Gudrun Guttenberger und Harald Schroeter-Wittke, Hrsg. Religionssensible Schulkultur. Jena: IKS Garamond, S. 7–20. ISBN 978-3-941854-54-3

Habermas, Jürgen, 2001. Glauben und Wissen: Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Frankfurt: Edition Suhrkamp. ISBN 978-3-518-74397-3

Heller, Thomas, Sophia Seher und Michael Wermke, 2017. Auf dem Weg zu einer kultur- und religionssensiblen Bildung: Thesen und Reflexionen zu einem Paradigmenwechsel in der interkulturellen und -religiösen Bildung. In: Theo-Web [online]. 16(2), S. 37–47 [Zugriff am: 15.04.2020]. Verfügbar unter: https://doi.org/10.23770/​tw022

Knoblauch, Christoph, 2018. Bildung, religionssensible [online]. In: Wissenschaftlich Religionspädagogisches Lexikon im Internet. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 20.09.2018 [Zugriff am: 29.02.2020]. Verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/fileadmin/​buh_bibelmodul/​media/​wirelex/pdf/Bildung_religionssensible__2018-09-20_06_20.pdf

Lechner, Martin, 2009. Der Religionsbegriff des Forschungsprojektes. In: Martin Lechner und Angelika Gabriel, Hrsg. Religionssensible Erziehung: Impulse aus dem Forschungsprojekt „Religion in der Jugendhilfe“ (2005–2008). München: Don Bosco Verlag, S. 159–176. ISBN 978-3-7698-1741-6

Lechner, Martin, 2014. Was heißt hier Glaube [online]. Der Religionsbegriff des Forschungsprojektes ‚Religion in der Jugendhilfe‘. Hamburg: Das Rauhe Haus, 20.11.2014 [Zugriff am: 29.02.2020]. Verfügbar unter: http://www.religions-kultursensibel.de/fileadmin/​user_upload/​downloads/​141222_Religionsbegriff1.pdf

Lechner, Martin und Angelika Gabriel, 2011. Brenn-Punkte: Religionssensible Erziehung in der Praxis. München: Don Bosco Verlag. ISBN 978-3-7698-1832-1

Nauerth, Matthias, 2017. Die Soziale Arbeit vor der Religionstatsache: Erörterungen zu einer neuen Herausforderung. In: Matthias Nauerth, Kathrin Hahn, Michael Tüllmann und Sylke Kösterke, Hrsg. Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit: Positionen, Theorie, Praxisfelder. Stuttgart: Kohlhammer, S. 129–141. ISBN 978-3-17-032206-6 [Rezension bei socialnet]

Nauerth, Matthias, Kathrin Hahn, Michael Tüllmann und Sylke Kösterke, 2017. Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit: Einführung und Überblick. In: Matthias Nauerth, Kathrin Hahn, Michael Tüllmann und Sylke Kösterke, Hrsg. Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit: Positionen, Theorie, Praxisfelder. Stuttgart: Kohlhammer, S. 11–28. ISBN 978-3-17-032206-6 [Rezension bei socialnet]

Prengel, Annedore, 2006. Pädagogik der Vielfalt: Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. ISBN 978-3-531-90159-6

Reckwitz, Andreas, 2018. Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne. 5. Auflage. Berlin: Suhrkamp Verlag. ISBN 978-3-518-58742-3

Schroeter-Wittke, Harald, 2011. Was ist Religionssensibilität? In: Gudrun Guttenberger und Harald Schroeter-Wittke, Hrsg. Religionssensible Schulkultur. Jena: IKS Garamond, S. 21–29. ISBN 978-3-941854-54-3

Weber, Judith, 2014. Religionssensible Bildung in Kindertageseinrichtungen: Eine empirisch-qualitative Studie zur religiösen Bildung und Erziehung im Kontext der Elementarpädagogik. Münster: Waxmann Verlag. ISBN 978-3-8309-3150-8 [Rezension bei socialnet]

Wermke, Michael, Hrsg., 2018. Warum religiöse Bildung? Kultur- und religionssensible Praxis in Kindergärten und Schule. Berlin: verlag das netz. ISBN 978-3-86892-150-2 [Rezension bei socialnet]

Verfasst von
Prof. Dr. Antje Roggenkamp
Seminar für Praktische Theologie und Religionspädagogik, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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Zitiervorschlag
Roggenkamp, Antje, 2020. Religionssensibilität [online]. socialnet Lexikon. Bonn: socialnet, 12.05.2020 [Zugriff am: 13.09.2024]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/lexikon/27648

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